Zentrale und periphere Lähmung
Bei Lähmungen muss zwischen peripherer und zentraler Lähmung unterschieden werden. Bei der infantilen Cerebralparese handelt es sich um eine cerebrale Bewegungsstörung, also eine Lähmung im zentralen Nervensystem an unterschiedlichen Lokalisationen. Diese können grundsätzlich im Großhirn und dort im motorischen Kortex, jedoch auch in den Stammganglien oder im Kleinhirn im Cerebellum ihren Ursprung haben.
Die Gründe für die Entstehung einer cerebralen Lähmung sind sehr unterschiedlich. Man unterscheidet intrauterine, präpartale Lähmungen von den peripartalen Lähmungen während des Geburtsvorganges sowie von postpartalen Läsionen. Intrauterine Schädigungen werden im Wesentlichen durch Infektionskrankheiten der Mutter generiert. Sie führen zur Embryopathie im Sinne einer embryonalen Enzephalopathie. Bei den peripartalen Geburtsschädigungen handelt es sich um Läsionen, vorwiegend durch venöse und arterielle Zirkulationsstörungen oder durch Stauungsblutungen hervorgerufen. Außerdem kommt es peripartal zu Thrombosen, zu Liquorzirkulationshindernissen oder auch zu direkten mechanischen Einwirkungen.
Nachgeburtliche Läsionen, also die postpartale Schädigung des Kindes, werden im Wesentlichen durch bakterielle Infektionen des Säuglings, durch arterielle Embolien, durch arterielle oder venöse Thrombosen und auch durch Enterotoxine hervorgerufen. So kommt es etwa bei extremen Frühgeburten bei oftmals noch sehr unreifem Darm zu Schädigungen im Verdauungstrakt, wodurch Bakterien und Toxine in die freie Blutbahn gelangen und so zu Schädigungen führen.
Symptomatik der infantilen Cerebralparese
Die Symptomatik der Cerebralparesen ist sehr unterschiedlich. Man unterscheidet klinische Symptome wie Spastik, Athetose, Ataxie, Hypotonie und Mischformen 1. Nach der alten Nomenklatur unterscheidet man je nach klinischem Schädigungsbild die spastische Monoparese, bei der eine Gliedmaße (ein Arm oder ein Bein) betroffen ist. Von einer spastischen Diparese spricht man, wenn im Wesentlichen die unteren Extremitäten von einer spastischen Lähmung betroffen sind. Die klinisch diagnostizierte spastische Triparese beschreibt die spastische Betroffenheit beider Beine und eines Armes, während es bei einer spastischen Tetraparese sowohl zur spastischen Lähmung der oberen als auch der unteren Extremitäten gekommen ist. Somit sind alle vier Extremitäten in ihrer Motorik eingeschränkt. Bei der spastischen Hemiparese schließlich handelt es sich um die Betroffenheit eines Armes und eines Beines derselben Körperseite 2.
Bei den Mischformen ist die klinische Symptomatik sehr unterschiedlich. Dabei kann die Spastik oder auch die dystone/athetoide Komponente im Vordergrund stehen und zusätzlich mit einer Betroffenheit des Kleinhirns vergesellschaftet sein, bei der es zu einer ataktischen Störung kommt. Das Krankheitsbild einer spastischen Tetraparese mit athetotischer Komponente und ataktischer Symptomatik würde heute als „bilaterale Cerebralparese“ bezeichnet.
Zunehmend ist in der kinderorthopädischen Praxis mit Schwerpunkt auf neuroorthopädischen Krankheitsbildern auch die Symptomatik einer ausgeprägten muskulären Hypotonie festzustellen, die in aller Regel primär den Rumpf betrifft. Hierbei gibt es Normvarianten, die nosologisch nicht eingeordnet werden können, aber auch hypotone Symptome, die auf eine muskuläre oder neuronale Schädigung hinweisen. Auch Stoffwechselstörungen deuten sich nicht selten durch hypotone Grundspannung der Muskulatur an. Hier ist eine weitere Diagnostik erforderlich, die die Normvariante von einer pathologischen Form der muskulären Hypotonie abgrenzt.
Bei der Ataxie kommt es zu einer Läsion im Kleinhirn, die im Wesentlichen zu einer Verschlechterung der Gleichgewichtssteuerung führt, wobei hier je nach Schweregrad leichte bis schwerstgradige Symptome auftreten können.
Nomenklatur der WHO
Nach der neuen Nomenklatur der Weltgesundheitsorganisation (WHO) unterscheidet man die oben beschriebenen klinischen Krankheitsbilder nicht mehr im Einzelnen anhand der Betroffenheit der Gliedmaßen, sondern man spricht nur noch vom Schädigungsort auf einer oder auf beiden Hirnhemisphären. Somit werden alle oben beschriebenen Krankheitsbilder entweder unter „unilateraler“ oder unter „bilateraler Cerebralparese“ zusammengefasst. Bei der unilateralen Cerebralparese handelt es sich streng genommen lediglich um eine Monoparese oder um eine Halbseitenlähmung im Sinne einer Hemiparese.
Die bilaterale Cerebralparese umfasst sowohl spastische Diparese, Triparese, Tetraparese, Athetose (Dystonie) als auch Ataxie. Somit wäre bei alleiniger Dokumentation einer bilateralen oder unilateralen Cerebralparese die eigentliche Schwere der Schädigung kaum herauszulesen, weshalb zu den neuen Begriffen der unilateralen und der bilateralen Cerebralparese ein Aktivitätslevel hinzugefügt werden muss, nach dem Gross Motor Function Classification System von Level I bis Level V untergliedert 3.
Die Verwendung der Begriffe „unilaterale“ bzw. „bilaterale Cerebralparese“ erlaubt es aufgrund ihrer Definition nicht, das klinische Erscheinungsbild der neurologischen Erkrankung eines Patienten darzulegen. Die alten klinischen Begriffe, die die Betroffenheit der Extremitäten beschrieben, ließen zumindest eine grobe Orientierung zu, in welcher motorischen Verfassung der Patient sein könnte. Der Begriff der spastischen Tetraparese ließ zumindest die Vermutung zu, dass es sich hierbei um eine schwere Betroffenheit aller vier Extremitäten mit Betonung der unteren Extremitäten handelte. Die spastische Diparese beschrieb den Zustand einer motorischen Betroffenheit der unteren Extremitäten, die Triparese zeigte an, dass der Patient eine Betroffenheit der unteren Extremitäten und eines Armes aufwies. Somit konnte beim häufigen Umgang mit diesen Krankheitsbildern grob ein Bild erwartet werden, welche motorischen Möglichkeiten der Patient haben könnte.
Das Gross Motor Function Classification System (GMFCS)
Im Folgenden werden die einzelnen Level beschrieben:
GMFCS-Level I bedeutet „Gehen ohne Einschränkung, Einschränkung der höheren motorischen Fähigkeiten“. Ein solcher Patient wird im Normalkollektiv nur dadurch auffallen, dass ihm Klettern, Hüpfen, Springen etc. nur eingeschränkt möglich sind. Im Alltag unter normalen Bedingungen fällt dieser Patient im Wesentlichen nicht auf.
GMFCS-Level II steht für „freies Gehen ohne Gehhilfen, Einschränkungen beim Gehen außerhalb der Wohnung, auf der Straße“. Dabei handelt es sich um Patienten, die grundsätzlich ohne Gehhilfen mobil sind und für die das Überwinden von Treppen möglich ist, z. B. unter Zuhilfenahme eines Handlaufes. Die Gehgeschwindigkeit ist im Maximum sicherlich reduziert, insgesamt sind die Patienten jedoch in ihrem häuslichen Umfeld frei gehfähig.
GMFCS-Level III hat die Bedeutung „Gehen mit Gehhilfen, Einschränkungen beim Gehen außerhalb der Wohnung, auf der Straße, Nutzung eines Rollstuhls außerhalb der Wohnung“. Dabei handelt es sich um Patienten, die unter Zuhilfenahme von Unterarmgehstützen, 4‑Punkt-Stützen, Rollatoren etc. in der Lage sind, alternierend zu gehen und kurze Wegstrecken zu überwinden. Außerhalb des Wohnumfeldes sind die Aktionsradien begrenzt und können nur dadurch erweitert werden, dass entsprechende rehatechnische Versorgungen wie Rollstühle etc. genutzt werden.
GMFCS-Level IV: „Selbstständige Fortbewegung eingeschränkt, Kinder werden im Rollstuhl geschoben oder benutzen E‑Rollstühle auf der Straße“. Hierbei handelt es sich um Patienten, die aufgrund ihrer höhergradigen Schädigung ohne direkte Kontrolle nicht mehr zu einem Transfer in der Lage sind. Die Gehstrecken unter Nutzung eines Rollators sind deutlich limitiert und in aller Regel nur mit Hilfe einer Begleitperson oder eines Therapeuten möglich. In der Literatur werden diese Patienten als „therapy walker“ bezeichnet. In schulischen Einrichtungen und außerhalb geschlossener Räume sind die Patienten im Wesentlichen auf die Nutzung von Elektrorollstühlen angewiesen, da sie nur so „selbstbestimmt“ in der Lage sind, Ziele im unmittelbaren Umfeld zu erreichen.
GMFCS-Level V schließlich beschreibt Patienten mit schwerstgradigen Einschränkungen ihrer motorischen Möglichkeiten: „Selbstständige Fortbewegung selbst mit elektrischen Hilfsmitteln ist stark eingeschränkt.“ Diese Patienten sind in der Regel komplett abhängig von der Hilfe Dritter und oftmals nicht in der Lage, die-Joystick-Steuerung eines Elektrorollstuhls zu bedienen 4.
Tonusqualitäten
Im Zusammenhang mit der Symptomatik der Cerebralparese sind mehrere Begriffe von Belang. Man unterscheidet bei der Cerebralparese Spastik, Athetose/Dystonie, Ataxie, Hypotonie und Mischformen dieser Symptomatiken. Im Folgenden wird aufgezeigt, was darunter jeweils zu verstehen ist.
Das Symptom der Spastik beschreibt eine deutliche Tonisierung der betroffenen Muskulatur, die die Gelenkbeweglichkeit z. B. bei passiver Bewegungsprüfung nur gegen einen Widerstand ermöglicht. Dabei überwiegt in der Regel ein Beugewiderstand, der die Streckbewegung der Gelenke erschwert. Bei der Spastik sind in der Regel Becken und Beine mehr betroffen als Kopf und Schultergürtel.
Die Athetose beschreibt eine schwergradige Dystonie, bei der der Spannungszustand der Muskulatur hochvariabel ist. Es handelt sich dabei um Patienten, die nicht in der Lage sind, eine bestimmte Körperposition einzunehmen oder diese zu halten. Sie sind dadurch gekennzeichnet, dass ihnen jede Haltungs- und Bewegungskontrolle fehlt. Jeder Wille zur Bewegung lässt dieselbe komplett entgleisen, was bedeutet, dass keine gezielte motorische Bewegung möglich ist. Bei der Athetose sind in der Regel Kopf und Schulter mehr betroffen als Becken und Beine.
Das Symptom der Hypotonie betrifft in aller Regel den zentralen Rumpf. Die hypotone Grundspannung des Rumpfes wird häufig durch eine Hypertonie der oberen und unteren Extremitäten „kompensiert“. Die fehlende Möglichkeit, sich gegen die Schwerkraft aufzurichten und den Rumpf zu stabilisieren, versuchen die Patienten durch die Spastik der Extremitäten auszugleichen, weshalb in der Therapie der Rumpf im Fokus steht. Eine Tonisierung des Rumpfes führt zu einer Detonisierung der Peripherie, sodass die Extremitäten in ihrer Spannung nachlassen können. Dieses wiederum bedeutet mehr Kontrolle und eine verbesserte motorische Aktivität 5.
Die Ataxie beschreibt wie bereits oben erwähnt eine Läsion im Kleinhirn, die aufgrund der beeinträchtigten Gleichgewichtssteuerung zu Gleichgewichtsstörungen führt. Die Ataxie kann sehr diskret bis schwerstgradig sein, je nach Ausprägung der Schädigung im Kleinhirn (Cerebellum) 6.
Mögliche Hilfsmittelversorgungen in Anlehnung an das GMFCS
Aus den oben aufgeführten Diagnosen und ihren klinischen Beschreibungen lässt sich nicht unmittelbar der jeweilige Bedarf an orthopädischen Hilfsmitteln ablesen. Die Versorgung mit orthopädischen Hilfsmitteln ist in erster Linie von den Funktionsdefiziten des Patienten abhängig. Durch eine umfassende und ganzheitliche orthopädische Untersuchung werden zunächst die funktionellen und statischen Defizite des Patienten diagnostiziert, die Funktionsdefizite beschrieben und das therapeutische Ziel formuliert. Entsprechend der therapeutischen Zielvorgabe muss dann für das jeweils geeignete Hilfsmittel die Indikation gestellt werden. Dabei ist „geeignet“ so definiert, dass das Hilfsmittel medizinisch notwendig, ausreichend und wirtschaftlich sein muss. Das Maß des Notwendigen sollte dabei nicht überschritten werden. Somit ist die orthopädische Untersuchung von entscheidender Bedeutung, damit die Funktionsdefizite, die durch das Hilfsmittel ausgeglichen werden sollen, exakt herausgearbeitet werden können.
Ist das therapeutische Ziel festgelegt, so ist zu klären, ob dieses Ziel orthopädieschuhtechnisch oder orthopädietechnisch erreicht werden kann. Besteht eine orthopädieschuhtechnische Versorgungsmöglichkeit, die z. B. auch durch eine orthopädietechnische Versorgung (Orthesen) realisiert werden kann, so muss die Wirtschaftlichkeit abgewogen werden. Nicht selten sind orthopädietechnische Versorgungen kostenaufwendiger als orthopädieschuhtechnische. Auch ist die Frage zu klären, inwieweit Druckspitzen im Bereich der unteren Extremitäten vermieden werden müssen, da evtl. die Hautverhältnisse größeren Druck nicht tolerieren (Spina bifida, Asensibilität). Orthopädieschuhtechnische Versorgungen zeigen oftmals primär einen höheren Tragekomfort, haben aber nicht die Formschlüssigkeit und die Korrekturstabilität einer Orthese. Bei spastischen Fußdeformitäten vor allem bei älteren Patienten hat der individuelle orthopädische Schuh einen besonderen Stellenwert. Bei der Entscheidung zwischen orthopädieschuhtechnischer und orthopädietechnischer Versorgung ist insbesondere bei Kindern und Jugendlichen das zu erreichende Korrekturergebnis und die notwendige Korrekturkraft zu analysieren und die Akzeptanz in Bezug auf das Hilfsmittel zu beachten. Kostengünstigere knöchelübergreifende orthopädische Maßschuhe werden häufig aufgrund unzureichender Hebelverhältnisse oder aus kosmetischen Gründen weniger gut akzeptiert als z. B. orthetische Versorgungen, die in Konfektionsschuhen genutzt werden können. Hierbei gilt, dass jedes Hilfsmittel, das vom Patienten nicht genutzt wird, gleichsam eine Bankrotterklärung darstellt, da die finanziellen Mittel, die zur Erstellung der Hilfsmittel vom Kostenträger bewilligt wurden, dann nicht beim Patienten angekommen sind. Somit sind Unter‑, Über- und Fehlversorgungen dringend zu vermeiden.
Aus dem Gross Motor Function Classification System (GMFCS) lassen sich zumindest grob die Anforderungen an die orthopädische Versorgung ableiten, da sie den jeweiligen Aktivitätsgrad des Patienten grundsätzlich beschreiben. Aus den motorischen Fähigkeiten lässt sich zumindest grob ableiten, welchen Bedarf der Patient an Hilfsmitteln haben könnte. Dennoch sind die Versorgungsmöglichkeiten auch innerhalb der einzelnen GMFCS-Level unterschiedlich und individuell auf den aktuellen Befund und auf das therapeutische Ziel auszurichten.
Der GMFCS-Level-I-Patient kommt in aller Regel mit plantaren Versorgungen aus, z. B. mit korrigierenden, bettenden, aktivierenden, stimulierenden Einlagenversorgungen oder plantaren Fußorthesen 7. Auch Schuhzurichtungen im Sinne einer medialen/lateralen Schuhbodenverbreiterung, Richtungsrollen und Abrollsohlen können in Kombination oder alleine zu einer Verbesserung der funktionellen Fähigkeiten beitragen 8.
Der GMFCS-Level-II-Patient wird in aller Regel aufgrund seiner stärkeren motorischen Beeinträchtigung einen höheren Bedarf an Hilfsmitteln haben, z. B. mit knöchelübergreifenden Versorgungen (orthopädische Maßschuhe, orthopädischer Innenschuh, Sprunggelenksorthesen), da hier aufgrund der neurologischen Schädigung die Tonusverhältnisse häufig eine stärkere Korrektur und Stabilisierung benötigen, um unter Belastung den Korrekturbefund sichern zu können. Auch höhergreifende Versorgungen z. B. im Sinne von Unterschenkelorthesen sind im Einzelfall notwendig (Abb. 1). Nicht selten tragen diese höhergreifenden Versorgungen zu einer höheren statomotorischen Kontrolle bei, die sich in einer verbesserten Gangqualität und Gangsicherheit widerspiegelt. Häufig sind bei den Level-II-Patienten hochdynamische Versorgungen mit einer sehr gut ausgeformten individuellen plantaren Fußgewölbeausformung mit individuellem Korrekturzonen und achsengerechter Einstellung des Rückfußes angezeigt. In aller Regel sollte es gelingen, durch die Auswahl moderner Materialien und die körpernahe Bauweise das Orthesenvolumen so zu minimieren, dass konfektioniertes Schuhwerk getragen werden kann. Dies wird die Hilfsmittelakzeptanz erhöhen, die Tragezeit verlängern und so den Korrektureffekt verbessern. Die Schuhversorgung ist eine wichtige Komponente, die zum einen die Orthese sicher aufnehmen muss und zum anderen die Bodenreaktionskräfte in die unteren Extremitäten und in den gesamten Körper einleitet. Daher ist auch hier eine genaue klinische Kontrolle des Gangbildes notwendig, um eventuell mit einer Schuhzurichtung das Gangbild zu stabilisieren. Nicht selten tragen diese höhergreifenden Versorgungen zu einer höheren statomotorischen Kontrolle bei, die sich in einer verbesserten Gangqualität und Gangsicherheit widerspiegelt.
Auch der GMFCS-Level-III-Patient benötigt in aller Regel höhergreifende Versorgungen wie Unterschenkelorthesen, wobei hier sowohl statische als auch dynamische Versorgungen denkbar sind, die jedoch nach dem Aktivitätsgrad innerhalb des GMFCS-Levels III unterschiedlich sein können. Ein Patient, der z. B. mit Unterarmgehstützen mobil ist, benötigt ggf. eine dynamischere Versorgung als ein Patient, der per Rollator oder Gehwagen mobilisiert ist 9 (Abb. 2). Zur mediolateralen und sagittalen Stabilisierung des Kniegelenkes könnte auch eine monolaterale Oberschenkelführung mit rückverlagertem Kniegelenk notwendig werden. Ebenso kann ein zurückverlagertes Kniegelenk oder aber auch eine leichte Extensionshilfe einer muskulären Dysbalance im Sinne einer nicht ausreichenden Kniestreckung entgegenwirken. Auch hierbei ist, wie bei allen Versorgungen, die Schuhzurichtung ein wichtiger Baustein im Versorgungskonzept.
Von entscheidender Bedeutung ist hierbei die klare Festlegung des nächstgelegenen motorischen Zieles, wonach sich auch in aller Regel der Umfang der orthopädietechnischen Versorgung richtet. Nicht alles, was möglich ist, ist für den Patienten auch wünschenswert bzw. realistisch zu erreichen und im Einzelnen alltagsrelevant. Die Alltagsrelevanz in Bezug auf die Hilfsmittelversorgung ist für die Akzeptanz des Patienten von entscheidender Bedeutung. Bei der Versorgung mit orthopädischen Hilfsmitteln muss das medizinische Behandlungsziel für den Patienten erreichbar, realistisch und alltagsrelevant sein, da ansonsten eher die Vorstellungen des Therapeuten bzw. des Verordners verfolgt werden, was jedoch nicht zielführend in Bezug auf die motorische Weiterentwicklung des Patienten ist.
Der GMFCS-Level-IV-Patient wird aufgrund seiner stark eingeschränkten motorischen Möglichkeiten für die Vertikalisierung z. B. in einem Stehtrainer eine relativ starre Versorgung benötigen, z. B. Unterschenkelorthesen mit Polypropylen- oder Gießharzverstärkung, Unterschenkelorthesen mit mono- oder bilateralem Knöchelgelenk in Gießharz- oder Prepregtechnik oder Vergleichbares. Auch dynamische Unterschenkelorthesen in Prepregtechnik können angezeigt sein, wenn es darum geht, mit einer rückhebelnden Kraft und somit einer festen „dynamischen“ Feder das Kniegelenk zu stabilisieren und mit oder ohne Oberschenkelhülse die Sicherung der unteren Extremitäten und der damit verbundenen Gelenkkette einzuleiten. Somit werden eine primäre Sicherung des Sprunggelenkes und eine sekundäre Sicherung des Knie- und Hüftgelenkes erreicht. Ein wichtiger Aspekt bei der Versorgung mit Oberschenkelorthesen ist die Materialkombination. Hierbei ist zu beachten, dass der Techniker ein geeignetes Material für eine möglichst leichte Konstruktion auswählt, um dem sogenannten Therapiewalker nicht durch ein zu hohes Gewicht der Orthese die Freude am Gehen zu nehmen. Durch den Einsatz moderner Materialien kann es gelingen, sehr leichte, aber trotzdem verwringungsstabile und/oder hochdynamische Konstruktionen in verschiedenen Gelenkebenen zu erstellen (Oberschenkelorthesen mit Schweizer Sperre, rückverlagerten Kniegelenken, Knieextensionshilfen etc.) (Abb. 3).
Der GMFCS-Level-V-Patient schließlich benötigt in der Regel orthetische Versorgungen für ein Stehen oder Gehen im Sinne eines Transfers, wobei hier rehatechnische Versorgungen in Kombination mit orthopädietechnischen körpernahen Hilfsmitteln notwendig werden. Dabei kommt es auf die Stabilisierung der Gelenke an, die unter Belastung in der Vertikalen ansonsten nicht ausreichend kontrolliert werden können, sodass nur mit einer äußeren Stabilisierung und Korrektur eine Gewichtübernahme möglich wird.
Bei GMFCS-Level-V-Patienten kann ebenso wie in Einzelfällen auch bei Level-IV-Patienten eine Unterschenkelorthesenversorgung notwendig werden, um verloren gegangenen oder nicht ausreichenden sensorischen Input zu kompensieren. Dies gelingt zum einen durch die Einstellung der Gelenke möglichst in Mittelstellung, zum anderen durch die zirkuläre, großflächige Umfassung der unteren Extremität. Somit wird durch eine möglichst tonushemmende Gelenkeinstellung eine Tonusregulation eingeleitet (Abb. 4, 5). Häufig ist dies bei Schädel-Hirn-Verletzungen, bei Folgen intracerebraler Blutungen oder bei Schädigungen des Gehirns durch Sauerstoffmangel notwendig.
Bei der Erstellung von Orthesen ist es besonders wichtig, dass weiche Übergänge geschaffen werden und dass zirkulär umfassend gearbeitet wird, um nicht noch zusätzliche Reize auszulösen, die sich negativ auf den Muskeltonus auswirken können. Durch die Kombination mit einer speziell auf den Tonus abgestimmten individuellen Prepregfeder kann einer einschießenden Spastik dosiert begegnet werden. Somit können Spitzendrücke vermieden, der Tragekomfort gesteigert und die Tragedauer deutlich verlängert werden, ohne das Risiko für einen Korrekturverlust zu erhöhen.
Das Thema der passiven Orthetik im Sinne von z. B. Quengelorthesen soll hier nicht weiter vertieft werden, bietet jedoch zusätzlich erhebliche Möglichkeiten, auf die durch die Spastik entstehenden Fehlstellungen korrigierend einzuwirken. Auch die orthetischen Versorgungen im Bereich des Beckens und des Rumpfes sollen hier nicht weiter thematisiert werden, da dies den Rahmen des Beitrages sprengen würde. Auch hier haben sich in den letzten Jahren die Versorgungsmöglichkeiten diversifiziert. Es sind fein abgestimmte Stabilisierungsmöglichkeiten für den Rumpf im Gebrauch, die je nach Ausprägung der eingeschränkten Rumpfkontrolle verwendet werden können (Stütz- und Korrekturmieder, Neoprenmieder, Softbodykorsett, Polyethylen-Rumpforthese etc.) 10.
Fazit und Ausblick
Jeder Versuch, eine „Rezeptur“ der Hilfsmittelversorgung festzulegen, ist bei der Variabilität der neurologischen Defizite bei einer Cerebralparese zum Scheitern verurteilt. Trotz gleichlautender Diagnosen, z. B. „spastische Tetraparese“, kann das motorische Vermögen des jeweiligen Patienten sehr unterschiedlich sein.
Die zusätzliche Information über das Gross Motor Function Classification System (GMFCS) lässt zumindest einen orientierenden Eindruck über die motorischen Fähigkeiten des Patienten zu, sodass die befund- und zielorientierte Hilfsmittelversorgung exakter konzipiert werden kann. Dennoch muss festgehalten werden, dass orthetische Versorgungen meist hochindividuell gestaltet werden müssen, um das therapeutische Ziel der Verbesserung der motorischen Möglichkeiten des jeweiligen Patienten zu erreichen. Eine „Verordnung von der Stange“ wird nur im Einzelfall erfolgreich sein, die Vielzahl der Patienten wird davon jedoch nicht profitieren. Über- und Unterversorgungen sollten auf jeden Fall vermieden werden.
Für die Autoren:
Dr. med. Ulrich Hafkemeyer
SPZ Westmünsterland
Münsterstraße 40
48653 Coesfeld
drulihafkemeyer@aol.com
Begutachteter Beitrag/reviewed paper
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- Der Verlag OT wünscht frohe Weihnachten! — 23. Dezember 2024
- Die neue Leitlinie zum Lipödem-Syndrom: mehr Licht als Schatten. Konsequenzen für die Praxis — 5. Dezember 2024
- Orthesenversorgung bei Läsion des Plexus brachialis — 4. Dezember 2024
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- Hafkemeyer U. Die infantile Cerebralparese – eine Herausforderung für den Arzt und Orthopädie-Techniker. MOT, 2010; 130 (1): 100–102