Näher dran an der Politik

Um seine politische Schlagkraft zu erhöhen, hat das Leistungserbringerbündnis „Wir versorgen Deutschland“ (WvD) am 7. September 2022 ein Hauptstadtbüro eröffnet. Mit Kirsten Abel und Patrick Grunau, den beiden Generalsekräter:innen des WvD, sprach die OT-Redaktion darüber, worin sie die Hauptaufgabe einer ständigen Vertretung in Berlin sehen und was das den Sanitätshäusern und orthopädietechnischen Betrieben nutzt.

OT: Frau Abel, Herr Gru­n­au, das Haupt­stadt­bü­ro von „Wir ver­sor­gen Deutsch­land“ hat im Sep­tem­ber 2022 sei­ne Arbeit auf­ge­nom­men – pünkt­lich zum Ende der par­la­men­ta­ri­schen Som­mer­pau­se. Was bringt es den Sani­täts­häu­sern und  ortho­pä­die­tech­ni­schen Betrie­ben, dass Ihr Ver­ein nun in  Ber­lin ver­tre­ten ist?

Kirs­ten Abel: Nun, Gesund­heits­po­li­tik wird nicht in Dort­mund oder Ham­burg gemacht, son­dern in Ber­lin. Zwar haben durch Coro­na vie­le par­la­men­ta­ri­sche Pro­zes­se zwangs­läu­fig in Video­kon­fe­ren­zen statt­ge­fun­den – doch die demo­kra­ti­sche Mei­nungs­bil­dung lebt nach wie vor ganz ent­schei­dend vom per­sön­li­chen Aus­tausch, von Streit und Kom­pro­miss. Und hier wol­len wir uns für unse­re Bran­che künf­tig deut­lich mehr ein­brin­gen. Daher ist die per­sön­li­che Prä­senz im Zen­trum des Gesche­hens wich­tig. Hin­zu kommt, dass wir uns für ein gemein­sa­mes Büro mit dem Bun­des­in­nungs­ver­band für Orthopädie-Technik
(BIV-OT), der Lan­des­in­nung Ber­lin-Bran­den­burg für Ortho­pä­die-Tech­nik sowie dem Fach­ver­band ent­schie­den haben. Damit bün­deln wir unse­re Kräf­te direkt vor Ort.

„Wei­ter so“ bringt Gesund­heits­we­sen an Grenzen

OT: Wel­che The­men ste­hen bei Ihnen aktu­ell ganz oben auf der poli­ti­schen Agen­da, wel­che poli­ti­schen Kämp­fe möch­ten Sie zuerst ausfechten?

Patrick Gru­n­au: Ins­ge­samt haben wir eine sehr schwie­ri­ge Lage. Ein „immer wei­ter so“ wird das deut­sche Gesund­heits­we­sen an sei­ne Gren­zen brin­gen. Das GKV-Finanz­sta­bi­li­sie­rungs­ge­setz zum Bei­spiel hat einen Hori­zont bis Ende 2023. Was danach kommt, ist für uns offen. Bun­des­ge­sund­heits­mi­nis­ter Prof. Dr. Karl Lau­ter­bach hat Leis­tungs­kür­zun­gen im Gesund­heits­we­sen sei­tens sei­nes Minis­te­ri­ums deut­lich aus­ge­schlos­sen. Das begrü­ßen wir grund­sätz­lich sehr. Gleich­zei­tig wird die Qua­li­tät in der Hilfs­mit­tel­ver­sor­gung maß­geb­lich durch die Ver­trags­struk­tu­ren zwi­schen den gesetz­li­chen Kran­ken­ver­si­che­run­gen und den Leis­tungs­er­brin­gern beein­flusst. Und da ist die vom Gesetz­ge­ber vor­ge­ge­be­ne Ver­hand­lungs­re­ge­lung über § 127 (1) Satz 2 des Sozi­al­ge­setz­bu­ches (SGB) Fünf­tes Buch (V) bereits im Zuge der dra­ma­tisch gestie­ge­nen Prei­se für Per­sön­li­che Schutz­aus­rüs­tung (PSA) an ihre Gren­zen gesto­ßen. Des­halb hat es eine wirk­li­che Erstat­tung die­ser zusätz­li­chen Kos­ten für die Sani­täts­häu­ser nicht gege­ben. Selbst wenn die Poli­tik also ent­schei­den wür­de, dass sie die Kos­ten­um­la­ge für Ener­gie, Roh­stoff­prei­se etc. über den §127 lau­fen las­sen will – es wäre zum Schei­tern ver­ur­teilt. Wir müs­sen da ande­re Lösun­gen fin­den, die schnel­ler und wirk­sa­mer sind, um unse­re Betrie­be nicht in die Insol­venz lau­fen zu lassen.

Abel: Zudem kommt das Bun­des­amt für Sozia­le Siche­rung (BAS) als Auf­sichts­be­hör­de der gesetz­li­chen Kran­ken­kas­sen zu dem Urteil, dass die Kas­sen ihre eige­nen Ver­trä­ge kaum im Blick haben und die in den Ver­trä­gen fixier­te Ver­sor­gungs­qua­li­tät in der Brei­te nicht kon­trol­lie­ren kön­nen. Immer häu­fi­ger gera­ten Ver­trä­ge ein­zel­ner Ver­sor­ger mit Kran­ken­kas­sen in den Fokus, die erheb­li­che recht­li­che Beden­ken ver­ur­sa­chen, von der Auf­sicht aus dem Ver­kehr gezo­gen wer­den oder Schieds­ver­fah­ren nach sich zie­hen. Ob hier Begrif­fe wie „Kämp­fe aus­fech­ten“ ange­bracht sind, wird sich zei­gen. Denn zual­ler­erst ste­hen wir alle gemein­sam in der Ver­ant­wor­tung. Fron­ten­bil­dung hilft da wenig. Am wei­tes­ten sind wir immer mit einer sach­li­chen Aus­ein­an­der­set­zung gekom­men. Denn Zei­tungs­schlag­zei­len schaf­fen viel­leicht Auf­merk­sam­keit, sind aber sel­ten ein ers­ter Schritt zu einer Lösung.

Immer mehr Kostentreiber

OT: Infla­ti­on, Kos­ten­stei­ge­run­gen sowie Ängs­te vor Ver­sor­gungs­eng­päs­sen bei Gas und Strom trei­ben die gesam­te Wirt­schaft um. Wie ist die Lage in den Sani­täts­häu­sern und OT-Betrieben?

Abel: Inzwi­schen haben die Häu­ser ihre Rück­la­gen auf­grund der wei­ter­hin stei­gen­den Fracht‑, Roh­stoff- und Ener­gie­kos­ten auf­ge­braucht. Der Fach­kräf­te­man­gel hat sich ver­schärft. Als Kos­ten­trei­ber machen sich hier neben den wach­sen­den Lebens­hal­tungs­kos­ten und damit ver­bun­de­nen Lohn­for­de­run­gen eben­falls die stei­gen­den Kran­ken­kas­sen­bei­trä­ge und die Anhe­bung des Min­dest­lohns bemerkbar.

Gru­n­au: Beim The­ma Gas­ver­sor­gung sind wir über unse­ren Part­ner BIV-OT im engen Kon­takt mit dem Zen­tral­ver­band des Deut­schen Hand­werks und der Bun­des­netz­agen­tur. Aktu­ell gehen wir nicht davon aus, dass Sani­täts­häu­ser und OT-Werk­stät­ten von einer Gas- und Strom­ver­sor­gung abge­kop­pelt wer­den. Aller­dings zeich­net sich ein Preis­pro­blem ab, das durch­aus die­sel­ben Kon­se­quen­zen haben kann und die Exis­tenz von Hilfs­mit­tel­ver­sor­gern gefähr­det. Denn die Preis­stei­ge­run­gen kön­nen nicht ein­fach an die gesetz­lich Ver­si­cher­ten wei­ter­ge­ge­ben wer­den. Außer­dem ist die all­ge­mei­ne Ver­sor­gung mit Hilfs­mit­teln über lang­fris­ti­ge Ver­trä­ge gesi­chert, die sich nicht sofort kün­di­gen las­sen. Uns berei­tet wirk­lich gro­ße Sor­gen, dass die wohn­ort­na­he Ver­sor­gung auf­grund der Kos­ten­ex­plo­si­on an ihr Limit gerät.

OT: Was bedeu­tet das für die Zukunft?

Abel: Die Hilfs­mit­tel­ver­sor­gung hat nur einen sehr klei­nen Anteil am Gesamt­bud­get der gesetz­li­chen Kran­ken­ver­si­che­rung. Doch mit der Hilfs­mit­tel­ver­sor­gung ver­bun­den sind Fra­gen, die das demo­kra­ti­sche Ver­ständ­nis unse­rer Gesell­schaft grund­sätz­lich berüh­ren: Wie umfas­send wol­len wir Men­schen mit Ein­schrän­kun­gen an der Gesell­schaft teil­ha­ben las­sen? Wie wich­tig ist uns die Erfül­lung der UN-Behin­der­ten­rechts­kon­ven­ti­on? Wie wich­tig ist es uns, tech­ni­sche Lösun­gen für eine bes­se­re Lebens­qua­li­tät anzu­bie­ten – und wie weit wol­len wir Men­schen am Fort­schritt teil­ha­ben lassen?

Enga­ge­ment für die Ukraine

OT: Zu den poli­tisch bestim­men­den The­men gehört die Unter­stüt­zung der Ukraine …

Abel: Das ist auch für die Ortho­pä­die-Tech­nik sehr bedeu­tend. Nach dem Zwei­ten Welt­krieg lag in der Ver­sor­gung von Kriegs­ver­sehr­ten eine gro­ße Her­aus­for­de­rung unse­res Fachs. Nie hät­ten wir geglaubt, dass sich eine sol­che Her­aus­for­de­rung mit einer der­ar­ti­gen Wucht erneut stel­len wür­de. Putin hat die Ver­sor­gung von Men­schen mit schwers­ten Kriegs­ver­let­zun­gen durch sei­nen Angriffs­krieg wie­der sehr kon­kret auf die Tages­ord­nung gebracht. Unse­re Part­ner enga­gie­ren sich daher sehr inten­siv für die Kriegs­ver­sehr­ten­ver­sor­gung. Der BIV-OT bei­spiels­wei­se ent­wi­ckelt gera­de mit dem Bun­des­ge­sund­heits­mi­nis­te­ri­um ein Pro­jekt, das die Aus­bil­dung von Orthopädietechniker:innen in der Ukrai­ne für die schnel­le Ver­sor­gung der zahl­rei­chen Ver­letz­ten sicher­stellt. Deutsch­land ist hier welt­weit Vor­bild. Unse­re Bran­che hat schon seit lan­ger Zeit enge Bezie­hun­gen zur Ukrai­ne. Auf unse­rem Bran­chen­po­li­ti­schen Forum im Rah­men der dies­jäh­ri­gen OTWorld in Leip­zig – übri­gens Part­ner­stadt von Kiew – war die Hil­fe für die Ukrai­ne ein gro­ßes Thema.

Prüf­stein für die Politik

OT: Wie das WvD-Bünd­nis im poli­ti­schen Gesche­hen mit­mischt, zei­gen nicht zuletzt die „Wahl­prüf­stei­ne zur Land­tags­wahl in Nie­der­sach­sen 2022“, die erst­mals auf­ge­stellt wur­den. Dar­in wer­den sechs Fra­gen an die im Wahl­kampf befind­li­chen Par­tei­en gerich­tet – unter ande­rem, durch wel­che Maß­nah­men die­se eine hoch­wer­ti­ge, wohn­ort­na­he Hilfs­mit­tel­ver­sor­gung sichern, durch Kos­ten­stei­ge­run­gen beding­ten Eng­päs­sen vor­beu­gen und Büro­kra­tie besei­ti­gen wol­len. Wird es künf­tig zu jeder Land­tags­wahl Prüf­stei­ne geben – und war­um kon­zen­trie­ren Sie sich nicht aus­schließ­lich auf die Bundespolitik?

Gru­n­au: Einer­seits besit­zen die Bun­des­län­der die Mög­lich­keit, bun­des­po­li­tisch Ein­fluss zu neh­men. Ande­rer­seits wer­den vie­le Ent­schei­dun­gen auf Län­der­ebe­ne getrof­fen, dar­un­ter zum Bei­spiel die Rege­lun­gen bezüg­lich der Hygie­ne­maß­nah­men bei Coro­na, die für die Ver­sor­gung von Risikopatient:innen ele­men­tar sind. Zur Sys­tem­re­le­vanz von Sani­täts­häu­sern gab es in den Län­dern eben­falls unter­schied­li­che Auf­fas­sun­gen und Umset­zun­gen. Hin­zu kommt, dass eine wohn­ort­na­he Ver­sor­gung nicht nur gut infor­mier­te Bundespolitiker:innen, son­dern eben­so gut infor­mier­te Akteur:innen vor Ort erfor­dert. Dar­über hin­aus muss nahe­zu jedes Gesetz ein­mal durch den Bun­des­rat und damit durch die Län­der. Um die gesam­te Ket­te der gesund­heits­po­li­ti­schen Ent­schei­dun­gen abzu­de­cken, beginnt die gemein­sa­me Arbeit bei den Kom­mu­nen und in den Wahl­krei­sen, geht über die Lan­des- auf die Bun­des­ebe­ne. Das ist geleb­ter Föde­ra­lis­mus. Nicht immer zügig – und für Geschäftsführer:innen und Unternehmer:innen, die es gewöhnt sind, schnel­le und prag­ma­ti­sche Ent­schei­dun­gen selbst­ver­ant­wort­lich zu tref­fen, manch­mal etwas sper­rig. Aber am Ende haben die­se Art der Wil­lens­bil­dung und damit die Demo­kra­tie doch unschlag­ba­re Vor­tei­le. Daher ist für uns klar: Ja, vor den nächs­ten Land­tags­wah­len in Bre­men, Bay­ern und Hes­sen wer­den wir wie­der Wahl­prüf­stei­ne versenden.

OT: „Wir ver­sor­gen Deutsch­land“ ist im Lob­by­re­gis­ter des Deut­schen Bun­des­tags ein­ge­tra­gen. Was heißt das für Ihre Arbeit?

Abel: Lob­by­ar­beit heißt für uns: Poli­tik mit­zu­ge­stal­ten, um die Qua­li­tät der poli­ti­schen Ent­schei­dun­gen zu ver­bes­sern. Poli­tik hat viel mit Ver­ant­wor­tung zu tun. Des­halb ist es sehr sinn­voll, dass alle Bür­ge­rin­nen und Bür­ger ein Recht auf maxi­ma­le Trans­pa­renz und damit Ein­blick in poli­ti­sche Ent­schei­dungs­pro­zes­se haben. Wer im Lob­by­re­gis­ter ein­ge­tra­gen ist, unter­liegt einem gewis­sen Ver­hal­tens­ko­dex, der die­se Trans­pa­renz lebt. Das fin­den wir gut. Demo­kra­tie kann nur so für sich werben.

Die Fra­gen stell­te Cath­rin Günzel.

Wer zum Ver­ein WvD gehört
Im 2021 for­mier­ten Bünd­nis „Wir ver­sor­gen Deutsch­land“ haben sich maß­geb­li­che Spit­zen­ver­bän­de und Ver­ei­ni­gun­gen von Leis­tungs­er­brin­gern der deut­schen Hilfs­mit­tel­ver­sor­gung zusam­men­ge­schlos­sen, um ihre Inter­es­sen­ver­tre­tung gemein­sam zu ver­stär­ken und gesund­heits­po­li­ti­sche Zei­chen zu set­zen. Neben den Grün­dungs­mit­glie­dern Bun­des­in­nungs­ver­band für Ortho­pä­die-Tech­nik (BIV-OT), Egroh-Ser­vice GmbH, Reha-Ser­vice-Ring GmbH, Reha­vi­tal Gesund­heits­ser­vice GmbH und der Sani­täts­haus Aktu­ell AG ist jetzt die Ortheg eG als sechs­te Part­ner­or­ga­ni­sa­ti­on hin­zu­ge­kom­men. Der Ver­ein ist im Lob­by­re­gis­ter des Deut­schen Bun­des­tags ein­ge­tra­gen (Nr. R004824). Mit der Büro­er­öff­nung in Ber­lin ging im Sep­tem­ber auch die neue Web­site online, erreich­bar unter: www.wirversorgendeutschland.de.
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