Einleitung
Die Knöchel-Fuß-Orthese aus Silikon (Silicone Ankle-Foot Orthosis, SAFO) ist bereits bei vielen Patienten mit Fußheberschwäche erfolgreich eingesetzt worden. Entwickelt wurde die SAFO von Bob Watts, Gründer des Unternehmens Dorset Orthopaedic, Ende der 90er Jahre in Großbritannien.
Watts war auf der Suche nach einer Orthese, die einerseits funktionsersetzende Eigenschaften und Stabilität im Sprunggelenk bieten sollte, andererseits die freie Beweglichkeit des Sprunggelenks während des Gehens nicht einschränken durfte. Er reagierte damit auf die Anforderungen einer Patientin mit hereditärer motorisch-sensibler Neuropathie Typ I (HMSN I), die von Lähmungserscheinungen der fußhebenden Muskulatur betroffen war. Dies war die Geburtsstunde der SAFO – einer Fußheberorthese, die ausschließlich aus Silikon besteht, mittels Klettverschluss zu verschließen ist, stützt und gleichzeitig flexibel ist.
Silikon als Material in der Orthopädie-Technik
Silikon ist ein biokompatibler Werkstoff, der seit Jahrzehnten sowohl in invasiven als auch in nichtinvasiven Bereichen der Medizintechnik eingesetzt wird 1. Unter dem Oberbegriff Silikon versammeln sich Werkstoffe mit verschiedenen viskoelastischen Eigenschaften und unterschiedlichen Shore-Härten 2 3. In der Orthopädie-Technik wird Silikon in einer Reihe von Medizinprodukten eingesetzt – Epithesen, Liner-Versorgungen in der Prothetik der oberen und unteren Extremitäten, Fußprothesen, Finger- und Handorthesen stellen nur einen kleinen Auszug der Einsatzmöglichkeiten dar.
Silikon ist seit vielen Jahren fester Bestandteil prothetischer Versorgungen. Das Material überzeugt im Schaftdesign sowohl aus funktioneller Sicht als auch dank seiner positiven Materialeigenschaften hinsichtlich Tragekomfort und Tragedauer 4 5 6. Auch im Hinblick auf die finale Gestaltung einer Prothese bietet Silikon dank seiner hohen Flexibilität vielfältige Gestaltungmöglichkeiten, wie unzählige Silikonüberzüge für Prothesen belegen.
Die Möglichkeiten der Kombination verschiedener Shore-Härten zur Bestimmung unterschiedlicher Steifigkeiten sowie die exzellente Hautverträglichkeit des Materials bieten auch bei orthetischen Versorgungen viele sinnvolle Einsatzoptionen.
Technische Merkmale und Funktion der SAFO
Die SAFO umfasst das Sprunggelenk und den Fuß zirkulär, ähnlich einer Sprunggelenksbandage. Um sowohl stützende als auch flexible Bereiche definieren zu können, kommen verschiedene Shore-Härten zur Anwendung, und es wird in der Materialstärke differenziert. Der Bereich des Fußrückens und des vorderen Schienbeins ist mit hoher Shore-Härte gefertigt (Abb. 1, blauer Bereich). Der Sohlenbereich des Mittelfußes ist relativ flexibel und dünn gestaltet, Zehen- und Fersenbereich bleiben komplett frei.
Im Wesentlichen verhindert die SAFO das unkontrollierte Absinken des Fußes in der Schwungphase. Dank hoher Shore-Härte am Fußrücken wird der Fuß in Neutralposition gehalten. Das Funktionsprinzip der SAFO unterscheidet sich somit von traditionellen Fußheberorthesen, die diesen Effekt über eine posteriore oder anteriore Anlage am Unterschenkel und eine relativ steife Sohle erreichen. Gerade die oben beschriebene minimalistische Sohlengestaltung der SAFO stellt einen großen Vorteil dar. Die sensorische Rückmeldung von der Fußsohle ist deutlich höher als bei traditionellen AFOs. Dies vermittelt den Patienten mehr Sicherheit.
Klinische Ergebnisse
In der Literatur konnten vier einschlägige Artikel ermittelt werden, in denen SAFO-Versorgungen von Patienten mit Fußheberschwäche untersucht wurden.
Bianco und Fatone (2008) untersuchten eine Probandin mit bilateraler Schwäche der Unterschenkelmuskulatur aufgrund einer hereditären motorisch-sensiblen Neuropathie Typ 1 (Morbus Charcot-MarieTooth). Die Patientin wurde bilateral mit Orthesen versorgt. Ziel der Untersuchung war es, die Funktion einer Fußheberorthese mit dorsaler Anlage („Posterior Leaf-Spring Ankle-Foot Orthosis“, PLS-AFO) einer SAFO-Versorgung gegenüberzustellen. Beim ebenen Gehen mit der SAFO wurde ein größeres Bewegungsausmaß des OSG (oberes Sprunggelenk) als mit der PLS-AFO ermittelt (R/L: PLSAFO 16,3°/20,4°, SAFO 22,2°/27,4°). Für die weiter untersuchten Parameter Gehgeschwindigkeit (PLSAFO 1,09 ± 0,03; SAFO 0,93 ± 0,03), das Dorsalflexionsmoment während der Lastübernahme (PLS-AFO R: –0,243 ± 0,026, L: –0,253 ± 0,023; SAFO R: –0,002 ± 0,004, L: –0,003 ± 0,006) und die Bodenfreiheit während der Schwungphase (Dorsalflexion PLS-AFO R: 5,5 ± 0,4, L: 5,2 ± 0,3; SAFO R: –2,9 ± 0,9, L: –0,2 ± 1,2) wurde mit beiden Orthesenarten ein Funktionsnachweis erbracht. Die SAFO erzielte gegenüber der PLSAFO etwas geringere Effekte. Basierend darauf empfehlen die Autoren die SAFO für Patienten mit leichtem Fallfuß, da die funktionellen Ergebnisse (Dorsalflexion während der Schwungphase, Gehgeschwindigkeit und Dorsalflexionsmoment während der Lastübernahme) mit der PLS-AFO besser ausfallen. Andererseits weisen sie darauf hin, dass die Patienten aufgrund von Komfort und Design der SAFO sich auch bewusst für diese Orthesenart entscheiden 7.
Wright stellte 2001 auf dem ISPO-Kongress in Glasgow eine Untersuchung vor, bei der 12 Patienten mit Fußheberschwäche mit einer SAFO der Firma Dorset Orthopaedic versorgt worden waren. Ursache für den muskulären Ausfall war in allen Fällen eine Verletzung des peripheren Motoneurons. Zu Beginn der Versorgung und nach sechsmonatiger Nutzung der Orthese wurde der Energieverbrauch während des Gehens mit und ohne Orthese erfasst. Zudem wurden am zweiten Messtermin über einen selbst erstellten Fragebogen Auskünfte zum Komfort und zum Nutzen der Orthese erhoben. Bei der Erstuntersuchung fanden Messungen beim Gehen mit und ohne Orthese statt. Wright wies einen hochsignifikanten (p < 0,01) Anstieg der Gehgeschwindigkeit von 10 % und einen geringfügig niedrigeren Energieverbrauch beim Gehen mit Orthese gegenüber dem Gehen ohne Orthese nach. Nach sechsmonatiger Versorgungszeit wurden die Ergebnisse des Gehens mit Orthese den Ergebnissen des Gehens ohne Orthese bei der Erstuntersuchung gegenübergestellt. Die Gehgeschwindigkeit stieg um signifikante (p < 0,02) 20 % an, der Energieverbrauch reduzierte sich um 32 % signifikant (p < 0,02). Anhand eines Fragebogens wurde ermittelt, dass der überwiegende Teil der Patienten die Orthese als komfortabel und alle Patienten die Orthese als nützlich empfanden. Sechs Patienten gaben an, mit der Orthese weitere Gehstrecken absolvieren zu können. Des Weiteren wurden das schmale Design der SAFO, die Möglichkeit, sowohl barfuß als auch mit normalem Schuhwerk zu gehen, sowie die Flexibilität der Orthese positiv bewertet. Das Bewegungsausmaß wird trotz stabilisierender und funktionsersetzender Eigenschaften der Orthese nicht eingeschränkt 8.
Im Jahre 2008 veröffentlichte Hughes einen Erfahrungsbericht mit fünf pädiatrischen Patienten, die mit einer SAFO versorgt wurden. Hughes geht in seinem Artikel näher auf die Versorgung von fünf Kindern mit Hemi- oder Diplegie ein. Diese Versorgungen wurden von einem Physiotherapeuten des NHS-Trust-Krankenhauses in Yeovil (Großbritannien) im Jahre 2005 detailliert beschrieben. Die Patienten wurden mit SAFOs versorgt und dann über einen Zeitraum von einem Jahr in vierteljährlichem Abstand untersucht. Im Anschluss wurden die Befunde der Patienten dokumentiert. Drei der Kinder hatten eine Hemiplegie, in einem Fall mit hohem Muskeltonus, ein Kind eine spastische und ein Kind eine Diplegie mit niedrigem Muskeltonus. Die Patienten waren vorher mit dynamischen traditionellen AFOs oder „second skin“ versorgt. Aufgrund verschiedener Probleme wie beispielsweise anhaltender Passformprobleme mit einhergehenden Druckstellen konnten die Kinder bis dato nicht erfolgreich versorgt werden. Der Befund der Patienten wurde narrativ festgehalten und unter den Gesichtspunkten „funktionelle Aktivitäten“, „Komfort“ und „Tragebereitschaft“ sowie „Betrachtung der Benutzer und Eltern“ zusammengefasst. Unter dem Aspekt „funktionelle Aktivitäten“ zeigten alle Patienten Verbesserungen in den Bereichen Gangbild, Gehgeschwindigkeit und Ausdauer. Des Weiteren war alternierendes Treppensteigen problemloser möglich. Alle Kinder trugen die SAFO zum Sport. Hinsichtlich der Tragebereitschaft wurde bei allen Kindern eine deutliche Steigerung erzielt. Der Komfort wurde als verbessert empfunden, die Handhabung als vereinfacht. Druckstellen oder Hautprobleme traten nicht mehr auf. Benutzer und Eltern stellten folgende Effekte fest: „Erhöhte Tragebereitschaft und Komfort, einfachere Handhabung, verbessertes Gangmuster, höhere Geschwindigkeit und Ausdauer beim Gehen, verbesserte Körperhaltung und Balance sowie gesteigertes Vertrauen und Selbstwertgefühl.“ Hughes empfiehlt, bei Patienten mit verändertem Muskeltonus den passiven Bewegungsumfang von Fuß und Sprunggelenk zu überprüfen. Wie verhält sich das Kniegelenk in der Standphase, und wie ist die Stellung von Fuß und Sprunggelenk in der Schwungphase? Als Kontraindikationen werden schwere Spastiken mit Genu recurvatum in der Standphase sowie wechselnde, nicht beherrschbare Ödeme genannt 9.
McLachlan präsentierte 2005 eine Gegenüberstellung von Silikon-Knöchel-Fuß-Orthesen und KunststoffKnöchel-Fuß-Orthesen bei sechs Personen mit niedriger Läsion des Motoneurons anhand eines Ganganalyseverfahrens. Alle Patienten waren bereits erfolgreich mit einer AFO versorgt. Nach der Versorgung mit der SAFO wurde die Orthese für vier Wochen getragen. Anschließend wurde das Ganganalyseverfahren unter drei verschiedenen Bedingungen durchgeführt: ohne Hilfsmittel, mit AFO und mit SAFO. Die Autoren ermittelten insgesamt eine bessere Kontrolle der Plantarflexion mit der AFO, die SAFO dagegen reduziert die maximale Knie- und Hüftflexion während der Schwungphase signifikant 10.
Versorgungsprozess und Anwendung
Es empfiehlt sich, die individuelle Funktionalität entsprechend dem gewünschten Einsatzbereich zu Beginn mit einer Diagnoseorthese (hier das sogenannte I‑Fit-Kit) zu ermitteln (Abb. 2). Das in zwei Größen (Kinder und Erwachsene) erhältliche Silikonformteil wird mit Hilfe von Klettverschlüssen am Unterschenkel fixiert und mit zwei Schlaufen aus Silikon im Fersen- und Vorfußbereich festgehalten, um anschließend eine Ganganalyse durchzuführen zu können. Unter Berücksichtigung der nicht vorliegenden individuellen Passform ist diese Methode eine große Hilfe, über die Sinnfälligkeit der Versorgung zu entscheiden.
Die definitive Orthese wird schließlich anhand eines individuellen Gipsabdruckes gefertigt. Bei der Gipsnegativabnahme sollte das obere Sprunggelenk in ca. 5° Dorsalextension auf einer flachen Unterlage (ohne Berücksichtigung der effektiven Absatzhöhe) positioniert werden. Hierdurch wird die entsprechende Vorspannung der Orthese erzielt.
Die Orthese kann direkt auf der Haut getragen werden. Sie wird mittels Klettverschlüssen oberhalb des Sprunggelenks am Bein fixiert und lässt sich einfach an- und ablegen. Tägliche Verschmutzungen lassen sich mit pH-neutraler Seife und warmem Wasser leicht entfernen.
Fazit
Die SAFO ist ein Hilfsmittel, das aufgrund seiner technischen Ausführung und seiner Materialeigenschaften ein gutes Verhältnis zwischen Kompensation insuffizienter Fußhebermuskulatur, Stabilisierung des unteren und oberen Sprunggelenks sowie aber auch Bewegungsfreiheit bietet. Ein großer Vorteil der Orthese ist in der Erhaltung der natürlichen sensorischen Rückmeldung bezüglich der Bodenverhältnisse zu sehen. Die SAFO ist eine Fußheberorthese, die dem Patienten auch ohne zusätzliches Schuhwerk die volle Funktion und Sicherheit bietet. Daher ist der Einsatz im häuslichen Bereich, beim Gehen mit Sandalen, Hausschuhen oder barfuß, im Nassbereich bzw. beim Schwimmen weit verbreitet.
Für die Autoren:
Nadja Singer
Produktmanagerin
Marketing & Business Development
MedicalCare/Custom Products
Otto Bock HealthCare GmbH
Max-Näder-Straße 15
37115 Duderstadt
nadja.singer@ottobock.de
Begutachteter Beitrag/reviewed paper
Singer N, Hughes M, Zacharias B, Drewitz H. Eine Silikon-Knöchel-Fuß-Orthese als alternatives und ergänzendes Konzept für die Versorgung von Fußheberschwäche. Orthopädie Technik, 2015; 66 (7): 50–52
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