Seit Jahren gehört Markus Rehm zu den prägenden Athleten der paralympischen Bewegung, hat bei Paralympischen Spielen mehrfach Gold geholt und den Weitsprung-Weltrekord in der Klasse T 64 in kaum für möglich gehaltene Weiten verbessert. Für seine Leistungen auf und abseits von Tartanbahn und Sprunggrube ist der 32-Jährige mit rechtsseitiger Unterschenkelamputation nun als Parasportler des Jahrzehnts ausgezeichnet worden.
Im Interview schaut der ausgebildete OT-Meister auf seine sportliche Karriere, gibt Einblicke in seine Arbeit mit Patienten im Sanitätshaus Rahm und wirbt um mehr globale Akzeptanz für Menschen mit Amputation. Und dann ist da auch noch der olympische Traum.
OT: Deutscher Parasportler des Jahrzehnts – eine herausragende Auszeichnung, die dokumentiert, dass Sie über viele Jahre sportliche Höchstleistungen vollbracht haben. Was unterscheidet den heutigen Menschen und den Sportler Markus Rehm von dem im Jahre 2011?
Markus Rehm: Ich habe mich in vielerlei Hinsicht verändert. Ich hoffe doch schwer, zum Guten. Hätte man mir damals gesagt, wie weit ich springe, wie ich meinen Sport auch dank meiner Partner und Sponsoren in solch einem Umfang ausüben kann, hätte ich das wahrscheinlich nicht geglaubt. Neben vielen Höhen waren natürlich auch Tiefen in der Karriere mit dabei. Aber ich glaube, auch die habe ich immer ganz gut überstanden. Ich habe nie den Spaß verloren und gehe jetzt schon über zehn Jahre mit der gleichen Konsequenz an die Herausforderungen. Was der ganze Sport für eine Entwicklung genommen hat, ist wirklich Wahnsinn. Wir sind sicherlich noch nicht auf gleicher Ebene mit den olympischen Athleten, aber es hat sich viel getan in den letzten Jahren. Da können wir auch ein bisschen Dankbarkeit an den Tag legen. Trotzdem muss es natürlich noch weitergehen.
Tief nach der DM 2014
OT: Sie haben seit 2011 keinen Weitsprungwettbewerb verloren, sprechen aber dennoch von Tiefen in Ihrer Karriere.
Rehm: Da denke ich zuerst an die Zeit nach dem Gewinn der Deutschen Meisterschaft im Weitsprung 2014 gegen die olympischen Athleten. Das war schon ein großer Punkt in meiner sportlichen Karriere. Aber auf einmal hatte ich mich nach all dem Lob auch mit viel Kritik auseinanderzusetzen, die dann wirklich zuhauf mit dem Vorwurf eines möglichen Wettbewerbsvorteils durch die Prothese gekommen ist. Das war schon ein Thema, mit dem ich lernen musste umzugehen, und keine leichte Situation.
OT: Was motiviert Sie, Jahr für Jahr, Bestleistungen abzurufen. Sind die 8,50 Meter im Weitsprung noch ein Ziel?
Rehm: Auf jeden Fall. Die sind auch machbar. Es war nur noch nicht der richtige Tag, der richtige Moment da. Ich habe schon bei zwei, drei Wettkämpfen gemerkt, es könnte eigentlich jetzt passieren. Wenn Weiten von 8,30 Metern oder 8,35 Metern locker von der Hand gehen, denke ich mir: Wenn ich jetzt einen Versuch richtig treffe, dann sind es 8,50 Meter. Das treibt mich schon noch ein bisschen an.
OT: Für so eine Situation müssen Sie sich aber immer wieder im Alltag und im Training motivieren und an sich arbeiten.
Rehm: Das ist genau das Thema. Viele sehen mich nur beim Springen und sehen nicht die Arbeit, die dahintersteckt. Immer am Ende eines Jahres setze ich mich hin und überlege, was gut oder nicht so gut war. Was hat vielleicht auch zu einer Verletzung geführt, was war vielleicht zu viel Training? Das hinterfrage ich zusammen mit meiner Trainerin Steffi Nerius. Es ist ein Lernprozess. Gerade jetzt bin ich wieder in einer Phase, in der das Training sehr anstrengend ist.
„Für mich war nie Schluss”
OT: Sie sind 2010 mit einer Weite von 6,84 Metern Junioren-Weltmeister geworden und haben den Weltrekord bis 2018 auf 8,48 Meter verbessert. Welche Kriterien sind für eine derartige Leistungssteigerung ausschlaggebend?
Rehm: Für mich war nie Schluss, wenn ich einen neuen Rekord aufgestellt habe. Ich glaube, es kann einem Athleten schon passieren, dass er sagt: „Ich bin angekommen. Das ist das, wo ich hinwollte. Jetzt bin ich fertig.“ Ich hingegen sehe dann immer sofort das nächste Ziel. Bei den Paralympischen Spielen in London 2012 bin ich von einem Journalisten gefragt worden, ob es irgendwann mit einer Prothese möglich sein werde, acht Meter zu springen. Ich sagte, klar, dass sei machbar, ich wüsste nur nicht, ob ich derjenige sei. Umso schöner, dass es mir dann selbst gelungen ist. Es sind viele kleine Stellschrauben, die man über die Jahre einfach angeht. Jeden Tag noch ein bisschen besser werden. Das ist eine blöde Floskel, aber so ist es am Ende des Tages.
OT: Ab welcher Weite ist dann von außen der Fokus immer mehr auf die Prothese gelegt worden? Und wie schwer ist es, zu argumentieren, dass zu einem guten Sprung mehr gehört als gutes Material?
Rehm: Es fing 2013 an. Da bin ich bei der WM 7,95 Meter gesprungen. Das war wirklich einer der Sprünge, die mir ewig in Erinnerung bleiben, weil es für diesen Tag der perfekte Sprung war. Damals haben die Offiziellen schon gemerkt, wenn das so weiter geht, wird er nächstes Jahr die Qualifikation für die Deutschen Meisterschaften springen. Und dann ging die Diskussion los. Zwischen 2013 und 2017 hat sich prothetisch allerdings fast nichts verändert. Höchstens die Härte, weil das Gewicht nicht mehr gestimmt hat. Es ist keine Raketenwissenschaft, die ich mache. Es wäre doch vermessen zu behaupten, dass ich der weltbeste Prothesenbauer bin und nur deswegen so weit springe. Meistens ist die Diskussion immer relativ schnell vorbei, wenn ich sage: Gucke dir die anderen Athleten an, die haben genau das gleiche Material.
OT: Parallel zu Ihrem sportlichen Werdegang haben Sie eine Ausbildung zum Orthopädie-Technik-Mechaniker-Meister absolviert. Wie sehr ergänzen sich Ihr sportliches und Ihr handwerkliches Know-how?
Rehm: Ich finde es toll, dass ich alles selber machen kann, aber ob das immer gut ist? Manchmal ist es ein Vorteil, nicht der eigene Techniker zu sein, um auf eine Situation nochmal mit einem anderen objektiven Auge draufzugucken. Bei Patienten bin ich sehr tief im Thema drin und manchmal schon auch durch eigene Erfahrungen ein bisschen ein Freak. Mit jeder neuen Information stelle ich mir direkt die Frage, was für Auswirkungen das haben kann. Wenn ich jemanden sehe, habe ich sofort Ideen im Kopf in Bezug auf Materialien oder Einstellungen. Das ist manchmal echt abgefahren.
OT: Die sportliche Akribie überträgt sich also in den Versorgungsalltag.
Rehm: Absolut. Ich habe mir neulich einen neuen Schaft gebaut, weil sich da ein bisschen was verändert hat. In meinen Sportprothesen habe ich zum Beispiel kein Polster drin. Ich habe mit Wachs gearbeitet. Das war eine riesen Sauerei, aber das Resultat war genial. Eine Kundin hat mir das schöne Kompliment gemacht, dass ich nicht sagen würde, etwas ginge nicht, sondern stattdessen, dass ich etwas so noch nicht gemacht hätte. Sie ist Kampfsportlerin und geht auch gerne laufen. Wir haben ein paar nicht unbedingt konventionelle, aber für sie super funktionierende Lösungen erarbeitet.
Gleichberechtigung ist keine Einbahnstraße
OT: Getreu dem Motto: Eine Herausforderung ist noch kein Hindernis.
Rehm: Ich kann mich noch sehr gut an einen Moment mit meiner Trainerin beim Langhantelkrafttraining erinnern: Sie meinte, das sehe bei jedem erstmal komisch aus. Sollten wir bei Problemen feststellen, dass es an der Prothese und nicht an mir liege, könnten wir uns drüber unterhalten. Sie hat mich einfach nie geschont. Ich bin auch hart zu anderen Athleten und sage ihnen, dass sie es nicht gleich auf ihre Prothese schieben sollen, wenn es einmal nicht läuft. Selbst mit Kunden hat es schon Diskussionen gegeben, dass Gleichberechtigung keine Einbahnstraße ist und es nicht das Ziel sein sollte, sich für eine Sonderbehandlung als Prothesenträger die Rosinen herauszupicken.
OT: In welchem Maße hat sich Ihr Beruf als OTM in den vergangenen zehn Jahren verändert in Bezug auf den technischen Fortschritt der Hilfsmittel, aber auch im Umgang mit den Patienten?
Rehm: Es tut sich wahnsinnig viel, insbesondere bei der 3D-Scan-Technik und dem 3D-Druck. Die Prothetik und Orthetik haben sich stark verändert. Viele Orthesen sind mittlerweile fast schon Designerstücke. Die sehen einfach cool aus und können wirklich ohne jegliches Schamgefühl getragen werden. Auch in der Prothetik ändert sich seit Jahren einiges und das wird so weitergehen. Ich selbst habe bereits einen gedruckten Schaft im Einsatz. Wir versuchen hier am Puls der Zeit zu bleiben und sind da vermutlich ganz vorne mit dabei. Ich bin sehr gespannt, wo wir mit der Digitalisierung in zehn Jahren stehen werden. Auch wenn ich gerne noch mit Gips arbeite, werden sich sicherlich alternative Ansätze weiterentwickeln und langfristig durchsetzen.
OT: Wie bringen Sie Ihre Arbeit in der OT-Werkstatt und die sportlichen Aktivitäten zeitlich unter einen Hut?
Rehm: Ich habe tatsächlich Anfang 2020 die Arbeit als Orthopädietechniker noch ein bisschen reduziert, weil ich gemerkt hatte, dass ich beides in der Intensität qualitativ gar nicht packe. Aktuell ist mir ist der Sport immer noch sehr wichtig und die Verpflichtungen sind mit der Zeit auch immer mehr geworden. Ich habe mit Rahm eine Lösung gefunden, dass ich für Projekte Ansprechpartner bin und die Einzelbetreuung dafür etwas zurückfahre. Wenn ich ganz als Techniker aufhören und nicht mehr regelmäßig in der Werkstatt stehen würde, das würde mir schon fehlen. Dafür bin ich doch zu gerne in meinem Job tätig. Seit 2017 habe ich mit meinem Prothesen-Ausrüster Össur eine neue Feder und eine Laufsohle entwickelt, die jetzt als „Cheetah Expanse“ auf den Markt gekommen ist. Das war ein spannender Prozess und die Arbeit mit dem Team um Christophe Lecomte auf Island hat wahnsinnig viel Spaß gemacht. Die waren in der Forschungs- und Entwicklungsabteilung genauso gepolt wie ich und wollten das Projekt erfolgreich umsetzen. Einmal sind wir sogar nach einem gemeinsamen Abendessen nochmal in die Werkstatt gefahren, um nachts eine neue Variante zu testen. Das angeschlossene Sanitätshaus hat eine eigene Tartanbahn, auf der ich viele Stunden an Entwicklung verbracht habe.
OT: Wie optimistisch sind Sie in Bezug auf die Paralympischen Spiele in Tokio in diesem Jahr?
Rehm: Ich bin aktuell noch ziemlich positiv gestimmt, auch wenn ich natürlich mit Bedenken sehe, dass die Infektionszahlen auch in Japan hochgegangen sind. Wenn ich die Hoffnung aufgegeben hätte, würde ich mich im Training echt schwertun. Ich wünsche mir, dass das Impfen jetzt relativ schnell vorangeht. Dann könnten die Spiele in abgespeckter Form stattfinden. Mit Quarantäne für Einreisende und weniger Zuschauern als eigentlich geplant.
Olympia als „tolle Plattform”
OT: Ist zusätzlich eine Teilnahme an den Olympischen Spielen ein realistisches Szenario?
Rehm: Der Internationale Sportgerichtshof hat im Herbst die Gesetzgebung in Bezug auf die Verwendung von Hilfsmitteln dahingehend geändert, dass der Leichtathletik-Weltverband mir nun nachweisen muss, dass ich mit meiner Prothese einen künstlichen Wettbewerbsvorteil habe. Das halte ich für nicht ganz so leicht, denn wir haben in der Vergangenheit umfangreiche Studien gemacht, die keinen Vorteil ergeben haben. Der Fokus liegt für mich trotzdem auf den Paralympics, weil ich hier meine Medaillen gewinnen kann. Ich bin paralympischer Athlet. Für mich persönlich wäre Olympia in erster Linie eine tolle Plattform. Es hätte einen großen symbolischen Charakter zu sagen: Wir brauchen die Athleten nicht so krass zu unterteilen, sondern alle erzielen genauso starke Ergebnisse. Viele Menschen haben vom paralympischen Sport immer noch falsche Bilder im Kopf. Mein Ziel ist es, den Leuten zu zeigen, was bei uns für außergewöhnliche Leistungen erbracht werden. Leider gibt es bis heute immer noch schlechte Witze über die paralympischen Leistungen. Ich habe vor kurzem einen der Fack-ju-Göhte-Filme gesehen, wo in einer Szene der Satz fällt: „Hey, trainiert ihr für die Paralympics?“ Das war so ein abwertender Spruch. Ich habe wirklich Humor, ich kann auch über mich selbst großartig lachen, aber das fand ich einfach nicht witzig. Und dafür will ich sorgen, dass so etwas nicht mehr witzig ist. Man kann wirklich auch über Handicaps, über verlorene Beine oder Arme, einen Scherz machen, da bin ich selbst ganz vorne mit dabei. Aber der Spruch war einfach nicht lustig. Die wären nicht in der Lage, das zu leisten, was paralympische Sportler leisten. Um das einfach noch mehr Leuten klar zu machen, würde ich gerne die Bühne Olympia nutzen wollen.
OT: Der Sport hat maßgeblich dazu beigetragen, dass Sie in den vergangenen zehn Jahren viel in der Welt herumgekommen sind. Wie werden Menschen mit einer Amputation in anderen
Ländern wahrgenommen bzw. angesehen?
Rehm: Es kommt immer auf die Region an. In den USA sind Amputationen und Prothesen offen sichtbar, zum Teil sogar mit einem Heldenstatus verbunden. Wie ernsthaft das gemeint wird, kann ich nicht einschätzen, aber man hat schon das Gefühl, dass alle das total cool finden. In Europa sind wir in der Entwicklungsphase. Viele Menschen trauen sich nicht, Fragen zu stellen, obwohl es für diese Zurückhaltung keinen Grund gibt. Leider gibt es weltweit immer noch Regionen, wo ein Handicap als Schwäche definiert ist – gerade bei Männern. Frauen wiederum denken, dass sie mit einer Prothese nicht dem Schönheitsideal entsprechen. Es ist einfach nicht wahr, dass du mit einer Prothese irgendwie weniger wert bist. Du kannst genauso wertschöpfend sein wie jeder andere Mensch, aber das wird in vielen Ländern noch nicht ganz so gesehen. Wir befinden uns in einem Prozess, den auch der paralympische Sport unterstützen kann. In Japan gibt es zum Beispiel so gut wie keine barrierefreien Hotelzimmer. Hier kann die Ausrichtung von Paralympischen Spielen sensibilisieren und Veränderungen anstoßen.
OT: Was kann, was muss sich in Deutschland noch tun, um Menschen mit einer Amputation stärker in Alltag und Sport zu inkludieren?
Rehm: Wir im Handwerk können dazu beitragen, dass Hilfsmittel nicht immer wie Hilfsmittel aussehen, sondern mehr wie ein Designstück. Dann trauen sich auch mehr Prothesenträger mit kurzen Hosen vor die Tür. Auch die Krankenkassen müssen signalisieren, dass ihnen die Hilfsmittel-Akzeptanz der Anwender etwas wert ist. Im Sport sind für mich immer noch gemeinsame Wettkämpfe ein Thema. Warum kann man nicht viel mehr zusammen machen? Hier gibt es immerhin eine Verbesserung im Vergleich zu vor zehn Jahren. In Deutschland sind wir insgesamt auf einem guten Weg. Ich selbst sehe mich da auch nicht als Hardliner, sondern beteilige mich gerne an kontroversen Diskussionen.
Die Fragen stellte Michael Blatt.
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