Klas­si­fi­zie­rung von Gang­ty­pen bei Schlag­an­fall zur Stan­dar­di­sie­rung der orthe­ti­schen Versorgung

D. Sabbagh, J. Fior, R. Gentz
Eine Klassifizierung von Gangtypen bei neurologischen Indikationen kann eine orthetische Versorgung optimieren und zur besseren Kommunikation im interdisziplinären Team beitragen. Die Identifikation bestimmter Ausprägungen von Knie- und Fußstellung in „mid stance" erlaubt eine unkomplizierte Beurteilung des Gangbildes nach einem Schlaganfall. In der vorliegenden Untersuchung soll überprüft werden, ob eine Klassifizierung von Schlaganfallpatienten auf Grundlage dieser Parameter gültig ist.

Ein­lei­tung

Bei einem Schlag­an­fall han­delt es sich um eine plötz­li­che Durch­blu­tungs­stö­rung im Gehirn, die auf vas­ku­lä­re Ursa­chen zurück­zu­füh­ren ist. Im bes­ten Fall bleibt die­ses Ereig­nis für den Betrof­fe­nen ohne wei­te­re Beein­träch­ti­gun­gen, meist aber führt ein Schlag­an­fall zu andau­ern­den neu­ro­lo­gi­schen Funk­ti­ons­stö­run­gen oder zum Able­ben des Pati­en­ten 1. Die Unter­ver­sor­gung bestimm­ter Hirn­area­le bewirkt Beein­träch­ti­gun­gen der im Ner­ven­sys­tem gespei­cher­ten Bewe­gungs­pro­gram­me, die sich in Funk­ti­ons­stö­run­gen der aus­füh­ren­den Glied­ma­ßen äußern 2. Die­se Funk­ti­ons­stö­run­gen füh­ren häu­fig zur Ent­wick­lung eines patho­lo­gi­schen Gang­bil­des. Außer­dem kön­nen spas­ti­sche Pare­sen ent­ste­hen, die den Mus­kel­to­nus und die bio­me­cha­ni­schen Eigen­schaf­ten der Mus­ku­la­tur ver­än­dern und damit zusätz­lich das Gang­bild beein­träch­ti­gen 3.

Ist eine Mobi­li­sie­rung mög­lich, liegt das Ziel einer orthe­ti­schen Ver­sor­gung nach einem Schlag­an­fall in der best­mög­li­chen Annä­he­rung an ein phy­sio­lo­gi­sches Gang­bild. Um die­ses The­ra­pie­ziel zu errei­chen, muss das inter­dis­zi­pli­nä­re Team die genau­en Aus­prä­gun­gen der durch den Schlag­an­fall beding­ten Begleit­erschei­nun­gen ken­nen. Für eine Stan­dar­di­sie­rung und Qua­li­täts­si­che­rung der orthe­ti­schen Ver­sor­gung ist es sinn­voll, die Pati­en­ten ent­spre­chend ihrem Gang­typ zu klassifizieren.

Trotz vie­ler gang­ana­ly­ti­scher Stu­di­en fehlt bis heu­te eine ein­heit­li­che Klas­si­fi­ka­ti­on zum Gang­bild nach einem Schlag­an­fall. Im Jahr 1995 klas­si­fi­zier­te Per­ry die Mobi­li­tät von Schlag­an­fall­pa­ti­en­ten. Bei die­ser Unter­su­chung wur­den 147 Pati­en­ten durch die Beur­tei­lung von 19 all­tags­be­zo­ge­nen Situa­tio­nen in 6 funk­tio­nel­le Kate­go­rien (von „Gehen nur zu Übungs­zwe­cken mög­lich” bis „unein­ge­schränk­tes Gehen in der Öffent­lich­keit”) ein­ge­teilt 4. Kri­te­ri­en sind dabei z. B. das Über­win­den von Hin­der­nis­sen oder Trep­pen und die Benut­zung eines Roll­stuh­les. Bei der Erhe­bung der Gang­ty­pen fin­det außer­dem eine Aus­wer­tung der Geh­ge­schwin­dig­keit, der moto­ri­schen Kon­trol­le über die Knie­mus­ku­la­tur und der im Sit­zen ermit­tel­ten Pro­prio­zep­ti­on statt. Die Kate­go­rien zie­len dar­auf ab, die Unab­hän­gig­keit der Pati­en­ten zu Hau­se und in der Öffent­lich­keit zu bestim­men. Auf­grund des hohen Auf­wan­des bei der Erhe­bung der Gang­ty­pen ist die­se Klas­si­fi­ka­ti­on für eine Pla­nung der orthe­ti­schen Ver­sor­gung aller­dings ungeeignet.

Rod­da und Gra­ham haben im Jahr 2001 Pati­en­ten mit spas­ti­scher Hemi­ple­gie und spas­ti­scher Diple­gie unter Berück­sich­ti­gung des Gang­bil­des, der Kör­per­hal­tung und des Ein­flus­ses spas­ti­scher Mus­kel­grup­pen in jeweils vier Gang­ty­pen unter­teilt 5. Dabei sind sowohl für Hemi­ple­gie- als auch für Diple­gie­pa­ti­en­ten zwei ver­schie­de­ne Klas­si­fi­ka­tio­nen auf­ge­stellt wor­den, die die Stel­lung von Hüf­te, Knie und Sprung­ge­lenk mit ein­be­zie­hen. Bei der Ermitt­lung der Gang­ty­pen wer­den die Gelenk­stel­lun­gen sowohl in der Stand- als auch in der Schwung­pha­se aus­ge­wer­tet. Dar­über hin­aus unter­brei­ten die Autoren orthe­ti­sche, ope­ra­ti­ve und medi­ka­men­tö­se Ver­sor­gungs­vor­schlä­ge. Die Klas­si­fi­ka­tio­nen von Rod­da und Gra­ham fin­den kli­nisch weit ver­brei­te­te Anwen­dung, bezie­hen sich aller­dings aus­schließ­lich auf Kin­der mit Cere­bral­pa­re­se, wes­halb eine Anwen­dung bei Schlag­an­fall­pa­ti­en­ten nicht zuläs­sig ist.

Mul­roy hat 2003 in einer Clus­ter­ana­ly­se 52 Schlag­an­fall­pa­ti­en­ten unter funk­tio­nel­len Gesichts­punk­ten hin­sicht­lich ihrer Geh­ge­schwin­dig­keit, Knie­stel­lung in „mid stance” und Knö­chel­stel­lung in „mid swing” in vier ver­schie­de­ne Gang­ty­pen ein­ge­teilt. Bei die­ser Unter­su­chung wur­den Gang­cha­rak­te­ris­ti­ka, Win­kel­ver­läu­fe, Mus­kel­ak­ti­vi­tät und manu­el­le Mus­kel­tests der Pati­en­ten bewer­tet 6. Bei ande­ren Stu­di­en steht eben­falls die Geh­ge­schwin­dig­keit im Fokus 7 8. Die genann­ten Klas­si­fi­ka­tio­nen bie­ten Vor­tei­le, sind für den inter­dis­zi­pli­nä­ren Gebrauch aller­dings nur bedingt geeig­net, da eine schnel­le und unkom­pli­zier­te Beur­tei­lung des Gang­bil­des nicht mög­lich ist.

Dass die Ermitt­lung der ent­spre­chen­den Gang­ty­pen von Pati­en­ten auch mit gerin­gem Auf­wand durch­ge­führt wer­den kann, hat das medi­zi­ni­sche Zen­trum der Frei­en Uni­ver­si­tät Ams­ter­dam (VU medisch cen­trum) bewie­sen. Hier wur­den Kin­der mit Cere­bral­pa­re­se hin­sicht­lich der mus­ku­lä­ren Beein­träch­ti­gun­gen ihres Bewe­gungs­ap­pa­ra­tes unter­sucht. Die dar­aus ent­wi­ckel­te Ams­ter­dam Gait Clas­si­fi­ca­ti­on beschreibt das Gang­bild von CP-Pati­en­ten anhand von Knie­stel­lung und Fuß­kon­takt in „mid stance” 9. Es muss dabei ledig­lich beur­teilt wer­den, ob das Knie eine nor­ma­le, über­streck­te oder gebeug­te Stel­lung ein­nimmt und ob es einen voll­stän­di­gen oder unvoll­stän­di­gen Fuß­kon­takt gibt. Aus die­sen Kri­te­ri­en erge­ben sich fünf ver­schie­de­ne Gang­ty­pen, anhand derer sich die orthe­ti­sche Ver­sor­gung stan­dar­di­sie­ren und opti­mie­ren lässt. Durch die unkom­pli­zier­te Beur­tei­lung des Gang­bil­des erfährt die­se Klas­si­fi­ka­ti­on bei der Pla­nung und Vali­die­rung orthe­ti­scher Ver­sor­gun­gen eine häu­fi­ge Anwen­dung durch das inter­dis­zi­pli­nä­re Team. Da die Ursa­chen und Begleit­erschei­nun­gen des patho­lo­gi­schen Gang­bil­des bei Schlag­an­fall­pa­ti­en­ten zu abwei­chen­den Gang­ty­pen füh­ren, ist eine ein­fa­che Über­tra­gung der Ams­ter­dam Gait Clas­si­fi­ca­ti­on auf die Indi­ka­ti­on Apo­ple­xie jedoch nicht zulässig.

Ziel der vor­lie­gen­den Arbeit war es, mit Hil­fe gang­ana­ly­ti­scher Unter­su­chun­gen von Schlag­an­fall­pa­ti­en­ten Gang­ty­pen zu ermit­teln, die eben­falls auf einer unkom­pli­zier­ten Beur­tei­lung von Knie- und Fuß­stel­lung basieren.

Pati­en­ten und Methoden

Zehn Schlag­an­fall­pa­ti­en­ten (5 m, 5 w) mit spas­ti­scher Hemi­pa­re­se wur­den gang­ana­ly­tisch unter­sucht. Von die­sen Pati­en­ten haben vier einen hämor­rha­gi­schen Infarkt und sechs einen ischä­mi­schen Insult erlit­ten. Dabei waren drei­mal die lin­ke und sie­ben­mal die rech­te Kör­per­sei­te betrof­fen (Tab. 1).

Als Ein­schluss­kri­te­ri­en wur­den eine Func­tion­al Ambu­la­ti­on Cate­go­ry der Stu­fen 3 („Pati­en­ten kön­nen unter Auf­sicht oder ver­ba­ler Anlei­tung gehen”), 4 („Pati­en­ten kön­nen unab­hän­gig auf ebe­nen Flä­chen gehen”) und 5 („Pati­en­ten kön­nen über­all selbst­stän­dig gehen”) sowie ein absol­vier­ter Timed-up-and-go-Test fest­ge­legt. Bei die­sem kli­ni­schen Test wird die Zeit gemes­sen, die ein Pati­ent benö­tigt, um sich aus einem Stuhl mit Arm­leh­nen zu erhe­ben, eine Stre­cke von drei Metern zu gehen, danach umzu­keh­ren und sich wie­der zu set­zen. Anhand die­ser Zeit kön­nen mit Hil­fe einer Ska­la die Mobi­li­täts­ein­schrän­kung und das Sturz­ri­si­ko ermit­telt wer­den. Aus­schluss­kri­te­ri­en für die Mes­sun­gen waren peri­phe­re arte­ri­el­le Ver­schluss­krank­heit (pAVK), Öde­me in den Bei­nen und Schmer­zen beim Gehen. Bei den Mes­sun­gen tru­gen alle Pati­en­ten stan­dar­di­sier­tes Schuh­werk (Halb­schu­he, Klett­ver­schlüs­se, Schuh­spren­gung 2 cm, kei­ne Absatz­rol­le). Als Ana­ly­se­sys­tem kam die Soft­ware „Tem­plo” mit dem Modul „Kli­ni­sche Gang­ana­ly­se” der Fir­ma Con­tem­plas zum Ein­satz. Eine sagit­ta­le Kame­ra (Bas­ler ac640gc100, 100 Hz) stand ortho­go­nal zur Gang­rich­tung auf Knie­hö­he, eine syn­chron ein­ge­stell­te zwei­te Kame­ra (Bas­ler acA2000-50gc, 50 Hz) nahm die frontale/dorsale Ansicht der Pati­en­ten auf. Auf Sacrum, Spi­na ili­a­ca ante­rior supe­ri­or, Tro­chan­ter major, Con­dylus late­ra­lis, Mal­leo­lus late­ra­lis, pro­xi­ma­lem Tuber cal­ca­nei und Os meta­tar­sa­le II wur­den akti­ve LED-Mar­ker ange­bracht und damit die Win­kel­ver­läu­fe von Hüf­te, Knie und obe­rem Sprung­ge­lenk (OSG) sowie der Fuß-Boden-Win­kel über drei kom­plet­te Gang­zy­klen beim Gehen in einer selbst gewähl­ten Geschwin­dig­keit auf gera­der Ebe­ne erho­ben. Anhand des Knie­win­kels fand eine Vor­ein­tei­lung in zwei Grup­pen – einen Gang­typ mit hyper­ex­ten­dier­tem Knie und einen mit hyper­flek­tier­tem Knie – statt (Abb. 1).

Inner­halb die­ser bei­den Grup­pen wur­den von Hüft‑, Knie‑, OSG- und Fuß-Boden-Win­kel die mitt­le­ren Win­kel­wer­te in „mid stance” (10–30 % des Gang­zy­klus) mit einer phy­sio­lo­gi­schen Refe­renz­grup­pe (n = 26, Alter: 27,6 ± 4,5, Grö­ße: 178,1 ± 9,5 cm, Gewicht: 75,6 ± 17,1 kg) ver­gli­chen. Zusätz­lich fand eine Erhe­bung der zeit­li­chen und räum­li­chen Para­me­ter statt. Geh­ge­schwin­dig­keit (m/s), Dop­pel­schritt­län­ge (m), Gang­zy­klus-Dau­er, Antei­le von ein­fach und dop­pelt unter­stütz­ter Pha­se (%) sowie die Kadenz (Schritte/s) wur­den für die Hyper­ex­ten­si­ons- und die Hyper­fle­xi­ons­grup­pe ermit­telt. Hier fand ein Ver­gleich bei­der Grup­pen mit­ein­an­der und mit der phy­sio­lo­gi­schen Refe­renz­grup­pe statt. Zur Unter­su­chung der sta­tis­ti­schen Unter­schie­de wur­de der Wil­coxon-Rang­sum­men­test ver­wen­det. Die Gren­zen der Signi­fi­kanz­ni­veaus lagen bei p = 0,05 und p = 0,01.

Ergeb­nis­se

Hyper­ex­ten­dier­ter Gangtyp

Im gesam­ten Gang­zy­klus weist die Kine­ma­tik aller unter­such­ten Seg­men­te qua­li­ta­ti­ve Unter­schie­de zum phy­sio­lo­gi­schen Gang­bild auf (Abb. 2). Die ermit­tel­ten sta­tis­ti­schen Unter­schie­de bezie­hen sich aus­schließ­lich auf „mid stance”. Mitt­le­rer Hüft- (p = 0,001) und Knie­win­kel (p = 0,003) fal­len sig­nifikant nied­ri­ger aus als das phy­sio­lo­gi­sche Gang­bild. Signi­fi­kan­te Unter­schie­de lie­gen auch beim OSG-Win­kel (p = 0,029) vor (Tab. 2). Der Fuß-Boden-Win­kel zeigt eben­falls einen nied­ri­ge­ren Win­kel­wert, wel­cher aller­dings sta­tis­tisch nicht bewie­sen wer­den konn­te (Abb. 3). In der fron­ta­len Ansicht ist bei vier von fünf Pati­en­ten in „mid stance” außer­dem eine Inver­si­on des unte­ren Sprung­ge­len­kes (USG) sichtbar.

Die Pati­en­ten mit hyper­ex­ten­dier­tem Gang­typ gin­gen mit einer signi­fi­kant gerin­ge­ren Geschwin­dig­keit (0,54 ± 0,25 m/s, p = 0,001), Dop­pel­schritt­län­ge (0,93 ± 0,36 m, p = 0,011) und Kadenz (1,10 ± 0,26 Schritte/s, p = 0,004) im Ver­gleich zur phy­sio­lo­gi­schen Refe­renz­grup­pe. Die Dau­er des gesam­ten Gang­zy­klus ist signi­fi­kant höher (1,91 ± 0,52 s, p = 0,037), wobei 54,60 % auf die ein­fach unter­stütz­te und 45,40 % auf die dop­pelt unter­stütz­te Pha­se ent­fal­len (Tab. 3). Bei die­ser pro­zen­tua­len Auf­tei­lung der ein­fach und der dop­pelt unter­stütz­ten Pha­sen kön­nen kei­ne beweis­ba­ren Unter­schie­de zum phy­sio­lo­gi­schen Gang­bild fest­ge­stellt werden.

Hyper­flek­tier­ter Gangtyp

Qua­li­ta­tiv unter­schei­det sich der hyper­flek­tier­te Gang­typ von der phy­sio­lo­gi­schen Refe­renz­grup­pe durch ins­ge­samt höhe­re Win­kel­ver­läu­fe (Abb. 2). Aller­dings wei­sen bei die­sem Gang­typ aus­schließ­lich die mitt­le­ren Hüft- (p = 0,014) und Knie­win­kel (p = 0,000) in „mid stance” signi­fi­kant höhe­re Mit­tel­wer­te auf als die Refe­renz­grup­pe (Tab. 2). Für OSG- und Fuß-Boden-Win­kel lie­gen kei­ne signi­fi­kan­ten Unter­schie­de vor (Abb. 3). In der fron­ta­len Ansicht ist bei zwei von fünf Pati­en­ten in „mid stance” eine Inver­si­on und bei einem Pati­en­ten eine Ever­si­on des USG zu beobachten.

Ähn­lich wie beim hyper­ex­ten­dier­ten Gang­typ ist die Geh­ge­schwin­dig­keit signi­fi­kant her­ab­ge­setzt (0,60 ± 0,40 m/s, p = 0,005). Glei­ches gilt für die Dop­pel­schritt­län­ge (0,91 ± 0,33 m, p = 0,007) und die Kadenz (1,26 ± 0,30 Schritte/s, p = 0,027). Die Dau­er des Gang­zy­klus ist bei die­sem Gang­typ eben­falls signi­fi­kant ver­rin­gert (1,65 ± 0,35, p = 0,043), wobei 55,60 % auf die ein­fach unter­stütz­te Pha­se und 44,40 % auf die dop­pelt unter­stütz­te Pha­se ent­fal­len (Tab. 3). Die ein­fach und dop­pelt unter­stütz­ten Pha­sen wei­sen signi­fi­kan­te Unter­schie­de zum phy­sio­lo­gi­schen Gang­bild auf (p = 0,028). Der direk­te Ver­gleich der zeit­lich-räum­li­chen Para­me­ter zeigt kei­nen sta­tis­tisch beweis­ba­ren Unter­schied zum hyper­ex­ten­dier­ten Gangtyp.

Dis­kus­si­on

Zeit­lich-räum­li­che Parameter

Bekann­te Unter­su­chun­gen kon­zen­trie­ren sich auf eine Klas­si­fi­zie­rung der Geschwin­dig­keit, bei der die Knie­stel­lung nur ein sekun­dä­res Merk­mal ist 6 10. Durch die in der vor­lie­gen­den Stu­die gewähl­te Metho­dik las­sen sich die ermit­tel­ten Gang­ty­pen nicht hin­sicht­lich ihrer zeit­lich-räum­li­chen Para­me­ter dif­fe­ren­zie­ren. Der Ver­gleich des hyper­ex­ten­dier­ten und des hyper­flek­tier­ten Gang­typs hat kei­ne Unter­schie­de in Geschwin­dig­keit, Dop­pel­schritt­län­ge, Gang­zy­klus-Dau­er oder Kadenz erge­ben. Aller­dings gren­zen sich bei­de Gang­ty­pen durch signi­fi­kant gerin­ge­re Geschwin­dig­keit, Dop­pel­schritt­län­ge und Kadenz vom phy­sio­lo­gi­schen Gang­bild ab, was den Ergeb­nis­sen ver­gan­ge­ner Stu­di­en ent­spricht 11. Auch die Sym­me­trie des Gang­bil­des ist bei den unter­such­ten Pati­en­ten ver­än­dert, was durch den rela­ti­ven Anstieg der dop­pelt unter­stütz­ten und die Abnah­me der ein­fach unter­stütz­ten Pha­se deut­lich wird. Der sta­bi­le­re, bipe­da­le Zustand wird ange­strebt. Ähn­li­che Beob­ach­tun­gen fin­den sich auch in der Lite­ra­tur wie­der 12. Dass für die­se pro­zen­tua­le Auf­tei­lung des Gang­zy­klus nur beim hyper­flek­tier­ten Gang­typ signi­fi­kan­te Ergeb­nis­se vor­lie­gen, kann durch die gro­ßen Vari­an­zen beim hyper­ex­ten­dier­ten Gang­typ begrün­det wer­den. Unklar ist, inwie­weit die Tat­sa­che berück­sich­tigt wer­den muss, dass sowohl die Pati­en­ten­grup­pe als auch die phy­sio­lo­gi­sche Refe­renz­grup­pe in einer indi­vi­du­ell frei gewähl­ten Geschwin­dig­keit ana­ly­siert wurde.

Kine­ma­tik

Bei der vor­lie­gen­den gang­ana­ly­ti­schen Unter­su­chung von Schlag­an­fall­pa­ti­en­ten konn­ten zwei grund­le­gen­de Gang­ty­pen erkannt und vom phy­sio­lo­gi­schen Gang­bild abge­grenzt wer­den. Mit die­ser Arbeit soll eine unkom­pli­zier­te Beur­tei­lung des Gang­bil­des bei Schlag­an­fall­pa­ti­en­ten in „mid stance” vor­ge­stellt wer­den. Den­noch ist für die umfas­sen­de Dis­kus­si­on der vor­lie­gen­den Gang­ty­pen eine Betrach­tung des kom­plet­ten Gang­zy­klus ziel­füh­rend. Sowohl der hyper­ex­ten­dier­te als auch der hyper­flek­tier­te Gang­typ zei­gen die jeweils cha­rak­te­ris­ti­schen Knie­win­kel­ver­läu­fe in der Stand­pha­se und eine ver­min­der­te Knief­le­xi­on in der Schwung­pha­se. Die Ergeb­nis­se der in „mid stance” sta­tis­tisch bewie­se­nen Unter­schie­de zum phy­sio­lo­gi­schen Gang­bild fin­den sich auch bei Per­ry 10 und Mul­roy 6 wieder.

Hüft- und OSG-Win­kel sind bei der Inter­pre­ta­ti­on der Ergeb­nis­se nur sekun­där wich­tig. Die Hüf­te zeigt signi­fi­kan­te Abwei­chun­gen von der Refe­renz­grup­pe. Bei bei­den Gang­ty­pen ist die Hüf­tex­ten­si­on deut­lich ein­ge­schränkt. Der Win­kel­ver­lauf des OSG zeigt eine ver­min­der­te Dor­sal­ex­ten­si­on in der Schwung­pha­se und im „initi­al cont­act” den soge­nann­ten „drop foot” (Fall­fuß) sowie eine ver­min­der­te Plant­ar­fle­xi­on in „initi­al swing”. Dar­über hin­aus fällt beim hyper­ex­ten­dier­ten Gang­typ wäh­rend „mid stance” der OSG-Win­kel signi­fi­kant gerin­ger aus. Dadurch wird deut­lich, wie die unter­such­ten Win­kel von­ein­an­der abhängen.

Der Fuß-Boden-Win­kel soll Auf­schluss über den Fuß­kon­takt in „mid stance” geben. Da bei bei­den Gang­ty­pen sowohl qua­li­ta­tiv als auch sta­tis­tisch kei­ne Unter­schie­de die­ses Win­kels im Ver­gleich zur Refe­renz­grup­pe erkenn­bar sind, ist die­ser Para­me­ter bei Schlag­an­fall­pa­ti­en­ten anders als bei CP-Pati­en­ten nicht von Bedeu­tung 9.

Das für die Gewin­nung der kine­ma­ti­schen Daten ver­wen­de­te Gang­ana­ly­se­sys­tem ist im Gegen­satz zu heu­te stan­dard­mä­ßig ver­wen­de­ten 3‑D-Ana­ly­se­sys­te­men nur begrenzt aus­sa­ge­fä­hig. Durch den beschrie­be­nen, sorg­fäl­tig geplan­ten Mess­auf­bau kön­nen jedoch in der Stand­pha­se ver­läss­li­che Daten erho­ben werden.

Die bei bei­den Gang­ty­pen in „mid stance” beob­ach­te­te ver­än­der­te USG-Stel­lung spielt eine ent­schei­den­de Rol­le bei der Klas­si­fi­zie­rung von Schlag­an­fall­pa­ti­en­ten. Durch den gewähl­ten Mess­auf­bau und die Metho­dik wur­de die fron­ta­le Ansicht nicht aus­rei­chend berück­sich­tigt, um die vor­ge­nom­me­nen Beob­ach­tun­gen zu quan­ti­fi­zie­ren. Ein­fluss und Aus­prä­gung von Inver­si­ons- und Ever­si­ons­stel­lung des USG müs­sen in zukünf­ti­gen Unter­su­chun­gen stär­ker mit ein­be­zo­gen werden.

N.A.P. Gait Classification

Die Phy­sio­the­ra­peu­tin Rena­ta Horst hat basie­rend auf ihren Erfah­run­gen in der manu­el­len The­ra­pie von Hemi­ple­gie­pa­ti­en­ten eine Klas­si­fi­ka­ti­on des Gang­bil­des von Schlag­an­fall­pa­ti­en­ten erstellt. „N.A.P.” steht für „Neuro­orthopädische Akti­vi­täts­ab­hän­gi­ge Plas­ti­zi­tät” und wird als inte­gra­ti­ve, neu­ro­or­tho­pä­di­sche The­ra­pie in vie­len Berei­chen der Reha­bi­li­ta­ti­on (neu­ro­lo­gisch, ortho­pä­disch und trau­ma­to­lo­gisch) sowie in der Prä­ven­ti­on ange­wen­det. Gemäß der N.A.P. Gait Clas­si­fi­ca­ti­on wer­den Schlag­an­fall­pa­ti­en­ten in einen hyper­ex­ten­dier­ten und einen hyper­flek­tier­ten Gang­typ ein­ge­teilt, deren Knie­stel­lung eine vor­lie­gen­de Talus­fehl­stel­lung in Inver­si­on oder Ever­si­on kom­pen­siert (Abb. 4). Aus der Kom­bi­na­ti­on von Knie- und Talusstel­lung erge­ben sich vier ver­schie­de­ne Gang­ty­pen, mit denen die The­ra­pie­fin­dung im inter­dis­zi­pli­nä­ren Team ver­ein­facht wer­den kann 13. Mit den Ergeb­nis­sen der vor­lie­gen­den gang­ana­ly­ti­schen Unter­su­chun­gen konn­ten die Gang­ty­pen die­ser Klas­si­fi­ka­ti­on iden­ti­fi­ziert und bestä­tigt wer­den. Die Gül­tig­keit der N.A.P. Gait Clas­si­fi­ca­ti­on, beson­ders die Abwei­chun­gen des USG in der fron­ta­len Ansicht, muss in wei­te­ren Stu­di­en über­prüft werden.

Schluss­fol­ge­rung

Schlag­an­fall­pa­ti­en­ten wei­sen typi­sche Cha­rak­te­ris­ti­ka in der Einschränk­u­ng ihrer neu­ro­mus­ku­lä­ren Akti­vi­tät auf. Die­se Ein­schrän­kun­gen äußern sich in einer her­ab­ge­setz­ten Geh­ge­schwin­dig­keit, Dop­pel­schritt­län­ge und Kadenz. Es zeigt sich ein asym­me­tri­sches Gang­bild mit einer deut­lich her­ab­ge­setz­ten ein­fach unter­stütz­ten Pha­se. Beim Gehen weist das Knie in „mid stance” eine Hyper­ex­ten­si­on oder eine Hyper­fle­xi­on auf, die mit einer Win­kel­ver­än­de­rung in Hüf­te und OSG ein­her­geht. Im USG liegt eine Inver­si­on oder Ever­si­on vor. Mit einer Klas­si­fi­ka­ti­on die­ser Gang­pa­ra­me­ter las­sen sich orthe­ti­sche und phy­sio­the­ra­peu­ti­sche Maß­nah­men bei Schlag­an­fall struk­tu­rie­ren und opti­mie­ren. In einer wei­ter­füh­ren­den Unter­su­chung wur­den basie­rend auf die­ser Klas­si­fi­ka­ti­on orthe­ti­sche Ver­sor­gungs­vor­schlä­ge zum Auf­bau eines inter­dis­zi­pli­nä­ren Ver­sor­gungs­kon­zep­tes erstellt und eva­lu­iert. Mit der N.A.P. Gait Clas­si­fi­ca­ti­on wur­de ein ein­fa­ches und prak­ti­ka­bles Sys­tem ent­wi­ckelt, wel­ches durch die Ver­bes­se­rung der inter­dis­zi­pli­nä­ren Kom­mu­ni­ka­ti­on zur Struk­tu­rie­rung und Opti­mie­rung der orthe­ti­schen Ver­sor­gung nach einem Schlag­an­fall beiträgt.

Für die Autoren:
Dipl.-Ing. (FH) Dani­el Sabbagh
Fior & Gentz Gesell­schaft für Ent­wick­lung und Ver­trieb von ortho­pä­die­tech­ni­schen Sys­te­men mbH
Wis­sen­schaft­li­che Redaktion
Doret­te-von-Stern-Stra­ße 5
21337 Lüne­burg
daniel.sabbagh@fior-gentz.de

Begut­ach­te­ter Beitrag/reviewed paper

Zita­ti­on
Sab­bagh D, Fior J, Gentz R. Klas­si­fi­zie­rung von Gang­ty­pen bei Schlag­an­fall zur Stan­dar­di­sie­rung der orthe­ti­schen Ver­sor­gung. Ortho­pä­die Tech­nik, 2015; 66 (3): 52–57
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