Einleitung
Die Versorgung der oberen Extremität des menschlichen Körpers steht in der Orthopädie-Technik bislang nur bedingt im Fokus und untersteht lediglich mittelmäßigem Innovationseinfluss. Dies hat verschiedene Gründe: Zum einen werden von Herstellern und Lieferanten etliche vorkonfektionierte Hilfsmittel in Bandagen- und Orthesenform angeboten, zum anderen fehlen häufig die entsprechenden Fallzahlen für den Techniker, um sich intensiv mit den verschiedenen Gelenken der oberen Extremität zu beschäftigen. Ein weiterer Aspekt ist die Spezialisierung der Fachärzte und die dadurch bedingte Aufteilung in verschiedene regionale Schwerpunkte, sodass Schulter, Ellenbogen und Hand oftmals von unterschiedlichen Spezialisten behandelt werden. Große orthopädische und handchirurgische Zentren sind nicht überall vorhanden, wodurch sich die Fallzahlen nochmals reduzieren. Auch fehlen geeignete Klassifikationen der Verletzungen und entsprechend klare Richtlinien zur Therapie und zur technischen Versorgung. Es bestehen keine Standards, welche Verletzungen konservativ behandelt gut ausheilen, welche operativ stabilisiert und korrigiert werden müssen und welche in eine chronische Instabilität münden können. Traumatische Verletzungen stehen auch oft in Zusammenhang mit Frakturen; hier steht allgemein die Bewegungslimitierung zur Schmerzreduktion im Vordergrund (Abb. 1).
Orthesen werden auch heute noch häufig lediglich als Anschlussversorgung an eine Gipsruhigstellung betrachtet, wobei seit Jahren erkannt wurde, dass mit der orthetischen Versorgung eine wesentlich bessere Beübung durch den Physiotherapeuten und die schnellere Freigabe einer eventuellen Gelenklimitierung gewährleistet ist.
Frakturen traumatischen Ursprungs werden häufig beim Sport erlitten. Hier steht im Leistungssport die Versorgung mit einer individuell nach Gipsabdruck gefertigten Kunststoff- oder Carbon-Orthese zur temporären Stabilisierung 1 und Ruhigstellung im Vordergrund. Sollten Frakturen im Bereich der Hand auftreten, gilt es auch weiterhin die benachbarten Gelenke ruhigzustellen, um im Zeitraum von 5 bis 6 Wochen ein gutes Behandlungsergebnis erzielen zu können (Abb. 2).
Meist luxiert ein Gelenk beim gesunden Menschen infolge eines Sturzes oder einer Sportverletzung. Häufigste Ursache der Ellembogenluxation ist der Sturz auf den ausgestreckten Arm 2, der dabei unter axialer Lasteinleitung flektiert oder hyperextendiert; hierbei kann es ebenfalls zur Luxationsfraktur bzw. zu ligamentären Verletzungen kommen. Die plötzliche Krafteinwirkung wird auf das Gelenk übertragen, und die Gelenkflächen verschieben sich.
Bei der Schulterluxation sind häufig muskuläre oder ligamentäre Zusatzverletzungen sowie Reluxationen oder schwere Rasanztraumen von großer Bedeutung für die technische Versorgung. Kommt es an der oberen Extremität zu Ausfällen durch Plexusparesen, sind unter Umständen Schulter, Ellenbogen und Handgelenk orthetisch zu versorgen, was einen hohen fachlichen Anspruch an die Technik stellt.
Methodik
In den letzten Jahren konnten umfangreiche Erfahrungen – vor allem bei komplexen Rasanztraumen und Sportverletzungen – gesammelt werden, die technisch jedoch indikationsabhängig unterschiedlich zu versorgen sind. Versorgungen bei Finger‑, Handgelenkund Unterarmfrakturen werden in der Regel auch bei Sportlern in einer Funktionsstellung und unter Umständen auch in Abstimmung auf ein Sportgerät durchgeführt (Abb. 3).
Ansonsten ist eine axial ausgerichtete Fixierung in der Intrinsic-plus-Stellung das Mittel der Wahl 3. Dabei steht das Handgelenk in 20 bis 30° Streckung, die Fingergrundgelenke in 70 bis 80° Beugung, die Finger‑, Mittel- und Endgelenke in 0 bis 10° Beugung. Der Daumen wird in mittlerer Oppositionsstellung gehalten. In dieser Stellung sind die Kollateralbänder straff und können nicht schrumpfen; eine Beugekontraktur der proximalen Interphalangeal-Gelenke (PIP-Gelenke) wird dabei verhindert.
Verletzungen am Ellenbogen können akut traumatisch oder chronisch rezidivierend sein 4 und bieten daher ein vielseitiges Krankheitsbild. Akute Verletzungen betreffen Spitzenathleten ebenso wie Hobbysportler; Überlastungserscheinungen stehen in einem engen Zusammenhang mit der spezifischen Beanspruchung des Ellenbogengelenkes. Kommt es zur Penetration, ist eine Reizung des Strecksehnenansatzes am radialen Epicondylus eine Folge, die zu lokalen Beschwerden führen kann. Mittels einer Epicondylitisspange können hier häufig Beschwerden effektiv behandelt werden (Abb. 4).
Akute Verletzungen am Ellenbogen in Form von Frakturen oder Ellenbogenluxationen können mit ossären und/oder ligamentären Instabilitäten verbunden sein. Ein indirekter Kraftfluss infolge eines Sturzes auf den ausgestreckten Arm geht mit Radiuskopffrakturen oder Ellenbogenluxationen einher, wohingegen das direkte Anpralltrauma typisch für Olekranonfrakturen 5 ist (Abb. 5).
Bei der Ellenbogenluxation wird generell entschieden, ob es sich bei einer technischen Versorgung um eine einseitige Gelenkführung oder eine bilateral ausgeführte Konstruktion handelt. Diese sollte möglichst wenig auftragen und eng am Körper anliegen, jedoch darf die Flexion des Ellenbogens nicht beeinträchtigt werden. Eine Limitierung der Gelenkbewegung im Sinne eines Extensions-/Flexionsstopps ist sinnvoll und wird vom behandelnden Arzt vorgegeben (Abb. 6a u. b).
Sollte eine zusätzliche Fraktur vorliegen, kann mit einem zweiten von frontal aufliegenden Schalenanteil eine zusätzliche Stabilisierung in der Art eines Fracture-Brace durch die zirkuläre Fassung erreicht werden. Um ausreichende Stabilität zu gewährleisten, sollte die Unterarm- wie die Oberarmschale ca. zwei Drittel des jeweiligen Armanteils fassen; die Verschlusstechnik der Orthese wird praktischerweise über ausreichend breite Klettverschlüsse gewährleistet, welche die Ellenbogenorthese rutschfrei und effektiv am Arm fixieren. Diese Konstruktion kann auch bei einer Pseudarthrose eingesetzt werden (Abb. 7).
Die größte Schwierigkeit besteht in der Festlegung des mechanischen Gelenkdrehpunktes – hier ist es sinnvoll, beim Gipsabdruck auf eine exakte Anzeichnung der Epicondylen zu achten, um anschließend bei der Festlegung des Drehpunktes eine gute Orientierung zu haben.
Bei der orthetischen Versorgung der Schulter muss mit dem behandelnden Arzt die Art und Weise der Stabilisierung und die zulässige Gelenkbewegung im Vorfeld abgesprochen werden. Informationen über die Verletzungsart wie Rotatorenmanschetten-Ruptur, AC-Gelenksprengung, Bankart-Läsion, SLAP-Läsion oder eine posteriore Labrumverletzung sind Informationen, die schon vor einer Gipsabnahme geklärt sein sollten. Zusätzlich ist es wichtig, den Einsatzzweck mit dem Arzt zu klären und mit dem Patienten abzustimmen, da die Konstruktion darauf abgestimmt werden sollte.
Nach dem Gipsabdruck in Funktionsstellung, bei dem alle knöchernen Strukturen gut angezeichnet sein müssen, kann eine Kohlefaserschale hergestellt werden, die Brust, Schulter und Schulterblatt umschließt und über ein Multiaxialgelenk mit einer Oberarmschale verbunden ist. Bei der Anprobe ist es möglich, über straffe oder elastische Zugzügel, die in Umlenkschlaufen geführt werden, das Bewegungsausmaß im Sinne der Außen-/Innenrotation sowie der Abduktion statisch oder dynamisch zu limitieren. Die Schulterschale wird über einen Y‑Zügel auf der Oberkörpergegenseite gut verankert; ein Verschluss unter der Axilla der betroffenen Seite fixiert die Orthese an der Schulter auch bei Bewegung. Im Rahmen der Anprobe werden eine körperformschlüssige Ausarbeitung im Bereich der Clavicula und der Scapula kontrolliert und Funktionstests bei Sportlern evtl. mit dem Sportgerät durchgeführt (Abb. 8).
Die häufigste Ursache einer traumatischen Armplexuslähmung stellt die Traktion des Nervengeflechts nach Verkehrsunfällen, häufig Motorradunfällen, dar. Die Art der Nervenverletzungen ist wegen der unterschiedlichen Verletzungsmechanismen und Läsionsflächen groß – sie reicht von Dehnungen und Nervenwurzelausrissen aus dem Rückenmark über Nervenwurzelabrisse in unterschiedlicher Anzahl bis hin zu Läsionen des peripheren Armplexusgeflechtes 6. Oftmals lässt sich direkt nach dem Trauma nicht eindeutig bestimmen, wie stark die Verletzung und die damit verbundenen Verletzungsausfälle sind. Es besteht noch nach Wochen und Monaten die Möglichkeit, dass sich die Nervenbahnen spontan erholen. Das ist vor allem nach Dehnungen und Zerrungen der Nerven möglich. Die Höhe der Schädigungen oberhalb oder unterhalb des Schlüsselbeines ist entscheidend für das Verletzungsmuster.
Sollte ein Patient mit Plexusparese zur Versorgung anstehen, muss genau definiert werden, welche Restfunktion im Bereich der Schulter, des Bizeps/Trizeps, des Ellenbogengelenks, des Unterarms bzw. der Hand und Finger vorliegt. Jegliche Restfunktion kann eine Bewegung unterstützen und sollte genau diagnostiziert werden. Zum Teil können Muskeltransferoperationen Funktionsverbesserungen erzeugen.
Die häufig schmerzhafte Subluxation des Humeruskopfes sollte bei der Konstruktion Berücksichtigung finden und möglichst vermieden werden. Die unterschiedlichen Lähmungsmuster führen zu unterschiedlichen Muskelkraftgraden und Bewegungsausmaßen und sind häufig für die Atrophie des Musculus deltoideus und des Musculus supraspinatus verantwortlich.
Da es sich bei der Klientel der Armplexusläsionspatienten häufig um Motorradfahrer, also eine aktive Patientengruppe handelt, ist der Wunsch nach Aufnahme von Aktivitäten nach der Verletzung häufig stark gegeben. Bei umfangreichen traumatischen Plexusläsionen ist die Einbeziehung der Schulter, des Oberarms, des Unterarms und der Hand in der Orthese angezeigt.
Immer wieder wird von den Betroffenen der Wunsch des Fahrradfahrens angegeben. Da jedoch bei einer komplexen Läsion die vorhandene Trizeps- und Bizepsfunktion schwach oder nicht vorhanden ist, wurde über eine mechanische Ellenbogenstabilisierung zur effektiven Lenkung, aber vor allem auch zum Bremsen des Fahrrads nachgedacht. So wurden nach Berechnung der Anlenkpunkte eines speziellen hydraulischen Stoßdämpfers zur Funktionsunterstützung des Ellenbogens Adapter in die Kohlefaserkonstruktion eingegossen, um den einstellbaren Dämpfer fixieren zu können (Abb. 9). Dieser muss auf das Gewicht und die Aktivitäten des Patienten ausgelegt sein und sollte möglichst mit der nicht geschädigten Hand der Körpergegenseite manuell schnell justierbar sein. Liegt keine Handfunktion vor, werden Hand und Langfinger in einer Art Lagerungsschale fixiert und über einen speziellen Kunststoffadapter am Lenker des Fahrrads adaptiert. Dieser kann sich im Sturzfall lösen. Nach umfangreichen Tests mit hydraulischen und pneumatischen Dämpfersystemen scheint der Einbau von Hydraulikdämpfern das Mittel der Wahl zu sein.
Mittlerweile werden auch bei Plexusparesen Orthesensysteme beim Motorradfahren eingesetzt. Hier sind die Beschleunigungs- und Verzögerungskräfte jedoch wesentlich höher, und das Dämpfungssystem muss dementsprechend größer dimensioniert und besser angepasst sein. Zum Teil werden auch zwei unterschiedlich wirkende Dämpfersysteme montiert, die sich funktionell ergänzen (Abb. 10a–10c).
Ergebnisse
Durch die intensive Beschäftigung mit Versorgungen von Patienten mit Verletzung der oberen Extremität konnten hilfreiche Erfahrungen gesammelt werden. Diese ermöglichen bei umfangreichen Plexusschädigungen die Anfertigung komplexer Orthesen für den ganzen Arm unter Einbeziehung der Hand. Dies kann für den Benutzer bei Umschulungsmaßnahmen im Beruf, im Hobby, aber auch im Sport sehr hilfreich sein. Die Erwartungshaltung und die Ansprüche der überwiegend aktiven Patienten steigen jedoch durch Funktionsverbesserung stark an und wecken neue Aktivitätspotenziale.
Schlussfolgerung
Die orthetische Versorgung der oberen Extremität durch sehr dünne und leichte Konstruktionen ist sinnvoll. Orthesen sollten vor allem bei der Bewegung einen guten ortständigen Sitz mit optimaler Funktionalität vereinen. Bei Plexusverletzungen müssen geeignete hydraulische oder pneumatische einstellbare Dämpfersysteme aus der Technik zur Ellenbogenfunktionssteuerung gefunden werden, die eine möglichst individuelle Justierung für den betroffenen Benutzer ermöglichen. Jedoch scheint gerade diese komplexe Orthesenversorgung einen deutlichen Nutzen für die Betroffenen zu haben, da sie die Aktivität und Leistungsfähigkeit des bisher fast unbrauchbaren Arms deutlich steigert und verbessert. Da die Paresen typischerweise von Motorradfahrern bei Stürzen gegen harte Widerstände (z. B. Leitplanke, Baum, Kfz) erlitten werden, handelt es sich um eine aktive Patientenklientel. Diese nimmt durch ihr technisches Interesse jegliche Art an funktioneller Verbesserung gerne auf, um sie in Beruf und Freizeit durch die Orthesenversorgung optimal einsetzen zu können.
Der Autor:
Hartmut Semsch, OMM Ortema GmbH
Kurt-Lindemann-Weg 10
71706 Markgröningen
Hartmut.Semsch@ortema.de
Begutachteter Beitrag/reviewed paper
Semsch H. Versorgungsmöglichkeiten der oberen Extremität aus Sicht des Orthopädie-Technikers. Orthopädie Technik, 2016; 67 (1): 22–25
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