Zudem wurde auf Bundesebene eine Arbeitsgemeinschaft Reha der Leistungserbringer gegründet, die sich speziell dem Thema widmet und weitere Schritte zur Sicherung der Versorgung berät. „Die Kündigung von Verträgen ist für uns sowohl auf Bundes- als auch auf Landesebene immer nur das allerletzte Mittel. Ein vertragsloser Zustand bedeutet, dass unsere Häuser die Versorgung von Menschen mit Behinderung und ernsten Krankheitsbildern ablehnen müssen, weil Krankenkassen eine wirtschaftliche und damit kostendeckende Versorgung nicht übernehmen wollen. Mehr als 20 Millionen Versicherte sind auf eine Hilfsmittelversorgung angewiesen, damit sie ihren Alltag unbeschwert meistern können. Unser Handwerk ist es, Menschen zu helfen und nicht, sie vor der Tür stehen zu lassen – daher riskieren Häuser auch rote Zahlen, bevor sie Patient:innen ohne Versorgung wegschicken. Ich bin froh, dass es in Baden-Württemberg daher eine Übergangslösung und neue Verhandlungen gibt“, so Alf Reuter, Präsident des Bundesinnungsverbandes für Orthopädie-Technik.
Rote Zahlen für Betriebe – Mehrkosten für Versicherte
Während freie Unternehmer Kostensteigerungen an den Kunden weitergeben können und Lieferprobleme von Fahrrädern im Freizeitmarkt lediglich enttäuschte Verbraucher hinterlassen, sieht es im Gesundheitswesen doch ein wenig anders aus. Hier garantieren Versorgungsverträge mit festen Pauschalen, dass Leistungserbringer zu einem bestimmten Preis versorgen müssen – hier ist die „Kunst“ des Versorgers gefragt, effizient und mit möglichst geringen Prozess- und Personalkosten zu versorgen. Im Reha-Bereich bestimmen derzeit noch Preise aus der Zeit der Ausschreibung den Markt und daher sind die Margen auf ein Minimum reduziert und auf relativ stabile Einkaufspreise angewiesen. Daher laufen Betriebe bei größeren Preissprüngen im Einkauf schnell in die roten Zahlen. Dieser Umstand ist derzeit so brisant, dass zum Teil rehatechnische Hilfsmittel nicht mehr überall verfügbar oder in der Qualität, wie sie es Versicherte wünschen, nur noch mit längerer Wartezeit lieferbar sind. Daher entscheiden sich immer mehr Patient:innen auf eigene Kosten jenseits der gesetzlichen Versicherung Rollatoren etc. zu beschaffen.
Fahrpläne ausgesetzt – tagesaktuelle Premiumpreise
Viele rehatechnische Hilfsmittel kommen aus Asien und werden über die Route Shanghai –Rotterdam in sogenannten 40-Fuß-Containern verschifft. In einen solchen Container passen beispielsweise etwa 600 Rollatoren. Während die Preise zwischen 2016 und 2020 relativ stabil um etwa 1.800 Euro bis max. 2.000 Euro lagen, verlangen die Reedereien bis zu 13.000 Euro. Diese Preisentwicklung hat weitreichende Konsequenzen: Für die Reedereien war es logisch, sämtliche Langzeitverträge zu kündigen und nur noch zu tagesaktuellen Höchstpreisen zu versteigern. Dadurch ist für keinen Einkäufer mehr abzusehen, zu welchem Preis und vor allem ob er überhaupt einen Container ersteigern kann. Eine Lieferung kann Kunden nicht mehr zugesagt werden. Insgesamt haben Fahrpläne daher auf der Route Asien – Europa keine Relevanz mehr. Während es in 8 Jahren zwischen 2012 und 2020 mit etwa 35 Vorfällen kaum Verzögerungen von mehr als zwei Wochen gab, liefen bereits 134 Containerschiffe im ersten Halbjahr von 2021 mit einer höheren Verzögerung von 14 Tagen im Zielhafen ein. Neben Premiumpreisen werden Kosten für Zwischenlagerung, Vorlauf und Nachlauf unausweichlich. Dr. Axel Friehoff von der EGROH GmbH und Mitglied der ARGE Reha fasst den Zustand für seine Häuser so zusammen: „Der Einkauf wird komplett unberechenbar und verlangt logistische Meisterleistungen ab. Trotzdem können wir keine Versorgung nach Stand der Technik auf Rezept mehr zu 100 Prozent garantieren.“
In einem Brandbrief an die Politik fasst der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) die Lage wie folgt zusammen: „Mangelnde Containerverfügbarkeit, fehlende Transportkapazitäten und Unpünktlichkeit der Schiffsankünfte sowie Qualitätsdefizite bei steigenden Transportkosten beeinträchtigten sektoren-übergreifend die Lieferketten und teilweise auch die Produktionsabläufe bereits seit dem Jahreswechsel. […] Des Weiteren ist ein merklicher Anstieg der Verschiebungen von Container-Abfahrtszeiten bzw. ‑terminen bei den Reedereien eine zusätzliche Belastung für die Planbarkeit von maritimen Lieferketten und Produktionsprozessen für die Industrie. Die infolgedessen teils massiven Verspätungen der Transporte von teils mehreren Wochen in Im- und Export gehen zu Lasten der Unternehmen. Zusätzliche Transportmengen finden aktuell kurzfristig kaum Transportkapazitäten und können teilweise erst nach mehreren Wochen verladen werden, während in manchen Fällen vertraglich geregelte Mengenvereinbarungen von den Reedereien nicht eingehalten werden.“
Politik und Krankenkassen zeigen sich unbeeindruckt
Nicht nur der BDI schlägt bei der Politik Alarm. Bereits Anfang des Jahres wies das Bündnis „Wir versorgen Deutschland“ Krankenkassen und Vertreter der Gesundheitspolitik auf die besorgniserregenden Zustände hin. In einem Live-Talk mit Dr. Roy Kühne, MdB und Berichterstatter für Heil- und Hilfsmittel, wurde der Hilferuf laut und deutlich. Es kam zu einem Runden Tisch mit dem Spitzenverband der Ersatzkassen, für den die im Bündnis zusammengeschlossenen Vertretungen der Leistungserbringer zusammen mit der Industrie detaillierte Zahlen auf den Tisch legten. Auf Nachfrage bei dem Bündnis ist bis heute keine weitere Rückmeldung auf die Problematik des vdek ergangen und der Gesprächsfaden seitens der Krankenkassen nicht weiter aufgenommen worden. Während sich die Spitzenverbände der Krankenkassen bedeckt halten, versuchen doch einige AOK auf Landesebene zu Übergangslösungen zu kommen. Der Weisheit letzter Schluss kann dies nicht sein, denn es bedarf einer kassenübergreifenden Lösung, damit solche extremen Marktsituationen abgefangen werden können. Zuletzt forderte Ben Bake in seiner Funktion als Vorstandsmitglied des BVMed in einer öffentlichen Videokonferenz mit Erwin Rüddel, Vorsitzender des Gesundheitsausschusses, Konsequenzen. Jens Sellhorn, Geschäftsführer der Rehavital Gesundheitsservice GmbH und Vertreter des Bündnisses „Wir versorgen Deutschland“, fasst die Lage so zusammen: „Es gibt zu viele Waren für zu wenige Schiffe. Da stehen das Gesundheitswesen und die Hilfsmittelversorgung ‚auf Prio 17‘. Bei den Reedereien – und leider auch bei der Politik. Damit riskieren sie vertragslose Zustände mit Krankenkassen und den Kollaps in der Versorgung. Das müssen wir ändern.“
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