Funk­tio­nel­le Elek­tro­sti­mu­la­ti­on (FES) in Kom­bi­na­ti­on mit Orthesen

A. Diercks, N. Bade
Der Artikel stellt ein neues FES-System für Patienten mit zentralnervösen Störungen vor, das in eine Orthese integriert werden kann und über den klassischen Einsatz zur Fußhebung hinausgeht. Dabei werden die Vor- und Nachteile erörtert sowie anhand dreier Fallbeispiele exemplarisch diskutiert. Das Gesamtkonzept „Orthese plus FES“ wurde in allen Fällen von den Probanden als sehr positiv wahrgenommen; Verbesserungen des Gangbildes hin zu einem natürlichen Gangbild sind teilweise deutlich erkennbar. Im Vergleich zwischen solitärer Orthese und Kombinationsversorgung konnte in den relevanten Fällen das Genu recurvatum eingeschränkt und teilweise sogar verhindert werden. Zudem zeigten sich bei den Probanden eine höhere Ganggeschwindigkeit und eine bessere Ausdauer auf langen Strecken sowie eine verbesserte Gangsymmetrie.

Ein­lei­tung

Für die Ver­sor­gung der unte­ren Extre­mi­tät bei neu­ro­lo­gi­schen Erkran­kun­gen ist ein grund­le­gen­des Ver­ständ­nis des jewei­li­gen Krank­heits­bil­des, ein­her­ge­hend mit der Kennt­nis und der Fähig­keit zur Ana­ly­se typi­scher patho­lo­gi­scher Gang­ab­wei­chun­gen und deren Ursa­chen essen­zi­ell. Ins­be­son­de­re bei zen­tral­ner­vö­sen Stö­run­gen wie Schlag­an­fall, Mul­ti­pler Skle­ro­se, (Infan­ti­ler) Zere­bral­pa­re­se oder Schä­del-Hirn-Trau­ma liegt ein zusätz­li­cher Fokus auf der Tonus­re­gu­la­ti­on und dem Spas­tik­ma­nage­ment. Neben klas­si­schen Hilfs­mit­teln zur Mobi­li­sie­rungs­un­ter­stüt­zung wie Geh­wa­gen oder Geh­stö­cken kön­nen ortho­pä­di­sche Hilfs­mit­tel – von Ein­la­gen über Schu­he bis hin zu kom­ple­xen Schie­nen­sys­te­men – zur Sta­bi­li­sie­rung und Füh­rung der unte­ren Extre­mi­tät und somit zur Ver­bes­se­rung der bio­me­cha­ni­schen Belas­tungs­si­tua­ti­on in Stand und Gang ein­ge­setzt wer­den. Eta­bliert haben sich dar­über hin­aus elek­tri­sche Fuß­he­ber­sys­te­me, die per Ansteue­rung der Äste des N. fibu­la­ris com­mu­nis die Exten­so­ren des Unter­schen­kels sti­mu­lie­ren und somit aktivieren.

Anzei­ge

Vor allem in den ver­gan­ge­nen zehn Jah­ren haben sich vie­le Medi­zin­pro­dukte­her­stel­ler und Wis­sen­schaft­ler mit der Fra­ge beschäf­tigt, ob die Funk­tio­nel­le Elek­tro­sti­mu­la­ti­on (FES) als neue Metho­de der Orthe­tik eben­bür­tig ist oder sogar eine Ver­bes­se­rung der Ver­sor­gung von Pati­en­ten mit iso­lier­ter Fuß­he­ber­schwä­che bedeu­tet 1 2 3 4 5. Die meis­ten Stu­di­en gelan­gen zu dem Ergeb­nis, dass eine FES gegen­über einer orthe­ti­schen Ver­sor­gung bezüg­lich des Pati­en­ten­nut­zens zumin­dest gleich­wer­tig ist. Zudem wird in vie­len Stu­di­en von einer erhöh­ten Com­pli­ance und einer Ver­bes­se­rung der sekun­dä­ren Attri­bu­te wie Ver­hin­de­rung von Atro­phien, Ver­bes­se­rung der Durch­blu­tung, Erwei­te­rung von Geh­stre­cke und Beweg­lich­keit, Reduk­ti­on der Sturz­ge­fahr und Tonus­re­gu­la­ti­on gesprochen.

Ein umfas­sen­der Ver­gleich sowie eine kla­re Abgren­zung die­ser bei­den unter­schied­li­chen Ver­sor­gungs­an­sät­ze waren in der Ver­gan­gen­heit für jede poten­zi­el­le Ver­sor­gung stets nötig. Doch inner­halb der letz­ten Jah­re wur­den immer mehr Ver­su­che unter­nom­men, die bei­den Ver­sor­gungs­mög­lich­kei­ten gezielt zu kom­bi­nie­ren und die Vor­tei­le bei­der Ver­fah­ren – Sta­bi­li­sa­ti­on von extern einer­seits und Akti­vie­rung kör­per­ei­ge­ner Res­sour­cen ande­rer­seits – zu nut­zen. In die­sem Arti­kel wird ein neu­es Ver­sor­gungs­kon­zept vor­ge­stellt, das die Kom­bi­na­ti­on einer Orthe­se mit einer FES unab­hän­gig von der klas­si­schen Fuß­he­bung ermög­licht und eine pro­blem­lo­se Inte­gra­ti­on in orthe­ti­sche Ver­sor­gun­gen sicher­stellt. Dabei wer­den die Vor- und Nach­tei­le erör­tert sowie die neu­en Ver­sor­gungs­mög­lich­kei­ten anhand drei­er Fall­bei­spie­le diskutiert.

Grund­sät­ze

Ange­sichts indi­vi­du­el­ler Krank­heits­bil­der exis­tie­ren sowohl in der Orthe­tik als auch in der Anwen­dung des neu­en FES-Sys­tems vie­le poten­zi­el­le Ver­sor­gungs­mög­lich­kei­ten. Daher gel­ten fol­gen­de Grund­sät­ze 6 7 8 für die wei­te­re Betrachtung:

  • „So viel Unter­stüt­zung wie nötig – und nicht: so viel Unter­stüt­zung wie mög­lich.“ Das Aus­maß indi­vi­du­el­ler Pati­en­ten­ver­sor­gun­gen bzw. der damit ver­bun­de­ne Ein­satz von Hilfs­mit­teln soll­te sich stets auf das Wesent­li­che beschrän­ken. Die Fra­ge nach dem Wesent­li­chen hängt jedoch häu­fig vom jewei­li­gen Betrach­tungs­stand­punkt ab. The­ra­pie­zie­le und die dar­aus resul­tie­ren­den Ver­sor­gun­gen soll­ten pati­en­ten­nah und gemein­sam im inter­dis­zi­pli­nä­ren Team defi­niert wer­den. Ergän­zend dazu soll­te der Pati­ent auch moti­viert und aktiv gefor­dert wer­den. Dabei soll­te der Fokus pri­mär auf die Stei­ge­rung sei­ner Lebens­qua­li­tät und die Wie­der­her­stel­lung sei­ner Arbeits­fä­hig­keit gelegt werden.
  • „Ursa­che ver­sus (Aus-)Wirkung.“ Für die fach­ge­rech­te Beur­tei­lung und die anschlie­ßen­de Ver­sor­gung eines patho­lo­gi­schen, mit Defi­zi­ten belas­te­ten Gan­ges ist die exak­te Unter­schei­dung zwi­schen der (Haupt-) Ursa­che und den dar­aus resul­tie­ren­den Aus­wir­kun­gen essen­zi­ell. Zur Iden­ti­fi­ka­ti­on der pri­mä­ren Stö­rung („Ursa­che“) soll­te weni­ger das Offen­sicht­li­che oder Auf­fäl­li­ge, son­dern das jewei­li­ge patho­lo­gi­sche Gang­bild als Gesamt­sys­tem ana­ly­siert werden.
  • „Use it or lose it.“ Die­se Aus­sa­ge gilt sowohl zeit­lich als auch qua­li­ta­tiv und quan­ti­ta­tiv. Die geziel­te Akti­vie­rung kör­per­ei­ge­ner Struk­tu­ren durch Elek­tro­sti­mu­la­ti­on soll­te schnellst­mög­lich erfol­gen und eine adäqua­te orthe­ti­sche Ver­sor­gung die nöti­ge Mög­lich­keit zur phy­sio­lo­gi­schen Wie­der­ho­lung bie­ten. Durch zu gerin­ge bzw. zu spä­te Unter­stüt­zung kön­nen patho­lo­gi­sche Bewe­gungs­mus­ter ent­ste­hen und sich eta­blie­ren; außer­dem kann das Erler­nen neu­er bzw. das Wie­der­erler­nen alter Bewe­gun­gen erschwert oder sogar unmög­lich werden.

Orthe­sen

Unter Orthe­sen ver­steht man Schie­nen bzw. Appa­ra­te, die von extern an Glied­ma­ßen oder dem Rumpf ange­bracht wer­den. Cha­rak­te­ris­ti­sche Haupt­auf­ga­ben sind Sta­bi­li­sa­ti­on, Ent­las­tung, Füh­rung, Kor­rek­tur, Mobi­li­sa­ti­on und Immo­bi­li­sa­ti­on sowie funk­tio­na­le Unter­stüt­zung und Sicher­heit. Neben dem Gewicht und den Abma­ßen einer Orthe­se ist vor allem die Tat­sa­che von Nach­teil, dass die kör­per­ei­ge­nen Struk­tu­ren damit nur pas­siv geführt bzw. gedehnt und nicht aktiv ange­spro­chen werden.

Ver­sor­gun­gen kön­nen ent­we­der aus vor­kon­fek­tio­nier­ten Orthe­sen oder aus der Gestal­tung von Fuß­bett und/oder ‑scha­le, kom­bi­niert mit dyna­mi­schen Ele­men­ten oder ein­stell­ba­ren Sys­tem­ge­len­ken, bestehen. Die dyna­mi­schen Ele­men­te sor­gen für eine exter­ne Sta­bi­li­sie­rung des Bei­nes, las­sen aber gleich­zei­tig auch not­wen­di­ge mehr­di­men­sio­na­le Bewe­gun­gen zu.

Ande­re Sys­te­me defi­nie­ren einen fixen Dreh­punkt in einem dem ana­to­mi­schen Sprung- und/oder Knie­ge­lenk ange­nä­her­ten Gelenk. Durch anpass­ba­re Feder­pa­ke­te kann die natür­li­che Stoß­dämp­fung unter­stützt, ein plantarer/dorsaler Anschlag ein­ge­stellt und durch Kom­pri­mie­rung gespei­cher­te Ener­gie zum Ende der Stand­pha­se in die Bewe­gung ein­ge­bracht werden.

Elek­tro­sti­mu­la­ti­on

All­ge­mein wird unter Elek­tro­sti­mu­la­ti­on die Rei­zung bzw. Anre­gung des mensch­li­chen Kör­pers, ins­be­son­de­re der Ner­ven, durch elek­tri­sche oder magne­ti­sche Fel­der ver­stan­den. Im Fol­gen­den wird auf die Aspek­te „Funk­ti­on“, „Wir­kung“ sowie „Indi­ka­tio­nen und Vor­aus­set­zun­gen“ für den Ein­satz von FES eingegangen.

Funk­ti­on

Auf­ga­be der FES ist die geziel­te und kon­trol­lier­te Rei­zung der moto­ri­schen Ner­ven und End­plat­ten, um Mus­kel­ak­ti­vi­tät zu indu­zie­ren und somit Bewe­gun­gen aus­zu­füh­ren oder zu unter­stüt­zen. Über Ober­flä­chen-Elek­tro­den wer­den durch elek­tri­sche Pul­se Akti­ons­po­ten­zia­le aus­ge­löst, die anschlie­ßend – ähn­lich den natür­li­chen Rei­zen – ner­val wei­ter­ge­lei­tet wer­den. Neben den Sti­mu­la­ti­ons­pa­ra­me­tern (Fre­quenz, Inten­si­tät und Puls­brei­te) hat auch die Posi­tio­nie­rung der Elek­tro­den gro­ßen Ein­fluss auf die Art und Anzahl der akti­vier­ten Mus­kel­fa­sern bzw. auf die Stär­ke der Muskelkontraktion.

Wir­kung

FES-Sys­te­me nut­zen im Gegen­satz zur Orthe­tik kör­per­ei­ge­ne Struk­tu­ren (man spricht von „inter­ner Res­sour­cen­nut­zung“). Die exter­ne Ansteue­rung wirkt sich güns­tig auf die bio­me­cha­ni­sche Belas­tungs­ket­te, den Mus­kel­zu­wachs und somit direkt auf das damit ver­bun­de­ne Spas­tik­ma­nage­ment aus. Die FES unter­liegt im Gegen­satz zu einem gelenk­be­zo­ge­nen Orthe­sen­sys­tem kei­nem fes­ten Auf­bau. Durch die Posi­tio­nie­rung der Elek­tro­den kann die FES indi­vi­du­ell und pati­en­ten­spe­zi­fisch ein­ge­setzt wer­den und schnell und ohne Auf­wand an ihrem Wir­kungs­ort ver­än­dert bzw. ange­passt werden.

Deut­li­che Nach­tei­le sind eine man­geln­de Selek­ti­vi­tät und Effek­ti­vi­tät der Rei­ze mit Ober­flä­chen-Elek­tro­den und die Fokus­sie­rung auf ledig­lich eine Mus­kel­grup­pe. Zudem kann die iso­me­tri­sche Kon­trak­ti­on (wie beim Ste­hen) nur zeit­lich ein­ge­schränkt unter­stützt und spon­ta­ne hohe Belas­tun­gen bzw. Kräf­te nur begrenzt kom­pen­siert bzw. abge­fan­gen werden.

Indi­ka­tio­nen und Vor­aus­set­zun­gen für die FES

Die FES kann prin­zi­pi­ell über­all dort ein­ge­setzt wer­den, wo beim Pati­en­ten eine mög­lichst phy­sio­lo­gi­sche Bewe­gung erzielt wer­den soll, die ihm selbst jedoch nicht oder nur noch ein­ge­schränkt mög­lich ist. Aus dem Funk­ti­ons­prin­zip der Elek­tro­sti­mu­la­ti­on erge­ben sich zwei wesent­li­che Vor­aus­set­zun­gen: Zum einen muss das unte­re Moto­neu­ron des zu sti­mu­lie­ren­den Mus­kels intakt sein (Sti­mu­la­ti­on über Elek­tro­den). Eine direk­te Sti­mu­la­ti­on der Mus­kel­zel­len kann meist nur als Unter­stüt­zung noch vor­han­de­ner Beweg­lich­keit genutzt wer­den, da sie weni­ger gezielt arbei­tet und dafür hohe Ener­gie auf­ge­bracht wer­den muss (die­se Vari­an­te wird daher im Fol­gen­den nicht wei­ter betrach­tet). Zum ande­ren muss der Pati­ent eine aus­rei­chend hohe Tole­ranz gegen­über der Sti­mu­la­ti­on zei­gen, da vor allem durch trans­ku­ta­ne Sti­mu­la­ti­on auch die Schmerz­re­zep­to­ren der Haut akti­viert wer­den, was als unan­ge­nehm bis schmerz­haft emp­fun­den wer­den kann 9 10. Somit erge­ben sich Ein­satz­mög­lich­kei­ten für die FES vor allem bei vie­len neu­ro­lo­gi­schen Erkran­kun­gen, bei denen zwar die Gene­rie­rung und/oder die Wei­ter­lei­tung von Rei­zen im zen­tra­len Ner­ven­sys­tem gestört sind, Mus­keln und Ner­ven des peri­phe­ren Ner­ven­sys­tems aber noch intakt sind. Aus die­sem Grund ist die Behand­lung von Pati­en­ten mit peri­phe­ren Läh­mun­gen auf­grund der man­geln­den Reiz­bar­keit der Ner­ven nur sel­ten erfolgreich.

Ver­sor­gungs­kon­zept „FES plus Orthetik“

Das Grund­kon­zept besteht aus der Kom­bi­na­ti­on von FES an geeig­ne­ten Mus­keln des Unter­schen­kels mit einer dyna­mi­schen Orthe­se; somit geht es dabei um die Nut­zung inter­ner Res­sour­cen bei gleich­zei­ti­ger exter­ner Sta­bi­li­sa­ti­on. Dabei soll die FES aus­drück­lich nicht zur rei­nen Fuß­he­bung („kein klas­si­sches Fuß­he­ber­sys­tem“) ein­ge­setzt wer­den. Bei­de Ver­sor­gungs­mög­lich­kei­ten erlau­ben sepa­riert von­ein­an­der jeweils eine Ver­sor­gung der unte­ren Extre­mi­tät bei spe­zi­fi­schen Patho­lo­gien. Ein natür­li­che­res Gang­bild ent­wi­ckelt sich, das Sturz­ri­si­ko wird redu­ziert, und Gang­si­cher­heit und Geh­stre­cke wer­den erhöht. Jedoch sto­ßen bei­de Ansät­ze gemäß ihren jewei­li­gen Mög­lich­kei­ten an unter­schied­li­che Gren­zen, wie im Fol­gen­den auf­ge­zeigt wird.

Nach­tei­le einer Orthe­se: — ledig­lich beding­te Nut­zung bzw. Akti­vie­rung kör­per­ei­ge­ner Struk­tu­ren — kein Ein­fluss auf Spas­ti­zi­tät, teil­wei­se sogar ver­schlech­ter­te Bedin­gun­gen — Anstieg von Kom­ple­xi­tät und Gewicht sowie Abnah­me der Gebrauchs­taug­lich­keit mit jedem umschlos­se­nen Gelenk

Nach­tei­le der FES: — kei­ne exter­ne Sta­bi­li­sa­ti­on und Füh­rung — kei­ne bzw. ein­ge­schränk­te Sicher­heit im Stand oder auf unebe­nen Flächen

Gemäß dem Ver­sor­gungs­kon­zept soll­te die Orthe­se somit min­des­tens ein Sys­tem­ge­lenk umfas­sen und kann dem­nach von einer Fuß­scha­le oder Knie­or­the­se bis hin zu einer dyna­mi­schen Knö­che­lor­the­se oder Knö­chel-Knie-Orthe­se rei­chen. Die Funk­ti­on der Orthe­se ist die Her­stel­lung einer opti­ma­len bio­me­cha­ni­schen Belas­tungs­si­tua­ti­on im Refe­renz­bein bzw. in der unte­ren Extre­mi­tät inklu­si­ve der bei­den fol­gen­den Kernaufgaben:

  1. Sta­bi­li­sa­ti­on und Füh­rung des Beins, sodass ein mög­lichst phy­sio­lo­gi­sches sowie effek­ti­ves Gehen ermög­licht wird;
  2. Her­stel­lung einer Gelenk­be­las­tungs­si­tua­ti­on, in der die Mus­keln phy­sio­lo­gisch zusam­men­ar­bei­ten kön­nen und in der der Band­ap­pa­rat gegen plötz­lich auf­tre­ten­de äuße­re Kräf­te schüt­zen kann. Zusätz­lich soll­te in Betracht gezo­gen wer­den, dass, um kom­pen­sa­to­ri­sche Bewe­gun­gen zu beein­flus­sen, auch die zeit­li­che Pro­gres­si­on mit ein­be­rech­net und dem Pati­en­ten zügig eine siche­re­re (phy­sio­lo­gi­sche­re) Alter­na­ti­ve ange­bo­ten wer­den sollte.

Die FES wird am Unter­schen­kel appli­ziert; die Plant­ar­flex­o­ren sowie die prä­ti­bia­le Mus­ku­la­tur wer­den unab­hän­gig von­ein­an­der ange­steu­ert. Ziel ist die geziel­te Mus­kel­sti­mu­la­ti­on wäh­rend des Gehens, um über die kör­per­ei­ge­nen Struk­tu­ren eine natür­li­che Sta­bi­li­sie­rung – bei­spiels­wei­se durch den Knö­chel­ge­lenk­schluss – zu bewir­ken und Bewe­gun­gen anzu­bah­nen, zu unter­stüt­zen oder sogar zu kon­trol­lie­ren, bei­spiels­wei­se eine kon­trol­lier­te Tibia-Vor­wärts­be­we­gung nach Last­über­nah­me zur Reduk­ti­on eines Genu recur­va­t­um. Zusätz­lich sorgt die FES für eine ver­stärk­te Wahr­neh­mung bzw. für ein erhöh­tes Feed­back aus den sti­mu­lier­ten Kör­per­re­gio­nen (Pro­prio­zep­ti­on). Außer­dem kann ein erhöh­ter Tonus bzw. eine Spas­tik durch den Effekt der Ant­ago­nis­ten­hem­mung regu­liert wer­den. Phy­sio­lo­gi­sche Effek­te durch die rei­ne Akti­vie­rung der Mus­ku­la­tur, bei­spiels­wei­se eine Ver­bes­se­rung der Durch­blu­tung oder eine Ver­hin­de­rung von Atro­phien, tre­ten zusätz­lich ein.

Fall­stu­di­en

Metho­dik

Für die nach­fol­gen­den drei Fall­bei­spie­le wur­den Pro­ban­den aus­ge­wählt, die ent­we­der bereits Orthe­sen­trä­ger waren oder mit einer Orthe­se (neu) ver­sorgt wer­den soll­ten. Die Ver­sor­gung der Pro­ban­den erfolgt durch eine indi­vi­du­ell ange­fer­tig­te Orthe­se mit oder ohne Gelenk, kom­bi­niert mit einem zwei­ka­na­li­gen FES-Sys­tem. Wenn auf ein mecha­ni­sches Gelenk (Knö­chel bzw. Knie) ver­zich­tet wur­de, wur­de mit­tels geeig­ne­ter Mate­ri­al­aus­wahl und Form­ge­bung auf eine gerich­te­te Füh­rung bzw. Sta­bi­li­sie­rung der unte­ren Extre­mi­tät sowie auf eine aus­rei­chen­de Dyna­mik im Sprung­ge­lenk geach­tet. Mit dem neu­en FES-Sys­tem kön­nen zwei Mus­keln oder Mus­kel­grup­pen unab­hän­gig von­ein­an­der sti­mu­liert wer­den. Im Nor­mal­fall sind dies der M. tri­ceps surae (M. gas­tro­c­ne­mi­us und M. soleus zur Knie­sta­bi­li­sie­rung und/oder zur kon­trol­lier­ten und beschleu­nig­ten Schwung­bein-Vor­wärts­be­we­gung) und der M. tibia­lis ante­rior zusam­men mit der Fibu­laris­lo­ge (Ali­gnment durch Gelenk­schluss und/oder Fußhebung).

Vor der Erstel­lung einer Kom­bi­na­ti­ons­ver­sor­gung wur­de jeweils die Com­pli­ance der Pati­en­ten bezüg­lich FES geprüft. Im soge­nann­ten Scree­ning-Kit des FES-Sys­tems sind alle Kom­po­nen­ten ent­hal­ten, um Pati­en­ten test­wei­se zu ver­sor­gen. Den Pro­ban­den wer­den Elek­tro­den auf die Wade zur Sti­mu­la­ti­on des M. tri­ceps surae (hin­te­re Elek­tro­den­an­la­ge) und/oder über dem Ner­vus tibia­lis im Bereich des Fibu­la­köpf­chens zur Sti­mu­la­ti­on des M. tibia­lis ante­rior und/ oder der Fibu­laris­lo­ge (vor­de­re Elek­tro­den­an­la­ge) geklebt.

Durch die Plat­zie­rung bzw. die Ver­schie­bung der Elek­tro­den (und der Sti­mu­la­ti­ons­pa­ra­me­ter, s. u.) kann der Fokus der zu rekru­tie­ren­den Mus­keln beein­flusst wer­den. Bei der hin­te­ren Anla­ge kann dem M. soleus gegen­über dem M. gas­tro­c­ne­mi­us mehr oder weni­ger Fokus bzw. Akti­vi­tät zuge­wie­sen wer­den, bei der vor­de­ren Anla­ge ist es die Fibu­laris­lo­ge gegen­über dem M. tibia­lis ante­rior. Die Elek­tro­den wer­den anschlie­ßend über ein Kabel mit der Sti­mu­la­ti­ons­ein­heit ver­bun­den. Über eine soge­nann­te Medi­cal-App kön­nen dann Test­pul­se an die Elek­tro­den gelei­tet wer­den (Sti­mu­la­ti­on). Im Sit­zen wer­den zunächst die Sti­mu­la­ti­ons­pa­ra­me­ter (Inten­si­tät, Fre­quenz und Puls­brei­te) ein­ge­stellt und somit die adäqua­ten Elek­tro­den­po­si­tio­nen ermit­telt. Aus­schluss­kri­te­ri­en beim Scree­ning sind eine zu gerin­ge Schmerz­to­le­ranz- bzw. eine zu hohe erfor­der­li­che Reiz­schwel­le sowie unzu­rei­chend bzw. unge­rich­tet aus­ge­lös­te Kontraktionen.

Anschlie­ßend wird die Para­me­ter­ein­stel­lung auf den Gang über­tra­gen. Die Pha­sen für die Sti­mu­la­ti­ons­zeit­räu­me kön­nen dabei frei defi­niert wer­den (in % vom Gang­zy­klus; 1 und 100 % = initia­ler Bodenkontakt).

Getes­te­te Versorgungsstrategien

Als Grund­la­ge für eine Ver­sor­gung mit FES wur­den drei ein­an­der nicht aus­schlie­ßen­de Stra­te­gien angewendet:

  • Stra­te­gie S1: Sti­mu­la­ti­on des M. tri­ceps surae mit Fokus auf den M. gas­tro­c­ne­mi­us in der anfäng­li­chen Stand­pha­se (Initi­al Cont­act – frü­he Mid Stance) mit dem Ziel der kon­trol­lier­ten Knief­le­xi­on über die Fasern des M. gastrocnemius;
  • Stra­te­gie S2: Sti­mu­la­ti­on des M. gas­tro­c­ne­mi­us beim Ein­lei­ten der Schwung­pha­se (Ter­mi­nal Stance – Initi­al Swing) zur Knief­le­xi­on und somit zur Gene­rie­rung der Schwungbeinvorwärtsbewegung;
  • Stra­te­gie S3: Sti­mu­la­ti­on des M. tibia­lis ante­rior und der Fibu­laris­lo­ge (Pero­neen) zur Tonus­re­gu­la­ti­on in der Schwung­pha­se und für den Gelenk­schluss des Sprung­ge­lenks vor dem initia­len Boden­kon­takt und wäh­rend der Stoßdämpfungsphase.

Ist die Kon­fi­gu­ra­ti­on abge­schlos­sen, wird sie doku­men­tiert (Para­me­ter­ein­stel­lun­gen und Timing); die Elek­tro­den­po­si­tio­nen wer­den samt Waden­form in einem 3D-Scan fest­ge­hal­ten und anschlie­ßend in eine indi­vi­du­ell gefer­tig­te Man­schet­te über­tra­gen. Durch das schlan­ke Man­schet­ten­de­sign kann die­se pro­blem­los unter Orthe­sen getra­gen wer­den (Abb. 1). Die Steck­ver­bin­dun­gen an den Elek­tro­den, sprich poten­zi­el­le Druck­stel­len, kön­nen im Gips­ab­druck berück­sich­tigt oder durch eine zusätz­li­che Pols­te­rung aus­ge­gli­chen wer­den. Die Sti­mu­la­ti­ons­ein­heit selbst wird eben­falls bei der Fer­ti­gung mit­be­rück­sich­tigt und direkt in die Orthe­se inte­griert oder nach­träg­lich fest auf der Scha­le bzw. in die Anla­ge mon­tiert (s. Abb. 1).

Ana­ly­se-Tools

Der Gang wird jeweils mit und ohne Orthe­se und mit akti­ver oder inak­ti­ver Sti­mu­la­ti­on auf­ge­zeich­net. Die Auf­zeich­nung erfolgt über Hoch­ge­schwin­dig­keits­ka­me­ras (iPho­nes mit 240 Hz, fixiert auf Sta­ti­ven) aus der Sagit­tal- und der Fron­tal­ebe­ne. Teil­wei­se wer­den opti­sche Mar­ker (Kenn­zeich­nung ana­to­mi­scher Fix­punk­te) zur Berech­nung des Knie­win­kels ver­wen­det. Die Gang­ana­ly­se erfolgt mit­tels Dart­fi­sh (Tool zur Video­b­e­trach­tung und Ein­zeich­nung rele­van­ter Zeit­punk­te und Win­kel), die Aus­wer­tung per Mat­lab (mathe­ma­ti­sches Tool zur teil­au­to­ma­ti­sier­ten Aus­wer­tung gro­ßer Datenmengen).

Um Rück­schlüs­se auf eine Ver­bes­se­rung der Akti­vi­tä­ten des täg­li­chen Lebens bzw. des funk­tio­na­len Gesund­heits­zu­stan­des nach ICF (Inter­na­tio­nal Clas­si­fi­ca­ti­on of Disa­bi­li­ty and Health) zie­hen zu kön­nen, wer­den zusätz­lich bis zu fünf Assess­ments durchgeführt:

  • 10-Meter-Geh­test („Kur­ze Ent­fer­nun­gen gehen“, ICF b4500)
  • Func­tion­al Gait Assess­ment („Hin­der­nis­se umge­hen“, ICF b4503; „Auf unter­schied­li­chen Ober­flä­chen gehen“, ICF b4502)
  • 6‑Mi­nu­ten-Geh­test („Lan­ge Ent­fer­nun­gen gehen“, ICF b4501; „Aus­dau­er von Mus­kel­grup­pen“, ICF b7401)
  • Objek­ti­ve Gang­ana­ly­se – Knie­win­kel in Stand­pha­sen (Abb. 2) und Sym­me­trie des Gan­ges („Sta­bi­li­tät eines Gelen­kes“, ICF b7150; „Funk­ti­on der Bewe­gungs­mus­ter“, ICF b770)
  • Sub­jek­ti­ve Gang­ana­ly­se – Gang­si­cher­heit, Bewe­gun­g­öko­no­mie und Reduk­ti­on von Kom­pen­sa­ti­ons­mus­tern („Sta­bi­li­tät eines Gelen­kes“, ICF b7150; „Funk­ti­on der Bewe­gungs­mus­ter“, ICF b770). Zudem füllt der Pro­band einen Com­pli­ance-Bogen mit Fra­gen zum Gang mit dem Sys­tem aus.

Ergeb­nis­se

Ergeb­nis­se zu Pro­ban­din 1

Die Pro­ban­din ist 34 Jah­re alt; sie hat im Jahr 2012 ein Schä­del-Hirn-Trau­ma erlit­ten; es besteht eine Hemi­pa­re­se rechts. Die wil­lent­li­che Ansteue­rung der Unter­schen­kel­mus­ku­la­tur ist schwach bis sehr schwach. Die Ansteue­rung der Ober­schen­kel­mus­ku­la­tur und der Hüf­te ist schwach bis gut. Die Gelen­ke sind wei­test­ge­hend frei beweg­lich, ledig­lich leich­te Ein­schrän­kun­gen in Sprung­ge­lenk und Hüf­te sind vor­han­den. Ohne Orthe­se ist das Gehen stark ein­ge­schränkt und nur mit einem Geh­stock mög­lich. Der initia­le Boden­kon­takt wird mit den Zehen her­ge­stellt (schlaf­fer Spitz­fuß); die Stand­pha­se des betrof­fe­nen Bei­nes wird über ein Genu recur­va­t­um gesi­chert, der Ober­kör­per ist nach vorn geneigt, und in der Schwung­pha­se wird die feh­len­de Mus­kel­ak­ti­vi­tät durch eine Zirk­um­duk­ti­on in der Hüf­te kom­pen­siert. Die Geh­ge­schwin­dig­keit ist deut­lich ver­lang­samt (0,25 m/s) und die Dop­pel­schritt­wei­te redu­ziert (0,7 m).

Zum Zeit­punkt des Scree­nings ist die Pro­ban­din bereits mit einer Unter­schen­kel­or­the­se (AFO) mit „NeuroSwing“-Gelenk und zusätz­lich einem Geh­stock ver­sorgt. Mit der AFO ist ihr Gang­bild deut­lich flüs­si­ger. Der nitia­le Kon­takt fin­det mit der Fer­se statt, die Geh­ge­schwin­dig­keit beträgt etwa 0,9 m/s bei einer Dop­pel­schritt­wei­te von 1,13 m. Die Geh­stre­cke der Pati­en­tin beträgt etwa 5 Kilo­me­ter. Die Haupt­en­er­gie der Vor­wärts­be­we­gung wird jedoch nach wie vor aus der Hüf­te gene­riert; die Siche­rung der unte­ren Extre­mi­tät in der Belas­tungs­pha­se erfolgt über eine deut­li­che Knieextension.

Die Pro­ban­din zeigt eine gute Com­pli­ance gegen­über der FES und wird mit einer vor­de­ren und hin­te­ren Elek­tro­den­an­la­ge ver­sorgt (Stra­te­gien S1, S2, S3). Die Schritt­ge­schwin­dig­keit (0,8 m/s) redu­ziert sich eben­so wie die Dop­pel­schritt­wei­te leicht (1,05 m). Das Genu recur­va­t­um redu­ziert sich in TST von ‑3,3° auf ‑0,9°; der Knie­win­kel im PSW erhöht sich von 21,7° auf 38° (Tab. 1). Die seit­li­che Schwung­wei­te (Zirk­um­duk­ti­on) redu­ziert sich sicht­bar; die Pro­ban­din ist von der Kom­bi­na­ti­ons­ver­sor­gung posi­tiv ange­tan und fühlt sich vor allem bei akti­vier­ter Sti­mu­la­ti­on siche­rer und kon­trol­lier­ter im Knie.

Ergeb­nis­se zu Pro­band 2

Der Pati­ent ist 7 Jah­re alt; seit sei­ner Geburt besteht eine Infan­ti­le Zere­bral­pa­re­se mit Hemi­pa­re­se rechts. Die wil­lent­li­che Ansteue­rung der Mus­ku­la­tur ist gut mög­lich. Die Beweg­lich­keit der Gelen­ke ist wei­test­ge­hend nor­mal, es gibt nur leich­te Ein­schrän­kun­gen im Fuß­ge­lenk. Ohne Orthe­se läuft der Pro­band mit schlaf­fem Spitz­fuß, sodass die Stol­per- bzw. Sturz­ge­fahr sehr hoch ist. Abb. 3 Pro­band 3 in TST mit Anga­be des Knie­win­kels: links mit Orthe­se und ohne Sti­mu­la­ti­on; rechts mit Orthe­se und akti­ver Sti­mu­la­ti­on. Der Pro­band ist zum Zeit­punkt des Scree­nings mit einer AFO mit „NeuroSwing“-Gelenk ver­sorgt, die wachs­tums­be­dingt aus­ge­tauscht wer­den muss. Sei­ne aktu­el­le Geh­stre­cke beträgt mehr als 3 Kilo­me­ter. Mit Orthe­se ist sein Gang­bild deut­lich flüs­si­ger, der initia­le Kon­takt erfolgt mit der Ferse.

Der Pro­band zeigt eine hohe Com­pli­ance bei Sti­mu­la­ti­on über die vor­de­re Elek­tro­den­la­ge. Die Anwen­dung an der Wade ist ihm jedoch unan­ge­nehm, sodass nur die vor­de­re Elek­tro­den­an­la­ge gewählt wird (Stra­te­gie S3).

Mit akti­ver Sti­mu­la­ti­on zeigt der Pro­band ein deut­lich run­de­res Gang­bild. Der initia­le Kon­takt erfolgt flüs­si­ger und gerich­te­ter, und die Knie­kon­trol­le bzw. die Vor­wärts­be­we­gung ist kon­trol­lier­ter. Der 10-Meter-Geh­test ergibt eine leicht redu­zier­te Schritt­wei­te und ‑geschwin­dig­keit: mit Sti­mu­la­ti­on 10,21 s anstatt 9,81 s sowie 9 anstatt 8,5 Schrit­te. Die Bewer­tung per Func­tion­al Gait Assess­ment steigt deut­lich von 16 auf 24 Punk­te, und der 6‑Mi­nu­ten-Geh­test zeigt eine deut­lich erhöh­te Geh­stre­cke an (405 m statt 330 m) – dies ent­spricht einer durch­schnitt­lich höhe­ren Geh­ge­schwin­dig­keit (auf län­ge­rer Stre­cke, im Unter­schied zum 10-Meter-Geh­test) als ohne Sti­mu­la­ti­on. Die objek­ti­ve Gang­ana­ly­se ergibt kei­ne signi­fi­kan­te Ände­rung des Knie­win­kels. Der Pro­band gibt im Com­pli­ance-Bogen an, ein flüs­si­ge­res Gang­bild zu haben und sich sowohl auf kur­zen als auch auf lan­gen Stre­cken schnel­ler und siche­rer fort­be­we­gen zu kön­nen. Eine erhöh­te Sicher­heit im Knie- bzw. Knö­chel­ge­lenk wird jedoch nicht wahrgenommen.

Ergeb­nis­se zu Pro­band 3

Der Pro­band ist 59 Jah­re alt; er lei­det an Mul­ti­pler Skle­ro­se mit Hemi­pa­re­se links. Die wil­lent­li­che Ansteue­rung der Mus­ku­la­tur ist bedingt mög­lich; hin­te­re Ober­schen­kel­mus­ku­la­tur, Wade und Fuß­he­ber sind schwach. Die Beweg­lich­keit der Gelen­ke ist voll­ends gege­ben. Das Gehen ohne Orthe­se ist nicht (sicher) mög­lich (1–2 Schritte).

Der Pro­band ist beim Scree­ning mit einer Knie-Knö­chel-Orthe­se (KAFO) und einem Geh­stock ver­sorgt. Sei­ne aktu­el­le Geh­stre­cke beträgt 20 m. Auf­grund des Gewich­tes, der Aus­ma­ße und des hohen Auf­wands beim Anzie­hen der KAFO wird die­se nicht bzw. nur sel­ten getra­gen und statt­des­sen eine „Toe-Off“-Orthese aus einer Vor­ver­sor­gung ver­wen­det. Der Gang ist lang­sam (0,35 m/s); bei Last­über­tra­gung auf das betrof­fe­ne Bein schlägt das Knie stark in die Hyper­ex­ten­si­on (-10°).

Der Pro­band wird mit einer vor­de­ren Elek­tro­den­an­la­ge für den Gelenk­schluss (Stra­te­gie S3) ver­sorgt, wodurch eine aus­rei­chen­de Sta­bi­li­tät und die Mög­lich­keit der Kon­trol­le gege­ben ist, sodass die Hyper­ex­ten­si­on deut­lich redu­ziert wird (Abb. 3). Die hin­te­re Elek­tro­den­an­la­ge (Stra­te­gie S1) bringt nicht den gewünsch­ten Erfolg, da der Pro­band sich damit unsi­che­rer fühlt. Bei der objek­ti­ven Gang­ana­ly­se zeigt sich ein im Knie leicht flek­tier­ter Gang (Tab. 2), wodurch die Hyper­ex­ten­si­on kom­plett ver­mie­den wird; die Geh­stre­cke erhöht sich auf über 100 m. Die Gang­ge­schwin­dig­keit erhöht sich eben­falls auf 0,45 m/s. Im Com­pli­ance-Bogen wird ein hoher posi­ti­ver Effekt bei Sta­bi­li­tät, Sym­me­trie, Geschwin­dig­keit und Sicher­heit angegeben.

Dis­kus­si­on der Ergebnisse

Die Fall­bei­spie­le beschrei­ben die exem­pla­ri­sche Ver­sor­gung drei­er Pro­ban­den, die zusätz­lich zu einer Orthe­se mit einem spe­zi­ell dafür vor­ge­se­he­nen FES-Pass­teil ver­sorgt wur­den. Die Pati­en­ten wur­den durch expe­ri­men­tel­les Aus­pro­bie­ren (Scree­ning) mit einer vor­de­ren und/oder hin­te­ren Elek­tro­den­an­la­ge ver­sorgt; dabei wur­den ver­schie­de­ne Stra­te­gien (S1, S2 und S3) ver­folgt. Die Begut­ach­tung fand min­des­tens bei der Über­ga­be bzw. Aus­lie­fe­rung und teil­wei­se nach 6 Wochen und nach 12 Wochen statt.

Das Gesamt­kon­zept „Orthe­se plus FES“ wur­de in allen drei Fäl­len von den Pro­ban­den als sehr posi­tiv wahr­ge­nom­men. Alle Pro­ban­den beschrie­ben eine deut­li­che Ver­bes­se­rung der Pro­prio­zep­ti­on. Die Ver­bes­se­run­gen der Gang­bil­der hin zu einem natür­li­che­ren Gang­bild sind mit der zusätz­li­chen Elek­tro­sti­mu­la­ti­on teil­wei­se deut­lich (s. die Pro­ban­den 1 und 3- ).

Im Ver­gleich zwi­schen soli­tä­rer Orthe­se und Kom­bi­na­ti­ons­ver­sor­gung konn­te in den rele­van­ten Fäl­len das Genu recur­va­t­um ein­ge­schränkt und teil­wei­se sogar ver­hin­dert wer­den. Die Pro­ban­den fühl­ten sich ins­be­son­de­re durch die Stra­te­gie S2 deut­lich beschleu­nigt; die Knief­le­xi­on wur­de erhöht und die Gangsym­me­trie ver­bes­sert. Durch Stra­te­gie S3 kann ein kon­trol­lier­ter initia­ler Boden­kon­takt und eine Tonus­re­gu­la­ti­on wahr­ge­nom­men wer­den. Die­se Aus­wir­kun­gen las­sen sich teil­wei­se in der Sagit­tal­ebe­ne beob­ach­ten (Pro­band 3), in ande­ren Fäl­len wird dies in den Assess­ments für Aus­dau­er und Funk­ti­on deut­lich (Pro­band 2). Im Fall von Pro­band 3 wird durch die Sti­mu­la­ti­on und das damit ver­bun­de­ne Feed­back die Kon­trol­le bei Last­über­nah­me wie­der selbst­stän­dig übernommen.

Fazit und Ausblick

Zusam­men­fas­send lässt sich fest­stel­len, dass das Kon­zept „FES in Kom­bi­na­ti­on mit Orthe­sen“ den Pro­ban­den einen deut­li­chen Mehr­wert beim Gehen und somit im All­tag bie­tet. Die Sti­mu­la­ti­on der Wade (M. tri­ceps surae) und die Mög­lich­keit der Kom­bi­na­ti­on waren bis­her tech­nisch nicht mög­lich. Durch die zwei­ka­na­li­ge Sti­mu­la­ti­on kom­men wei­te­re Vari­an­ten der Ver­sor­gung hin­zu; somit soll­te ins­be­son­de­re hier eine indi­vi­du­el­le Ver­sor­gung der Pati­en­ten erfol­gen. Wenn über die FES Ein­fluss auf das Knie genom­men wird, soll­te eine aus­rei­chen­de Sta­bi­li­tät – zum Bei­spiel durch eine ven­tra­le Scha­le – gewähr­leis­tet sein. Wie gezeigt wur­de, lässt sich die Erpro­bung der FES expe­ri­men­tell ein­fach gestal­ten; die Effek­te las­sen sich mit Hil­fe ein­fa­cher Metho­den (Video­ana­ly­se, Assess­ments) dar­stel­len und dokumentieren.

Die vor­ge­stell­ten Stra­te­gien las­sen sich nach Ansicht der Autoren durch­aus auf wei­te­re Pati­en­ten der Indi­ka­ti­ons­grup­pen mit zen­tral­ner­vö­ser Stö­rung über­tra­gen. Für Orthe­sen gilt wie für FES-Sys­te­me und somit auch für deren Kom­bi­na­ti­on, dass eine The­ra­pie bzw. eine Gang­schu­le die ers­ten Wochen der Ver­sor­gung beglei­ten soll­te, um den Erfolg der Hilfs­mit­tel zu maxi­mie­ren und von vorn­her­ein gegen kom­pen­sa­to­ri­sche Mus­ter vorzugehen.

Die getes­te­ten Ver­sor­gun­gen mach­ten deut­lich, dass ein orthe­ti­scher Effekt zum Aus­gleich der Behin­de­rung sich sofort ein­stellt; zudem ist zu erwar­ten, dass sich durch die wie­der­hol­te und geziel­te Ansteue­rung der Mus­ku­la­tur zusätz­lich ein the­ra­peu­ti­scher Effekt ein­stellt. Die the­ra­peu­ti­schen Aus­wir­kun­gen durch das repe­ti­ti­ve, gerich­te­te und kon­trol­lier­te Ansteu­ern müs­sen jedoch in grö­ße­ren und kon­trol­lier­ten Stu­di­en bestä­tigt werden.

Für die Autoren 
Aljoscha Diercks, M. Sc.
Geschäfts­füh­ren­der Gesellschafter
Evo­mo­ti­on GmbH
Les­sing­stra­ße 1
21335 Lüne­burg
diercks@evomotion.de

Begut­ach­te­ter Beitrag/reviewed paper

Zita­ti­on
Diercks A, Bade N. Funk­tio­nel­le Elek­tro­sti­mu­la­ti­on (FES) in Kom­bi­na­ti­on mit Orthe­sen. Ortho­pä­die Tech­nik, 2020; 71 (2): 22–29

Knie­win­kel (°)ICLRMSTTSTPSW
phy­sio­lo­gisch51554060
Orthe­se3,2-3,8-3,3-3,121,7
Orthe­se + FES6-1,4-0,94,338
Tab. 1 Pro­ban­din 1: Knie­win­kel in der Stand­pha­se (Gang­pha­sen nach Per­ry J, Burn­field JM. Gait Ana­ly­sis – Nor­mal and Patho­lo­gi­cal Func­tion. 2nd ed. Tho­ro­fa­re, NJ: Slack, 2010).
Knie­win­kel (°)ICLRMSTTSTPSW
phy­sio­lo­gisch51554060
Orthe­se12,51-9,1-9,923,6
Orthe­se + FES15,924,423,118,531,5
Tab. 2 Pro­band 3: Knie­win­kel in der Stand­pha­se (Gang­pha­sen nach Per­ry J, Burn­field JM. Gait Ana­ly­sis – Nor­mal and Patho­lo­gi­cal Func­tion. 2nd ed. Tho­ro­fa­re, NJ: Slack, 2010).
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