Einleitung
Erste Veröffentlichungen zum Thema „Funktionelle Elektrostimulation“ (FES) erschienen bereits in den 1960er Jahren. Dabei ging es vorrangig um den Aspekt der neuromotorischen Plastizität im Rahmen der Neurorehabilitation. In den 80er Jahren zielten Vodovnik und Kollegen mit ihren Veröffentlichungen darauf ab, die Aufmerksamkeit der Physiotherapeuten auf die damals aktuellen Entwicklungen in der Methodik der FES zu lenken. Außerdem beabsichtigten sie, den Einsatz der FES in der klinischen Praxis und deren kritische Bewertung durch Kliniker zu fördern1. Als Arbeitsgrundlage konkretisierte die Gruppe um Vodovnik 2 folgende klinische Ziele der FES:
1. Unterstützung und Förderung der spontanen Erholung beeinträchtigter motorischer Funktionen aufgrund einer Schädigung des zentralen Nervensystems (ZNS);
2. Entwicklung der motorischen Funktionen unter Einsatz der FES bei Kindern mit Zerebralparese;
3. Wiederherstellung grundlegender reflexmotorischer Mechanismen, die hauptsächlich auf der Ebene des Rückenmarks liegen (efferente Stimulation);
4. Ersatz motorischer Funktionen, die aufgrund einer Schädigung des ZNS verloren gingen oder stark beeinträchtigt wurden;
5. Einflussnahme auf lokomotorische Funktionsstörungen, bedingt durch Veränderungen sensomotorischer Mechanismen, die auf verschiedenen Ebenen des ZNS integriert sind (afferente Stimulation) 3.
Terminologie
Der Begriff „Funktionelle Elektrostimulation“ (FES) wurde von Moe und Post im Jahr 1962 geprägt und etabliert. Er bezieht sich auf die elektrische Stimulation von Muskeln, die der motorischen Kontrolle entzogen sind, um eine funktionell nützliche Kontraktion zu bewirken 4. Davon abzugrenzen ist der Begriff „Neuromuskuläre Elektrostimulation“ (NMES), der von einigen Autoren verwendet wird, um zwischen der therapeutischen Anwendung und dem funktionellen Zweck der Elektrostimulation zu unterscheiden. NMES kann einen funktionsverbessernden Effekt haben, muss aber nicht direkt eine bestimmte Funktion auslösen. Bei beiden Anwendungsformen muss jedoch das untere motorische Neuron („lower motoneuron“, LMN) intakt sein, um gelähmte oder teilgelähmte Muskeln zu aktivieren5. Der übergeordnete Begriff „Elektrostimulation (ES)“ umfasst FES und NMES sowie die direkte Muskelstimulation. Letztere wird bei einer Schädigung des LMN angewandt.
Wirkungsweise von FES/ NMES/direkter Muskelstimulation Je nach Art der Läsion erfolgt die Übertragung des Stromes über den Nerv (supranukleäre Schädigung) oder über den Muskel direkt (infranukleäre Schädigung). Bei der Elektrostimulation (ES) wird unter den Elektroden auf der Haut ein künstliches elektrisches Feld erzeugt. Dieses depolarisiert die Zellmembranen der nahegelegenen Neuronen oder löst Aktionspotenziale der Muskelfasern aus 6. Beides führt letztendlich zu einer Muskelkontraktion. Nervenfasern sind schneller erregbar als Muskelfasern. Das liegt daran, dass die Reizschwelle für die Erzeugung von Aktionspotenzialen bei Nervenfasern viel niedriger ist als diejenige für die direkte Erregung von Muskelfasern 7: Nervenfasern sind ab 50 μs (0,05 ms) Impulsdauer erregbar, während Muskelfasern längere Impulsdauern von über 10 ms benötigen. Basierend auf diesen physiologischen Gegebenheiten ist es entscheidend, die unterschiedlichen Mechanismen und therapeutischen Ziele der Anwendung einer Elektrostimulation bei Läsionen des oberen Motoneurons (supranukleär) im Vergleich zu Läsionen des unteren Motoneurons (infranukleär) zu verstehen. Folglich muss bei Fachpersonen, die FES bzw. NMES und direkte Muskelstimulation anwenden, eine genaue Kenntnis über die Art der Schädigung bei den unterschiedlichen neurologischen Krankheitsbildern vorhanden sein (Abb. 1). Die Menge und Vielfalt der auf dem Markt verfügbaren Stimulatoren ist groß, und es ist wichtig, die technischen Details der Geräte zu kennen, um zu entscheiden, ob sie zum Innervationsstatus einer Person mit neurologischer Symptomatik passen. Neben der Impulsdauer (μs/ms) sollten dabei auch die anderen Parameter wie Frequenz (Hz) und Amplitude (mA) sowie der Stimulationszyklus (An- und Abstieg, Stimulationszeit und Pausendauer) auf die individuellen Bedürfnisse der zu behandelnden Person abgestimmt sein.
Anwendungsgebiete von FES/NMES (Abb. 2)
Die Behandlung mit FES in der Neurorehabilitation verbessert nachweislich die Funktion der unteren 8 9 10 und der oberen Extremitäten 11 12 sowie die Rumpfstabilität und deren Funktion13 14. Zudem kann bei Menschen mit hoher Tetraplegie durch Anwendung von FES die Atmung verbessert werden [efn_noteBell S, Shaw-Dunn J, Gollee H, Allan DB, Fraser MH, McLean AN. Improving respiration in patients with tetraplegia by functional electrical stimulation: An anatomical perspective. Clin Anat, 2007; 20 (6): 689–693][/efn_note] 15 16. Darüber hinaus kann FES die Blasen‑, Darm- und Sexualfunktion 17, die kardiovaskuläre Fitness 18 19 und eine Reduktion der Körperfettmasse20 positiv beeinflussen. Ein weiteres Anwendungsgebiet ist die Prävention und Behandlung von Hautverletzungen im Sinne von Druckgeschwüren unterschiedlicher Ätiologie durch Verbesserung der Durchblutung und Zunahme der Muskelmasse21 22. Es wurde festgestellt, dass durch FES die Granulation und die Re-Epithelisierung verbessert und die zellulären Aktivitäten wie ATPKonzentration, Kollagen- und DNASynthese gesteigert werden konnten23 24. Folgende Wirkungen der FES auf muskulärer Ebene wurden ebenfalls in Studien untersucht:
- Verhinderung von Nichtgebrauchs- und Denervationsatrophie,
- Verbesserung von Muskelkraft25, Muskelleistung 26 und Ausdauer 27,
- Veränderung des Muskelfasertyps 28,
- Vergrößerung der Querschnittsfläche der Muskeln und der Muskelmasse 29 sowie
- Reduktion von Spastizität 30.
Die auf der Anwendung von FES basierenden Verbesserungen führen sekundär zu einer Verbesserung der Lebensqualität31 32. In Tierstudien wurde beschrieben, dass FES Einfluss auf die neuronale Plastizität hat 33 34 . Beim Menschen kann das motorische Lernen durch die Kombination von FES mit „action observation“ oder „mental imagery training“ unterstützt werden, um die Erregbarkeit der kortikalen motorischen Areale zu erhöhen 35. Bei der Anwendung von „action observation“ wird über die Beobachtung einer Bewegung das Gesehene erlernt, wiedererlernt oder verbessert. Das „mental imagery training“ hingegen ist ein kognitiver Prozess, bei dem sich der Patient eine Bewegung vorstellt, ohne sie zu aktivieren. FES ist heute eine evidenzbasierte, etablierte Behandlungsmethode Spezifische Ganganalyse bei MS und daraus resultierende optimale Orthesenversorgung, im Besonderen der Einsatz von FES, die in Kombination mit klassischen physio- und ergotherapeutischen Behandlungsmethoden genutzt werden kann. Im Folgenden werden die einzelnen Anwendungsgebiete vorgestellt.
Motorisches Lernen
Motorisches Lernen in Kombination mit FES und ein damit verbundenes aufgabenorientiertes funktionelles Training umfassen sowohl im klinischen als auch im therapeutischen Bereich quantitativ den größten Anteil. Beim motorischen Lernen geht es um das Erlernen oder Wiedererlernen von Bewegungen und um die Aktivierung stiller motorischer Einheiten, die aufgrund erlernter Bewegungskompensationen verlorengingen und wieder rekrutiert werden sollen. Des Weiteren umfasst es die Reaktivierung von Arealen des motorischen Kortex, die durch den „erlernten Nichtgebrauch“ einer Funktion betroffen waren 36 37. Letzteres bezieht sich auf Bewegungen, die durch Kompensationsstrategien durchgeführt werden, wie z. B. das Greifen ohne Palmargriff oder der Einsatz des Daumens. Der Theorie des motorischen Lernens folgend sollten die Therapieinhalte repetitiv, spezifisch und aufgabenbezogen sein 38. Diese Behandlungen sollten in Kombination mit FES täglich, am besten zwei- bis dreimal, durchgeführt werden 39. Die FES muss dabei nicht von hoher Intensität sein; sie kann unterhalb der motorischen Reizschwelle („motor threshold“) liegen, da auch niedrigere Amplituden effizient zur Aktivierung afferenter Nerven genutzt werden können 40.
Kardiovaskuläres Training
Das sogenannte FES-Cycling (FES-Radfahren) wird als Herz-Kreislauf- Training empfohlen41. Dabei werden die Beinmuskeln (M. quadriceps, Mm. ischiocrurales, M. gluteus maximus, M. tibialis anterior, M. gastrocnemius) während der Radfahrbewegung stimuliert. Das bedeutet, dass z. B. ein komplett gelähmter Patient das Rad mit der Bewegung der stimulierten Beine selbstständig antreibt. Effekte wie eine höhere Sauerstoffaufnahme während des Trainings und eine gesteigerte Fettverbrennung durch das Training sind untersucht und belegt worden 42 43 44. Atmung/Husten Es gibt neurologische Krankheitsbilder, bei denen die willkürliche Aktivität der Bauchmuskulatur ganz oder teilweise fehlt. Dies trifft z. B. bei Menschen mit Tetraplegie und Paraplegie (TH2–TH5) zu. Die Bauchmuskulatur ist wesentlich an der forcierten Ausatmung beteiligt. Diese ist notwendig für eine gute Belüftung der Lunge, das Husten und lautes, kraftvolles Sprechen. Normalerweise benötigt ein Tetraplegiker eine Hilfsperson, die beim Abhusten manuelle Unterstützung bietet. Eine Alternative stellt eine FES der Bauchmuskulatur dar: Sie verstärkt die Ausatmung und den Hustenstoß 45 46. Die Bauchmuskeln sind die wichtigsten exspiratorischen Muskeln, die zum Husten benötigt werden. Im klinischen Alltag und im täglichen Leben werden die Sekretolyse und das Abhusten in aller Regel durch manuelle Unterstützung von Drittpersonen durchgeführt. In einigen Fällen ist eine manuelle Unterstützung des Hustens z. B. aufgrund von Schmerzen durch Thoraxtraumata, Rippenfrakturen oder zusätzliche Erkrankungen wie z. B. Morbus Bechterew nicht möglich. Zudem streben viele Betroffene mit hohen Lähmungen eine gewisse Autonomie an und wollen, wenn möglich, auf Hilfspersonen verzichten. So kann die FES der abdominalen Exspirationsmuskulatur helfen, das Husten zu unterstützen bzw. es effizient durchzuführen. Die Stimulation kann über externe Schalter ausgelöst werden. Das können etwa Bewegungssensoren sein, die über willkürlich aktivierte Muskelkontraktionen im Sinne eines EMG-Triggers ausgelöst werden können. Externe On-/Off-Schalter, die am Rollstuhl befestigt werden, sind eine andere Möglichkeit. Diese können z. B. an der Schulter oder am Ellbogen angebracht sein oder in die Kopfstütze eingearbeitet werden. Durch aktives Drücken dieser Schalter wird die Stimulation ausgelöst. Individuell wird definiert, ob durch Auslösung des Schalters ein Stimulus, d. h. eine einmalige Kontraktion der Bauchmuskulatur, ausgelöst wird oder ob es zu einer dauerhaften elektrostimulationsforcierten Kontraktion kommt, die erst durch erneutes Drücken des Schalters beendet wird. Solche Stimulationssysteme können den ganzen Tag über getragen und bei Bedarf genutzt werden.
Haut- und Knochenqualität
Eine gute Hautqualität impliziert die Unversehrtheit der Haut und besagt, dass diese unverletzt und das Gewebe auch in tiefen Schichten gut ernährt ist. Zudem ist die Durchblutung im vaskulären System – sowohl arteriell als auch venös – ausreichend. Bei der Elektrostimulation (NMES und direkte Muskelstimulation) zur Beeinflussung der Hautqualität wird unterschieden zwischen
– der Behandlung von Druckgeschwüren und Hautverletzungen sowie
– der Prävention von Hautläsionen.
Häufig tritt ein Dekubitus bei Menschen mit Querschnittlähmung im Bereich des Gesäßes und bei Diabetikern im Bereich der unteren Extremitäten auf. Im Bereich des Gesäßes sind die Sitzbeinhöcker sowie das Steißbein besonders exponiert. Bei der Prävention mit ES zur Verringerung des Risikos von Hautverletzungen bzw. eines Dekubitus wird der Aufbau von Muskelmasse angestrebt, um einen Polstereffekt zu erzielen. Anatomisch gesehen bedeckt kein Muskel die Sitzbeinhöcker: Die Glutealmuskulaturendet oberhalb der knöchernen Struktur; die Ischiocruralmuskulatur entspringt erst an den Tubera. Das bedeutet, dass der angestrebte Polstereffekt nicht die knöchernen Vorsprünge an sich schützt, sondern dass der Aufbau von Muskelmasse die Sitzfläche vergrößert und somit die punktuellen Druckspitzen minimiert 47 48 49 50. Die mechanischen Eigenschaften des Knochens sind abhängig von seiner Mineraldichte, seiner trabekulären Struktur und seiner organischen Zusammensetzung. In den unteren Extremitäten kommt kortikaler Knochen hauptsächlich in der mittleren Tibia vor, während trabekulärer Knochen im distalen Femur und in der proximalen Tibia zu finden ist. Menschen mit Osteopenie und/oder Osteoporose tragen dort ein höheres Risiko, eine Fraktur zu erleiden 51 52. Elektrostimulation zur Behandlung und Prävention von Osteopenie und/ oder Osteoporose wird hauptsächlich in Form von FES durch Radfahren oder Rudern angewandt. Einige Studien haben die Wirkung von FES in Kombination mit Stehen untersucht 53 54 55 56 57 [18, 52–56]. Die Methode der Funktionellen Elektrostimulation in Form des FES-unterstützten Radfahrens, Ruderns oder Stehens ist somit sowohl in der Geriatrie als auch in der Rehabilitation von Menschen mit Querschnittlähmung sinnvoll einsetzbar. Denn beide Zielgruppen sind von Veränderungen der Knochen-Mineraldichte besonders stark betroffen.
Funktionsunterstützung
Bei der Funktionsunterstützung wird zwischen der Unterstützung von Teilfunktionen bei nicht vollständigem Ausfall einer Bewegung und dem vollständigen Funktionsersatz, der mittels FES erfolgt, unterschieden. In letzterem Fall ist die FES einer Orthetik gleichzusetzen. Das bedeutet, dass ein durch Elektrostimulation gesteuertes System eine Schienenversorgung ersetzen kann. Ein solcher Funktionsersatz kann prinzipiell in jeder definierten Muskelgruppe erfolgen, vorausgesetzt, es liegt eine Schädigung des oberen motorischen Neurons vor. Alle aktuellen Systeme, die im Sinn einer Orthese funktionieren, lösen die Stimulation via Nerv aus. In häufiger Anwendung sind Fußhebersysteme, die über Bewegungssensoren oder externe Schalter während der Spielbeinphase die Fußheber aktivieren. Dies erfolgt mittels FES der dementsprechenden Muskulatur der Fuß- und Zehenextensoren oder auch über den Fluchtreflex. Bei Letzterem kommt es zur zusätzlichen reflektorischen Aktivierung der Hüft- und Knieflexoren. Neue Systeme bieten zusätzlich den Vorteil der selektiven Ansteuerung der Motorpunkte in den Muskeln über die Verwendung von Array-Elektroden. So können zum Beispiel gezielt während des Gehens Fußhebung und ‑senkung stimuliert werden, und zwar an jenen Arealen im Muskel (Motorpunkte), an denen die größte Selektivität mit der geringsten Stimulationsintensität erzielt werden kann 58 59. Die Fußsenkung unterstützt den Abdruck und verbessert die Stabilität beim Gehen. Die Entscheidung, mit welchem System eine betroffene Person versorgt wird, sollte immer individuell getroffen werden. Bestenfalls haben Therapeuten mit Erfahrung und Fachkompetenz in der Funktionellen Elektrostimulation die Möglichkeit, auf verschiedene Systeme zurückzugreifen und sie mit der betroffenen Person auszuprobieren. Wird die Entscheidung getroffen, ein Fußhebersystem als Alternative zu einer Schienenversorgung zu benutzen, ist ein entsprechendes Training unerlässlich – Muskulatur, die über eine längere Zeit stimuliert werden soll, benötigt Kraft und Ausdauer. Dies kann unter FES mit den dementsprechenden Übungen gezielt trainiert werden. Die Nutzung FES-unterstützter Fußhebersysteme ohne entsprechendes Training führt zum Misserfolg und zu Enttäuschung sowohl beim Anwender als auch beim Experten (Abb. 3). Ein individuelles, für den jeweiligen Nutzer erstelltes Trainingsprotokoll bietet die Basis einer erfolgreichen Nutzung. Es beinhaltet den systematischen Aufbau von Muskeltraining und Gehzeit mit dem FES-unterstützten Fußhebersystem sowie regelmäßige Kontrollen zur Anpassung der Stimulationsparameter.
Kräftigung von Muskeln oder Muskelgruppen
Eine häufige Anwendung der NMES besteht in der Kräftigung einzelner Muskeln oder Muskelgruppen. Es gibt dabei einen hohen Evidenzgrad hinsichtlich der Zunahme der Muskelkraft unter Berücksichtigung der korrekten Parameterkomposition und des gewählten Trainings 60 61 62. Eine per NMES unterstützte Muskelkräftigung kann entweder unter statischen oder unter dynamischen Bedingungen durchgeführt werden:
– die statische Methode beschreibt die Anwendung der NMES während eines aktiven oder passiven Stehens;
– die dynamische Methode wird beim Gehen, Radfahren und bei sogenannten Legpress-Übungen, d. h. beim Beugen und Strecken der Beine auf der Beinpresse angewandt.
Bei der NMES-unterstützten Kräftigung ist die schnelle Ermüdung der Muskeln zu respektieren. Sie erfolgt schneller als bei einem mit Willkürkraft ausgeführten Training, tritt nach wiederholten Kontraktionen auf und äußert sich in einer Abnahme des Drehmoments. Die Verfügbarkeit von ATP ist dann beeinträchtigt; unter anderem nimmt die Kalziumfreisetzung ab. Diese Ermüdung kann über Stunden oder Tage andauern 63 64. Eine NMES aktiviert motorische und sensorische Bahnen. Die vorherrschende Aktivierung hängt von den Stimulationsparametern und der Position der Elektroden ab. Bei einer durch Elektrostimulation induzierten Muskelkontraktion werden repetitiv die gleichen Muskelfasertypen aktiviert; die physiologische Muskelfaserrekrutierung (Hennemann-Prinzip) erfolgt nicht unter der Stimulation.
Tonusreduktion
Ein pathologisch erhöhter Tonus, auch als Spastik oder Spasmen bezeichnet, kann durch den Einsatz von NMES bzw. FES reduziert werden. Dies beruht auf der Theorie, dass die elektrische Kontraktion der paretischen Muskulatur durch die Stimulation der Interneurone (spinal) zu einer reziproken Hemmung der Antagonisten führt. Neben der motorischen Stimulation der betroffenen Muskelgruppen, d. h. unter sichtbarer kraftvoller Stimulation, kann auch die submotorische Stimulation (sensorisch) durchgeführt werden. Letztere erfolgt unterhalb der motorischen Reizschwelle, d. h., es kommt zu keiner sichtbaren Muskelkontraktion. Die physiologische Grundlage dessen ist, dass diese Art der Stimulation Einfluss auf die Erregbarkeit der Alpha-Motoneurone haben kann, die den Tonus reduziert. Zudem wurde bei dieser Anwendung von NMES bzw. FES ein positiver Einfluss auf die sensomotorische Reorganisation nachgewiesen 65 66. Geeignete Methoden zur Tonusregulation sind FES-Cycling, „Arm- Cranking“ (Bewegen einer Handkurbel) mit FES sowie FES-Rudern. Bei allen drei Methoden wird eine durch die stimulierte Muskulatur unterstützte Bewegung ausgeführt. Die Regelmäßigkeit der Durchführung spielt eine entscheidende Rolle für den Therapieerfolg. Empfohlen wird dreimal wöchentlich eine Dauer von 30 bis 45 Minuten exklusive Vor- und Nachbereitungszeit, die das Positionieren auf dem Gerät und das Aufkleben der Elektroden beinhaltet. Der Zeitaufwand ist hoch; es bedarf einer hohen Compliance bei allen Beteiligten – Anwender und Hilfsperson –, die sich aber im Resultat nach 3 bis 6 Monaten auszahlt.
Strukturveränderung
Durch Anwendung von NMES und direkter Muskelstimulation kann sowohl bei einer supra- als auch bei einer infranukleären Schädigung auf die Struktur der Skelettmuskulatur Einfluss genommen werden.
Beispiele aus dem klinischen Alltag oder der Heimtherapie sind:
– Subluxationsprophylaxe im Glenohumeralgelenk, z. B. nach Schlaganfall;
– Behandlung der Rumpfmuskulatur bei Asymmetrien oder skoliotischen Fehlhaltungen unterschiedlicher Genese in Kombination mit klassischen physiotherapeutischen Techniken wie den Konzepten nach Gocht- Gessner oder Lehnert- Schroth.
Zudem können NMES oder direkte Muskelstimulation zur Kontrakturbehandlung unterstützend eingesetzt werden. Das Prinzip besteht darin, dass NMES die „Nichtgebrauchsatrophie“ reduzieren oder ganz vermeiden kann; außerdem verzögert die direkte Muskelstimulation die Denervationsatrophie oder hält sie komplett auf. Letzteres hat jedoch nur bei rechtzeitigem Beginn der Stimulation den besten Erfolg. In Kombination mit Bewegung und gegen Widerstand kommt es zur Kräftigung der Muskulatur. Außerdem wird die Elastizität der Muskulatur erhalten 67 68 69. Je nach neurologischer Situation sollte die Behandlung drei- bis fünfmal wöchentlich für jeweils 30 Minuten erfolgen. Von den beschriebenen Anwendungsgebieten wird der Gesichtspunkt des motorischen Lernens im klinischen Alltag und der ambulanten therapeutischen Behandlung wahrscheinlich am meisten genutzt. Eine gezielte Kombination aus ergo-/ physiotherapeutischen Interventionen kombiniert mit FES bietet einen optimalen Reiz hinsichtlich des motorischen Lernens. Kommt es zu keiner Regeneration der gewünschten Funktion (z. B. Gehen, Greifen, Husten etc.), kann über eine Funktionsunterstützung im Alltag mit einem elektrostimulationsbasierten System nachgedacht werden. Im Bereich Prävention wird FES noch zu wenig genutzt. Das FES-Cycling bietet ein Herz-Kreislauf-Training für Menschen, die in ihrer Mobilität eingeschränkt sind. Strukturelle Veränderungen, bewirkt durch den Einsatz von ES, die Haut, Knochen und Gelenkstrukturen betreffen, können die Lebensqualität von Menschen nachhaltig verbessern. Als Beispiel kann in diesem Zusammenhang die Gruppe der Menschen mit Querschnittlähmung erwähnt werden, die durch die Stimulation der Gesäßmuskulatur längere Sitzzeiten erlangen, oder Hochgelähmte, die durch Stimulation der schulterumgebenden Muskulatur Fehlstellungen und somit Schmerzen reduzieren können.
Fazit
Die Einsatzmöglichkeiten von ES sind vielfältig und mit guter oder zumindest moderater wissenschaftlicher Evidenz belegt. Im vorliegenden Beitrag sind nur jene erwähnt, die im therapeutischen Alltag am häufigsten genutzt werden. Es bedarf einer hohen Fachkompetenz der Anwender, um die jeweils geeigneten Stimulationsparameter in den zur Verfügung stehenden Stimulatoren festzulegen. Eine klare Zieldefinition in Zusammenarbeit mit dem multiprofessionellen Team und den Patientinnen und Patienten, in der das erwartete Resultat benannt und in regelmäßigen Abständen im Behandlungsverlauf evaluiert wird, ist empfehlenswert. Patienten, die mittels ES behandelt werden, benötigen eine dauerhafte und regelmäßige Begleitung durch Fachpersonen. Stimulationsparameter verlangen bei Veränderung der muskulären, neurologischen oder physiologischen Situation eine Anpassung, um die Effektivität der Behandlung sicherzustellen.
Die Autorin:
Dr. Ines Bersch-Porada Physiotherapeutin,
PhD in Medical Science Leiterin International FES Centre®
Schweizer Paraplegiker-Zentrum
Guido A. Zäch Strasse 1
CH-6207 Nottwil
Begutachteter Beitrag/reviewed paper
Quelle: Webseite des International FES Centre®.
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