OT: Als Veranstalter der OTWorld haben Sie frühzeitig entschieden, dass es auch während einer Pandemie ein Event geben muss, auf dem sich die Fachleute austauschen, Hersteller ihre Neuheiten darstellen und Fortbildungen angeboten werden können. Was hat Sie dazu gebracht an der Veranstaltung festzuhalten?
Alf Reuter: Unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter versorgen vom Tag eins der Pandemie an. Das bedeutet, dass sie nicht zu den Berufsgruppen zählen, die sagen können: Ich helfe, die Verbreitung des Virus einzudämmen, indem ich zu Hause bleibe. Wir müssen raus, wir müssen versorgen. Daher haben die einzelnen Bundesländer unser Fach auch klar als systemrelevant eingestuft. Die Sanitätshäuser und orthopädietechnischen Werkstätten blieben immer geöffnet. Gleichzeitig arbeiten wir derzeit unter ganz besonderen Bedingungen, eine solche Situation hat es seit der Spanischen Grippe vor rund 100 Jahren nicht gegeben. Daher stellen sich jedem von uns – und allen an der Hilfsmittelversorgung Beteiligten – jeden Tag neue Fragen. Diese müssen geklärt und in pragmatische Lösungen überführt werden. Manche dieser Lösungen sind Interimslösungen – andere könnten unsere Versorgung nachhaltig verändern. Wir haben also gerade jetzt viel Regelungsbedarf und ein großes Bedürfnis nach fachlichem und interdisziplinärem Austausch. Wir sind unserem Partner, der Leipziger Messe, dankbar, dass sie ebenfalls sofort die Ärmel hochgekrempelt hat und Formate konzipiert, die sich agil an verschiedene Pandemie-Szenarien anpassen lassen.
Martin Buhl-Wagner: Zu den Schwerpunkten der Leipziger Messe gehören Gesundheitsmessen. Wir wissen um die Verantwortung, die das Gesundheitswesen gerade in Zeiten einer Pandemie trägt. Dazu zählt auch, den nötigen internationalen Austausch aufrechtzuerhalten, der sich in der Regel auf Kongressen und Messen abspielt. Die Herausforderung für uns besteht darin, in einer sich täglich verändernden Lage ein vollkommen flexibles Format zu entwickeln. Wir haben dafür ein spezielles Team, das sich agil und mit Methoden des „Design thinking“ um die Entwicklung disruptiver Formate kümmert. Auf diese Erfahrung konnten wir zurückgreifen – und in Abstimmung mit unseren Partnern das neue Format OTWorld.connect entwickeln. Der Charme dabei: zwischen vollständiger Digitalisierung und vollwertiger Präsenzveranstaltung ist damit alles möglich.
OT: Welche Schritte und Prozesse prägen eine solche digitale Transformation?
Buhl-Wagner: Bei einem funktionierenden Produkt kann man sich ganz der Verbesserung der Eigenschaften und der Prozesse widmen. Der Fokus des Messeteams ist auf die Perfektionierung des bereits erfolgreichen Formats gerichtet – er liegt auf der Fehlervermeidung. Beim Design Thinking geht es genau um das Gegenteil. Hier sind Innovation und Mut zu Fehlern gefragt. Neben einer komplett neu gedachten Hybridvariante der OTWorld.connect gab es parallel Vorbereitungen für eine vollumfängliche „OnSite” – also Vor-Ort-Version –, da es schon im März die Diskussion unter Virologen gab, die Pandemie könne noch vor dem Sommer „über den Berg“ sein. Wir haben also frühzeitig mit den Behörden ein Hygiene-Konzept für unseren Messeplatz entwickelt. Als Ergebnis konnten wir bundesweit als erster Messe- und Kongressstandort ein vollumfänglich behördlich genehmigtes Hygiene-Konzept anbieten. Im September starten bei uns die ersten Messen. Da für dieselben Virologen ebenfalls das Szenario einer zweiten Welle bzw. einer nicht zu stoppenden Ausbreitung des Virus denkbar war, wussten wir: Wir brauchen außerdem eine rein digitale Variante im Portfolio. Zwischen beiden Versionen mussten wir voll anpassungsfähig bleiben. Dies ist die Basis unseres hybriden Konzepts.
OT: Wie lassen sich die Module für digitale Produktpräsentationen vorstellen?
Buhl-Wagner: Natürlich lässt sich ein fertiger Messestand, den es physisch bereits gibt, in ein 3D-Modell verwandeln, mit digital hinterlegten Videos, ePapers etc. Das geht, wird aber nur mäßig angenommen. Gemessen am realen Messebesuch bleibt ein solches Modell ein Kompromiss. Daher sind wir mit unserer Tochtergesellschaft Fairnet einen anderen Weg gegangen: Wir haben digitale Messen grundsätzlich anders gedacht und ein Konzept entwickelt, das sich auf ein ganz eigenes Messeerlebnis konzentriert, das die Besucherinnen und Besucher nur digital erleben können.
OT: Sie hatten wenig Zeit, um das Modell zu entwickeln. Wie ist es Ihnen gelungen, so schnell zu handeln?
Buhl-Wagner: Es gehört zu den Besonderheiten von Design Thinking, dass bereits aus den ersten Ideen ein (unfertiger) Pilot entsteht. Schon damit tritt man an den Kunden heran, um gemeinsam die nächsten Schritte zu definieren. Um etwas wirklich Neues, mitunter Disruptives zu schaffen, muss man Perfektionismus über Bord werfen. Natürlich ist das eine Herausforderung für ein Team, das es gewohnt ist, alles noch besser zu machen, das perfektionsgetrieben ist. Ich bin wahnsinnig stolz, dass unser Team diese Herausforderung angenommen hat. Ich bin ebenso dankbar für das Vertrauen, den Mut und die Mühen unserer Kunden der OTWorld, die diesen Weg gemeinsam mit uns gehen – und gemeinsam mit uns Neues entwickeln. Gemeinsam gehen wir in die digitale Transformation, auch mit Rückschlägen. Doch aus Fehlern lernen wir. Der Lohn: Es entstehen Formate, die die Zukunft nachhaltig verändern können.
Reuter: Auch für uns war das kein einfacher Weg. Am einfachsten wäre wahrscheinlich gewesen: Alles absagen und 2022 mit einer glänzenden OTWorld wieder an den Start gehen. Ich teile jedoch das Motto von Einstein: „Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind“. Daher nach Corona einfach so weitermachen und die Lage aussitzen, als wäre nichts gewesen – das war und ist für mich keine Option. Im Verband, dessen Führung ich quasi mit Corona übernommen habe, haben wir sofort die Gremien befragt. Wir waren uns einig, z. B. im Lenkungsausschuss, in dem das Präsidium und die gewählten Obermeister der Länder regelmäßig zusammenkommen, dass wir ein Format anbieten wollen. Wir wollen auch ein Zeichen dafür setzen, dass wir es uns als Leistungserbringer gar nicht erlauben können, uns während Corona zurückzulehnen. Im Gegenteil: Von Beginn an ist deutlich geworden, dass etwas in Deutschland mächtig schiefläuft. Die Probleme unseres Fachs werden zum Teil gar nicht gesehen, Patientinnen und Patienten leiden unter den Fehlentscheidungen von Krankenkassen und Politik. Dabei ist der Austausch ist wichtiger denn je. Wir haben also zügig unser Programmkomitee und den Ausstellerbeirat der OTWorld zusammengerufen. Ich bin froh, dass alle an einem Strang gezogen haben. Der Kongress wurde innerhalb von vier Monaten komplett neu geplant – eine Aufgabe, für die wir sonst 15 Monate benötigen. Dafür möchte ich mich bei den Gremien und insbesondere den Kongresspräsidenten sowie dem Programmkomitee der OTWorld bedanken.
OT: Wie geht es jetzt weiter mit der OTWorld.connect?
Reuter: Wir beobachten das Ansteigen der Fallzahlen mit großer Sorge und nehmen die Bedrohung durch eine zweite Welle sehr ernst. Zwar haben wir bereits mit Politik und Krankenkassen sichergestellt, dass das Chaos der ersten Wochen nicht wieder entflammt – dennoch müssen wir die Lage als sehr gefährlich einstufen. Daher haben wir gemeinsam mit unseren Partnern und den Gremien der OTWorld nun entschieden, die Freiheit zu nutzen, die uns die OTWorld.connect auf digitaler Ebene bietet. Eine Präsenzveranstaltung vor Ort widerspricht der pandemischen Lage. Die OTWorld.connect wird also ausschließlich in der geplanten digitalen Variante stattfinden. Wir werden uns zusätzlich in den nächsten zwei Monaten darauf fokussieren, die Fragen des Fachs in die Diskussion einzubringen. Ich freue mich darauf, dass wir am 11.9. einen Online-Round-Table durchführen, in welchem wir den Stand des Programms sowie die fachlichen und branchenpolitischen Fragestellungen, die uns beschäftigen, vorstellen.
Buhl-Wagner: Neben der Entscheidung, die Veranstaltung ausschließlich digital anzubieten, haben wir zugleich die Gelegenheit genutzt, verschiedene Piloten zu integrieren. Das hilft uns und der Branche, zukunftsweisende Formate zu testen und weiterzuentwickeln. Nicht zuletzt bedeutet digitale Transformation, jede Veranstaltung als Versuchslabor für Innovationen zu verstehen. Mit der OTWorld.connect stellen wir neue Weichen – gemeinsam.
Die Fragen stellte Cathrin Günzel.
Zu den Details des neuen Formats werden die Organisatoren am 11. September um 13 Uhr in einem Online-Round-Table umfassend informieren.
BIV-OT-Präsident Alf Reuter und Messe-Geschäftsführer Martin Buhl-Wagner stellen das digitale Konzept der OTWorld.connect vor. Kongresspräsident Michael Schäfer wird im Rahmen der Veranstaltung auf die Höhepunkte des Kongressprogramms eingehen und Antje Voigtmann, Projektdirektorin der OTWorld, erläutert die Besonderheiten der „Connect-Edition“ für Aussteller und Teilnehmer. Die Moderation der Veranstaltung übernimmt Kirsten Abel, Leiterin der Verbandskommunikation im BIV-OT.
Hier können sich Interessierte im Vorfeld für eine Teilnahme registrieren.
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