Gang­ana­ly­se in der Ortho­pä­die- Tech­nik – Grund­la­gen und kli­ni­sche Anwendungsmöglichkeiten

T. Schlemmer
Die Ganganalyse ist ein wertvolles Instrument zur Indikationsstellung, Überprüfung und Verbesserung orthopädietechnischer Hilfsmittel. Je nach Fragestellung kann dies mit einer einfachen Video- oder Laufbanddiagnostik oder, insbesondere bei komplexen Situationen, mit dem Goldstandard – der dreidimensionalen instrumentierten Ganganalyse – erfolgen.

Die Erfas­sung von Kine­ma­tik und Kine­tik erlaubt die Beur­tei­lung von Patho­lo­gien auf meh­re­ren Ebe­nen der unte­ren Extre­mi­tä­ten, etwa bei Pati­en­ten mit spas­ti­scher infan­ti­ler Zere­bral­pa­re­se, was kli­nisch nicht immer mög­lich ist. Die Anwen­dung unnö­ti­ger oder insuf­fi­zi­en­ter Hilfs­mit­tel kann so ver­mie­den wer­den; bei bestehen­den Hilfs­mit­teln kann die Funk­ti­on ver­bes­sert und somit eine maxi­ma­le Hil­fe­stel­lung im All­tag erreicht werden.

Ein­lei­tung

Der Wunsch, den Vor­gang des Gehens zu ver­ste­hen und den Ablauf eines Gang­zy­klus zu ver­mes­sen, besteht schon lan­ge. Bereits der grie­chi­sche Phi­lo­soph Aris­to­te­les (384– 322 v. Chr.) hat dies in sei­nem Werk „De motu ani­ma­li­um“ anhand von Pfer­den durch Beob­ach­tung ver­sucht 1. Jedoch konn­te erst mit der Ent­wick­lung der Foto­gra­fie das Gang­bild auch doku­men­tiert wer­den: Éti­en­ne-Jules Marey ließ im Jahr 1868 mit wei­ßen Leucht­strei­fen prä­pa­rier­te Pro­ban­den beim Gehen foto­gra­fie­ren, was zumin­dest eine zwei­di­men­sio­na­le Aus­wer­tung erlaub­te 2. Eben­falls um die­se Zeit ent­wi­ckel­te Gas­ton Car­let Druck­luft­sen­so­ren, die in die Schu­he ein­ge­baut wur­den, um eine Unter­schei­dung von Stand- und Schwung­pha­se zu ermög­li­chen. Um 1895 ent­wi­ckel­ten die Mili­tär­ärz­te Otto Fischer und Chris­ti­an Wil­helm Brau­ne unter Zuhil­fe­nah­me eines zwei­ten, im 90-Grad-Win­kel zum ers­ten auf­ge­stell­ten Foto­ap­pa­ra­tes die Grund­zü­ge der bis in die Gegen­wart gebräuch­li­chen drei­di­men­sio­na­len Gang­ana­ly­se, die heu­te aller­dings um eini­ges aus­ge­feil­ter ist. Eine Aus­wer­tung der beim Gehen auf­tre­ten­den Kräf­te (Kine­tik) erfolg­te seit dem Beginn des 20. Jahr­hun­derts, nach­dem ent­spre­chen­de in den Boden ein­ge­ar­bei­te­te Druck­mess­plat­ten ent­wi­ckelt wor­den waren.

Gang­ana­ly­se heute

Durch die kon­ti­nu­ier­li­che tech­ni­sche Ent­wick­lung ste­hen heu­te umfang­rei­che Metho­den zur Ver­mes­sung sowohl des phy­sio­lo­gi­schen Gehens als auch der mög­li­chen patho­lo­gi­schen Situa­tio­nen zur Ver­fü­gung. Die heu­te gebräuch­li­chen Ana­ly­se­me­tho­den umfas­sen die ein­fa­che Video­ana­ly­se und die Lauf­band­ana­ly­se, die bei ein­fa­chen Fra­ge­stel­lun­gen ein­ge­setzt wer­den kön­nen, sowie den Gold­stan­dard, die drei­di­men­sio­na­le instru­men­tier­te Gang­ana­ly­se, die zudem die Basis für Modell­rech­nun­gen (Model­ling) mit­tels diver­ser Com­pu­ter­si­mu­la­tio­nen lie­fert. Die Vor- und Nach­tei­le der genann­ten Ana­ly­se­va­ri­an­ten sind in Tabel­le 1 aufgeführt.

 

Kli­ni­sche Beurteilung Video­ana­ly­se Lauf­band­ana­ly­se 3D-Ana­ly­se
Bewe­gun­gen zu schnell, verzerrt ver­zerrt ver­zerrt drei­di­men­sio­nal
Slow Moti­on kei­ne ja ja ja
Mus­kel­ak­ti­vi­tät kei­ne (EMG) (EMG) EMG/Modelling
Kräf­te generell kei­ne kei­ne even­tu­ell 3D
Kräf­te Detail kei­ne kei­ne kei­ne Model­ling

Tab. 1 Ver­gleich der ver­schie­de­nen Ana­ly­se­mög­lich­kei­ten mit Vor- und Nachteilen.

Neue­re Sys­te­me mit High­speed-Kame­ras erlau­ben zudem eine mark­erlo­se Ana­ly­se über eine Erken­nung der Sil­hou­et­te sowie ein soge­nann­tes Hybrid­ver­fah­ren als Mix zwi­schen mark­erlo­ser und instru­men­tier­ter Gang­ana­ly­se, das deut­lich weni­ger Mar­ker benö­tigt als bei einer her­kömm­li­chen mar­ker­ba­sier­ten Ana­ly­se. Das bedeu­tet eine Zeit­er­spar­nis im kli­ni­schen All­tag bei iden­ti­scher Genau­ig­keit 34. Die mark­erlo­se Ana­ly­se ist vor allem im Bereich des Fußes und des Beckens, also Kör­per­tei­len, die beim Gehen ihre Form wenig ver­än­dern, noch ungenauer.

Ablauf einer drei­di­men­sio­na­len instru­men­tier­ten Ganganalyse

Zu jeder Gang­ana­ly­se gehört eine aus­führ­li­che kör­per­li­che Unter­su­chung, die den Bewe­gungs­um­fang der Gelen­ke, die Mus­kel­kraft, eine all­fäl­li­ge Spas­ti­zi­tät der Mus­ku­la­tur sowie die Kör­per­ma­ße doku­men­tiert. Anschlie­ßend wird je nach ver­wen­de­tem Sys­tem eine grö­ße­re oder klei­ne­re Zahl reflek­tie­ren­der oder ein Signal erzeu­gen­der Mar­ker auf defi­nier­te Stel­len am Kör­per des Pro­ban­den geklebt. Eine Vari­an­te der mög­li­chen Mar­ker­po­si­tio­nen am gesam­ten Kör­per ist in Abbil­dung 1 dar­ge­stellt. Durch die Mar­ker wer­den die Extre­mi­tä­ten in meh­re­re Seg­men­te ein­ge­teilt; die Bewe­gung die­ser Seg­men­te gegen­ein­an­der wird abge­bil­det. Bei der eigent­li­chen Ana­ly­se lau­fen die Pro­ban­den mehr­mals eine defi­nier­te Stre­cke ab und wer­den dabei von meh­re­ren Kame­ras gefilmt (Abb. 2). Die beim Gehen auf­tre­ten­den Kräf­te wer­den mit in den Boden ein­ge­ar­bei­te­ten Kraft­mess­plat­ten auf­ge­nom­men. Anschlie­ßend erfolgt die Aus­wer­tung mit Hil­fe ver­schie­de­ner Com­pu­ter­pro­gram­me. Als Ergeb­nis wer­den Kur­ven erstellt, wel­che die Stel­lung jedes Gelen­kes (Kine­ma­tik) zu jedem Zeit­punkt des Gang­zy­klus abbil­den, sowie Kur­ven, die die dabei auf­tre­ten­de Kräf­te (Kine­tik) abbil­den. Ein Bei­spiel einer kine­ma­ti­schen Kur­ve ist Abbil­dung 3 zu ent­neh­men. Zudem wird die Mus­kel­ak­ti­vi­tät der ober­fläch­li­chen Mus­ku­la­tur der unte­ren Extre­mi­tä­ten durch Elek­tro­m­yo­gra­fie über kabel­lo­se Sen­so­ren auf­ge­zeich­net, was einen Rück­schluss auf den Zeit­punkt von Akti­vi­tät und Inak­ti­vi­tät der ent­spre­chen­den Mus­kel­grup­pen zu jedem Zeit­punkt eines Gang­zy­klus zulässt.

Kine­ma­ti­sche Aus­wer­tung der Ganganalyse

Um die fol­gen­den Bei­spie­le bes­ser ver­ste­hen zu kön­nen, wird zunächst die kine­ma­ti­sche Aus­wer­tung einer Gang­la­bor­kur­ve erläu­tert. Auf die Aspek­te Kine­tik sowie Elek­tro­m­yo­gra­fie wird zur Ver­ein­fa­chung ver­zich­tet. In den meis­ten Labo­ren wird das lin­ke Bein durch eine rote Linie, das rech­te Bein durch eine blaue Line dar­ge­stellt. Grau hin­ter­legt ist die Norm­kur­ve, die die Bewe­gung des Durch­schnitts einer gesun­den Popu­la­ti­on dar­stellt (sie­he das Bei­spiel in Abb. 3). Abge­bil­det wird ein Gang­zy­klus von 0 bis 100 % in der Sagittal‑, Fron­tal- und Coro­nare­be­ne auf der x‑Achse des Dia­gramms. Jedes Gelenk wird in jeder Ebe­ne dar­ge­stellt. Der Gang­zy­klus wird in eine Stand­pha­se, in wel­cher der Fuß Boden­kon­takt hat, und eine Schwung­pha­se, in der er kei­nen Boden­kon­takt hat, unter­teilt. Die bei­den Pha­sen wer­den zudem in meh­re­re Unter­pha­sen seg­men­tiert (Tab. 2 u. 3).

 

 

Stand­pha­sen Initia­ler Bodenkontakt

 

Belas­tungs­ant­wort

 

Mitt­le­re Standphase

 

Stand­pha­se­n­en­de

 

Gang­zy­klus 0 % 0–12 % 12‑31 % 31‑50 %
Hüf­te 20° Fle­xi­on 20° Fle­xi­on 0° Fle­xi­on -20° Hyper­ex­ten­si­on
Knie 0°–5° Fle­xi­on 20° Fle­xi­on 0°–5° Fle­xi­on 0°–5° Fle­xi­on
Sprung­ge­lenk 5°–10° Plant­ar­fle­xi­on 5° Dor­sal­fle­xi­on 10° Dor­sal­fle­xi­on
Funk­ti­on Fer­sen­kon­takt mit

dem Boden

 

Stoß­dämp­fung in Knie und Sprunggelenk

 

Last­über­nah­me und

Sta­bi­li­tät in der Hüfte

 

 

 

kon­trol­lier­te Vorwärtsbewegung

der Tibia

 

Ver­la­ge­rung des

Schwer­punk­tes

nach vor­ne

 

kon­trol­lier­te Dor­sal­ex­ten­si­on am Sprung­ge­lenk mit Ablö­sung der Fer­se vom Boden

 

 

 

Schwung-pha­sen Schwung­pha­sen-

vor­be­rei­tung

 

Initia­le Schwungphase

 

Mitt­le­re Schwungphase

 

Ter­mi­na­le Schwungphase

 

Gang­zy­klus 50–62 % 62–75 % 75–87 % 87–100 %
Hüf­te -10° Hyper­ex­ten­si­on 15° Fle­xi­on 25° Fle­xi­on 20° Fle­xi­on
Knie 40° Fle­xi­on 60°–70° Fle­xi­on 25° Fle­xi­on 0°–5° Fle­xi­on
Sprung­ge­lenk 15° Plant­ar­fle­xi­on 5° Plant­ar­fle­xi­on
Funk­ti­on pas­si­ve Knie­ge­lenks-fle­xi­on von 40°

 

Plant­ar­fle­xi­on des Sprunggelenks

 

mind. 55° Knief­le­xi­on für genü­gend Bodenfreiheit

 

zuneh­men­de Hüft­fle­xi­on auf 25°

 

Dor­sal­ex­ten­si­on des

Sprung­ge­lenks bis

Neu­tral-Null-Stel­lung

 

Knie­ge­lenk­ex­ten­si­on

bis Neu­tral-Fle­xi­on

 

Vor­be­rei­tung auf

Stand­pha­se

 

Tab. 2 und 3 Über­sicht über die ein­zel­nen Pha­sen eines Gangzyklus.

 

Die bei­den Pha­sen wer­den durch einen senk­rech­ten roten und blau­en Strich unter­teilt, der beim Gesun­den bei etwa 60 % des Gang­zy­klus liegt. In hori­zon­ta­ler Ebe­ne (y- Ach­se) wer­den je nach Bewe­gungs­ebe­ne und Gelenk die Aspek­te Flexion/ Exten­si­on, Innen-/Au­ßen­ro­ta­ti­on, Abduktion/Adduktion, Valgus/Varus sowie anterior/posterior durch eine schwar­ze Linie getrennt und in Grad ange­ge­ben. Die Abwei­chun­gen von der Norm­kur­ve wer­den eva­lu­iert und zur Aus­wer­tung herangezogen.

All­ge­mei­ne Anwen­dun­gen der Ganganalyse

Im kli­ni­schen All­tag der Ortho­pä­die, ins­be­son­de­re der Neu­ro­or­tho­pä­die, wird die Gang­ana­ly­se zur Ver­laufs­kon­trol­le einer all­fäl­li­gen Ver­schlech­te­rung der Geh­leis­tung, zur Indi­ka­ti­ons­stel­lung sowie zur Pla­nung und Über­prü­fung kon­ser­va­ti­ver und ope­ra­ti­ver The­ra­pien ver­wen­det. Auge und Gehirn des Men­schen kön­nen kom­ple­xe Bewe­gungs­ab­läu­fe und auch das Zusam­men­spiel von mecha­ni­scher Bewe­gung, auf­tre­ten­den Kräf­ten und Mus­kel­ak­ti­vi­tät nur in begrenz­tem Maß auf­neh­men und ver­ar­bei­ten. Zur genau­en Beur­tei­lung der Abläu­fe beim Gehen, ins­be­son­de­re bei einem patho­lo­gi­schen Gang­bild, stellt die Gang­ana­ly­se ein wert­vol­les dia­gnos­ti­sches Hilfs­mit­tel dar, das die Abläu­fe beim Gehen erkenn­bar und aus­wert­bar macht. In den wei­te­ren Aus­füh­run­gen wird ins­be­son­de­re auf die Ver­wen­dung der Gang­ana­ly­se inner­halb der Ortho­pä­die-Tech­nik eingegangen.

Fall­bei­spie­le: Die Rol­le der Gang­ana­ly­se in der Orthopädie-Technik

Die Indi­ka­ti­on für eine Orthe­se oder Pro­the­se sowie für Schuh­ver­sor­gun­gen kann bis zu einem gewis­sen Grad kli­nisch gestellt wer­den. Bei schwie­ri­gen Situa­tio­nen wie Patho­lo­gien auf meh­re­ren Ebe­nen der unte­ren Extre­mi­tät, etwa bei Pati­en­ten mit spas­ti­scher infan­ti­ler zere­bra­ler Tetrapa­re­se, oder in Grenz­fäl­len hilft die Gang­ana­ly­se, die Ent­schei­dung für das opti­ma­le Hilfs­mit­tel zu fäl­len. Abbil­dung 4 gibt die kine­ma­ti­sche Gang­kur­ve des Sprung­ge­len­kes und des Knie­ge­len­kes in der Sagit­tal­ebe­ne eines Pati­en­ten mit spas­ti­scher Hemi­pa­re­se rechts wie­der. Es zeigt sich eine deut­li­che Spitz­fuß­stel­lung rechts mit Hyper­ex­ten­si­on des rech­ten Knie­ge­len­kes. Abbil­dung 5 zeigt die Gang­kur­ve des­sel­ben Pati­en­ten nach einer ope­ra­ti­ven Ver­län­ge­rung der Achil­les­seh­ne sowie einer Ver­kür­zung der Tibia­lis-ante­rior-Seh­ne zur Kor­rek­tur des Spitz- und Fall­fu­ßes. Es zeigt sich ein noch ver­blei­ben­der gering aus­ge­präg­ter Fall­fuß bei nun nicht mehr vor­han­de­ner Spitz­fuß­stel­lung sowie regel­rech­ter Knie­stre­ckung rechts; ledig­lich zu Beginn der Stand­pha­se ist die Knie­beu­gung etwas ver­min­dert. Zudem ver­bleibt noch ein feh­len­der initia­ler Boden­kon­takt mit der Fer­se  der in einem unphy­sio­lo­gi­schen retro­gra­den Abrol­len resul­tiert. Auf­grund die­ser Daten wur­de der Pati­ent ledig­lich mit einer Fuß­he­ber­schie­ne vom Typ Hei­del­berg ver­sorgt, die sein Gang­bild sowohl am Sprung­ge­lenk als auch am Knie­ge­lenk bei­na­he nor­ma­li­sie­ren konn­te (Abb. 6).

Durch die Gang­la­bor­ana­ly­se konn­te gezeigt wer­den, dass der Pati­ent kei­ne dyna­mi­sche Unter­schen­kel­or­the­se mehr benö­tigt, was kli­nisch bei die­sem Grenz­fall nicht sicher zu ent­schei­den war. Zudem erlaubt die Gang­ana­ly­se die Kon­trol­le der erfolg­ten ortho­pä­die­tech­ni­schen Ver­sor­gung, um eine opti­ma­le Funk­ti­on zu gewähr­leis­ten. Die kine­ma­ti­schen Gang­kur­ven in Abbil­dung 7 zei­gen die Sagit­tal­ebe­ne des Fuß-Boden-Win­kels eines Pati­en­ten mit spas­ti­scher zere­bra­ler Tetrapa­re­se. Auf bei­den Sei­ten besteht beim initia­len Boden­kon­takt ein spitz­fü­ßi­ges Auf­tre­ten, das heißt, der ers­te Boden­kon­takt erfolgt unphy­sio­lo­gisch nicht mit der Fer­se, son­dern im Bereich des Mit­tel- oder Vor­fu­ßes. Die Patho­lo­gie ist nur gering aus­ge­prägt und beträgt nur weni­ge Grad. Den­noch hat dies Aus­wir­kun­gen auf das Gang­bild des Pati­en­ten: Ein retro­gra­des Abrol­len des Fußes führt zu einem weni­ger flüs­si­gen Gang­bild und kann zu Über­las­tungs­re­ak­tio­nen am Fuß sowie den angren­zen­den Gelen­ken füh­ren; es kann sogar Ein­fluss auf die Knie- und Hüft­ge­len­ke haben. Abbil­dung 8 zeigt die Ergeb­nis­se für den­sel­ben Pati­en­ten bei der Ver­wen­dung stei­fer Unter­schen­kel­or­the­sen. Per Gang­ana­ly­se kann gezeigt wer­den, dass er nun einen siche­ren Fer­sen­bal­len­gang erreicht – die Kur­ve beginnt bei 0 % des Gang­zy­klus deut­lich in Dor­sal­ex­ten­si­on. Die Gang­ge­schwin­dig­keit steigt mit die­ser Ver­sor­gung von sehr lang­sa­men 0,3 Metern pro Sekun­de auf 0,75 Meter pro Sekun­de (Norm: 1,34 Meter pro Sekunde).

Neben der funk­tio­nel­len Kon­trol­le bestehen­der Orthe­sen kann auch eine insuf­fi­zi­en­te Ver­sor­gung auf­ge­zeigt wer­den: Abbil­dung 9 zeigt die Kine­ma­tik des Sprung­ge­len­kes sowie des Knie­ge­len­kes einer erwach­se­nen Pati­en­tin mit Hemi­pa­re­se links nach einem Schlag­an­fall. Sie lei­det unter Knie­schmer­zen auf der lin­ken Sei­te und war bei Erst­vor­stel­lung mit einer Fuß­he­ber­schie­ne Typ Hei­del­berg ver­sorgt. Es zeigt sich bar­fuß (s. Abb. 9) im Sprung­ge­lenk eine leicht ver­mehr­te Plant­ar­fle­xi­on in der Stand­pha­se sowie eine Fall­fü­ßig­keit in den letz­ten 20 % des Gang­zy­klus. Das lin­ke Knie­ge­lenk ist in der gesam­ten Stand­pha­se mas­siv hyper­ex­ten­diert, was für die Knie­schmer­zen ver­ant­wort­lich sein kann. Abbil­dung 10 zeigt die kine­ma­ti­sche Kur­ve mit der bestehen­den Ver­sor­gung mit­tels einer kon­fek­tio­nier­ten Fuß­he­ber­schie­ne vom Typ Hei­del­berg. Die Fall­fü­ßig­keit kann damit gut kor­ri­giert wer­den; das Knie­ge­lenk bleibt aller­dings unbe­ein­flusst, da die Schie­ne zu weich ist, um es kon­trol­lie­ren zu kön­nen. Auch besteht nach wie vor eine ver­mehr­te Plant­ar­fle­xi­on im Sprung­ge­lenk in der Stand­pha­se. Mit der im Anschluss an die Gang­ana­ly­se emp­foh­le­nen maß­ge­fer­tig­ten Unter­schen­kel­or­the­se mit einem Gelenk, das eine Dor­sal­fle­xi­on im Sprung­ge­lenk zulässt, aber die Plant­ar­fle­xi­on sperrt und somit die Hyper­ex­ten­si­on im Knie­ge­lenk in der Stand­pha­se limi­tiert, war die Pati­en­tin rasch beschwerdefrei.

„Orthe­sen­tu­ning“

Das Ziel einer jeden orthe­ti­schen Ver­sor­gung soll­te die best­mög­li­che Funk­ti­on des Hilfs­mit­tels und somit eine hohe Akzep­tanz und eine adäqua­te Unter­stüt­zung im All­tag sein. Dabei spie­len neben Gewicht, Optik und Tra­ge­kom­fort auch funk­tio­nel­le Aspek­te eine Rol­le. Ein Hilfs­mit­tel, das dem Pati­en­ten nicht hilft, wird bekann­ter­ma­ßen nicht ver­wen­det. Die Anfer­ti­gung eines Hilfs­mit­tels nach Maß bedeu­tet einen gro­ßen zeit­li­chen und finan­zi­el­len Auf­wand, daher soll­te es auch opti­mal funk­tio­nie­ren. Um das zu errei­chen, kann die Gang­ana­ly­se wert­vol­le Hin­wei­se lie­fern. Ein­stell­ba­re Feder­ge­len­ke an fle­xi­blen Unter­schen­kel­or­the­sen las­sen sich ent­spre­chend den Bedürf­nis­sen der Pati­en­ten ein­stel­len, um etwa eine zu aus­ge­präg­te Dor­sal­fle­xi­on im Sprung­ge­lenk in der Stand­pha­se zu mini­mie­ren, die zudem zu einer ver­mehr­ten Knie­beu­gung führt, was lang­fris­tig nega­ti­ve Aus­wir­kun­gen auf die Mobi­li­tät haben und zu Gelenk­kon­trak­tu­ren füh­ren kann.

Bei Pati­en­ten mit Kau­er­gang, also einer ver­mehr­ten Dor­sal­fle­xi­on des Sprung­ge­len­kes und einer ver­mehr­ten Beu­gung der Knie­ge­len­ke sowie der Hüft­ge­len­ke in der Stand­pha­se, kann die Höhe des Orthe­sen­ab­sat­zes und somit die Vor- respek­ti­ve die Rück­la­ge des Unter­schen­kels in Bezug zum Boden eru­iert und not­falls kor­ri­giert wer­den, was kli­nisch in glei­cher Genau­ig­keit nicht mög­lich ist. Auch die Aus­rich­tung der Füße in Gang­rich­tung, der soge­nann­te „foot pro­gres­si­on ang­le“, kann mit­tels Gang­ana­ly­se visua­li­siert und durch Anpas­sun­gen an der Orthe­se kor­ri­giert wer­den. Es erge­ben sich somit viel­fäl­ti­ge Mög­lich­kei­ten, die Orthe­se an die bestehen­de Patho­lo­gie und die Bedürf­nis­se des Pati­en­ten indi­vi­du­ell anzupassen.

Gang­ana­ly­se in der Schuhtechnik

Im Bereich Schuh­tech­nik lie­fert die Pedo­ba­ro­gra­fie bereits Hin­wei­se auf erhöh­te Druck­be­las­tun­gen, die zur Ver­mei­dung von Druckul­zera abge­fan­gen wer­den müs­sen. Eine sol­che Unter­su­chung ist aller­dings sta­tisch und spie­gelt somit nicht die vor­herr­schen­den Druck­ver­hält­nis­se beim Gehen wider. Die Gang­ana­ly­se erlaubt mit­tels spe­zi­el­ler Metho­den wie zum Bei­spiel dem „Oxford Foot Model“ 5[5] eine Dar­stel­lung der Bewe­gun­gen des Fußes beim Gehen.

Mit­tels com­pu­ter­un­ter­stütz­ter Model­lie­rung und Fini­te- Ele­men­te-Berech­nun­gen kön­nen in Zusam­men­schau mit einem indi­vi­du­el­len Rönt­gen­bild des Pati­en­ten drei­di­men­sio­na­le Fuß­mo­del­le aus einer drei­di­men­sio­na­len Rekon­struk­ti­on des Com­pu­ter­to­mo­gramms eines gesun­den Norm­fu­ßes model­liert (Abb. 11) und die Druck- und Zug­span­nun­gen in den ein­zel­nen Kno­chen des Fußes dar­ge­stellt wer­den, und zwar zu jedem Zeit­punkt der Stand­pha­se eines Gang­zy­klus. Somit kön­nen ein­zel­ne Über­las­tun­gen dar­ge­stellt und mit­tels ortho­pä­die­tech­ni­scher Bet­tung exakt abge­fan­gen wer­den. Des Wei­te­ren kann die Fle­xi­bi­li­tät des Fußes – zum Bei­spiel des Rück­fu­ßes gegen­über dem Vor­fuß – dar­ge­stellt wer­den, um zu beur­tei­len, ob eine kor­ri­gie­ren­de Schuh­ver­sor­gung sinn­voll ist oder ob sie – bei einem zu rigi­den Fuß – wahr­schein­lich zu Druck­stel­len füh­ren wür­de und eine In-situ-Bet­tung des Fußes sinn­vol­ler ist.

Limi­tie­run­gen der Ganganalyse

Nicht jede Fra­ge­stel­lung von Inter­es­se kann mit einer Gang­la­bor­ana­ly­se beant­wor­tet wer­den. So las­sen sich zwar mit­tels Druck­mes­s­ein­la­gen die vor­herr­schen­den Druck­ver­hält­nis­se in einer Unter­schen­kel- oder Fuß­or­the­se oder einem Maß­schuh mes­sen – die Bewe­gun­gen des Fußes im Hilfs­mit­tel las­sen sich aber nicht dar­stel­len, somit auch nicht die Kor­rek­tur der Fuß­form durch das Hilfs­mit­tel. Auch die Bewe­gun­gen im Hilfs­mit­tel selbst, etwa Ver­win­dun­gen beim Lau­fen, las­sen sich nicht gut wiedergeben.

Limi­tie­rend kann es sich des Wei­te­ren aus­wir­ken, wenn das Hilfs­mit­tel wäh­rend der Ana­ly­se nicht kor­rekt getra­gen wird: Wenn zum Bei­spiel der Fuß mit der Fer­se aus dem Maß­schuh rutscht, da die­ser nicht kor­rekt geschlos­sen ist, ist kei­ne kor­rek­te Ana­ly­se des Hilfs­mit­tels mög­lich, und die Ergeb­nis­se wer­den ver­fälscht. Neben die­sen spe­zi­el­len Limi­tie­run­gen gibt es auch all­ge­mei­ne Ein­schrän­kun­gen. So ist eine Gang­ana­ly­se erst ab etwa dem 6. Lebens­jahr sinn­voll, da vor­her eine Com­pli­ance für eine sol­che teil­wei­se zeit­auf­wen­di­ge Unter­su­chung noch nicht gege­ben ist. Zudem ist eine Kör­per­grö­ße von etwa einem Meter nötig, um die diver­sen Mar­ker in genü­gend Abstand zuein­an­der plat­zie­ren zu kön­nen. Ein wei­te­rer kri­ti­scher Aspekt ist schließ­lich die arti­fi­zi­el­le Labor­si­tua­ti­on, in der die Unter­su­chun­gen durch­ge­führt werden.

Aus­blick

Um eine mög­lichst ver­gleich­ba­re Situa­ti­on zwi­schen zwei Mes­sun­gen zu unter­schied­li­chen Zeit­punk­ten zu schaf­fen, ist man auf die Kon­ti­nui­tät einer Gang­ana­ly­se unter Labor­be­din­gun­gen ange­wie­sen. Da die Hilfs­mit­tel­ver­sor­gung von den Pati­en­ten im All­tag und nicht nur im Labor ange­wandt wer­den soll, muss das Ziel der Gang­ana­ly­se sein, dies wider­spie­geln zu kön­nen – wenn auch in weni­ger kom­ple­xer Ana­ly­se als im Labor. Die Para­me­ter „Schrit­te pro Tag“, „Geh­di­stanz“, „Geh­dau­er“ und „Höhenmeter“können heu­te bereits mit bei­na­he jedem Smart­phone auf­ge­zeich­net wer­den. Sie die­nen als Indi­ka­to­ren für eine ver­bes­ser­te Geh­leis­tung nach einer Orthe­sen­ver­sor­gung oder auch einer­Ope­ra­ti­on. Aus Grün­den des Daten­schut­zes ist eine Aus­wer­tung im kli­ni­schen Umfeld aller­dings schwie­rig. Die Simu­la­ti­on von All­tags­si­tua­tio­nen wie etwa Lau­fen auf unebe­nem Grund, Auf­ste­hen aus einem Stuhl oder Trep­pen­stei­gen wird in Zukunft ver­mehrt in die Gang­ana­ly­se imple­men­tiert wer­den müs­sen, um den All­tag der Pati­en­ten bes­ser abbil­den zu können.

Der Autor:
Dr. med. univ. Tho­mas Schlemmer
Ober­arzt der Abtei­lung für Kinder‑, Jugend- und Neu­ro­or­tho­pä­die Kran­ken­haus Rummelsberg
Rum­mels­berg 71,
90592 Schwar­zen­bruck
thomas.schlemmer@sana.de

Begut­ach­te­ter Beitrag/reviewed paper 

Zita­ti­on
Schlem­mer T. Gang­ana­ly­se in der Ortho­pä­die- Tech­nik – Grund­la­gen und kli­ni­sche Anwen­dungs­mög­lich­kei­ten. Ortho­pä­die Tech­nik. 2019; 70 (12): 20–24
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