Ver­sor­gungs­prin­zi­pi­en beim chro­ni­schen Rückenschmerz

U. Ettrich
Die Behandlung von Rückenschmerzpatienten basiert auf der Berücksichtigung somatischer, psychologischer und sozialer Facetten. Ernsthafte morphologische Ursachen und psychosoziale Risikofaktoren müssen rechtzeitig erkannt werden, um die Weichen zur optimalen Therapie frühzeitig richtig zu stellen. Die Wiederherstellung von Beweglichkeit und Funktionsfähigkeit, nicht unbedingt völlige Schmerzfreiheit sollten vorrangige Therapieziele in der Behandlung chronifizierter Rückenschmerzen sein, um eine alltagstaugliche Rückenbelastbarkeit wiederzuerlangen und um die Patienten in das soziale System zu reintegrieren. Multimodale interdisziplinäre Behandlungsprogramme nach dem Konzept der „functional restoration" haben ihre Effektivität in vielen Studien bewiesen. Der Trend bei den operativen Therapien geht hin zu schonenderen Verfahren, die frühfunktionell zu behandelnde Operationsergebnisse erzielen. Ein Kompetenznetzwerk „Chronischer Rückenschmerz" mit festgelegten Behandlungsinhalten, Behandlungszeiten sowie konservativen und operativen Behandlungsstrukturen wäre das Optimum der Therapiequalität.

Ein­lei­tung

„Schmerz ist wie die Lie­be – viel­fäl­tig und indi­vi­du­ell erlebt.” 1

Anzei­ge

Man geht heu­te in Deutsch­land von min­des­tens 5 Mio. Men­schen mit star­ken Dau­er­schmer­zen und antei­lig von etwa 600.000 hoch chro­ni­fi­zier­ten Pati­en­ten aus, mit erheb­li­cher Ein­schrän­kung des phy­si­schen, emo­tio­na­len und sozia­len Lebens­in­hal­tes 2. Chro­ni­scher Rücken­schmerz ist heut­zu­ta­ge die häu­figs­te Schmerz­lo­ka­li­sa­ti­on und ist aus medi­zi­ni­scher wie auch aus sozio­öko­no­mi­scher Sicht eine der größ­ten Her­aus­for­de­run­gen des Gesund­heits­sys­tems 3. Dies hat sich auch mit dem Fort­schritt der medi­zi­ni­schen The­ra­pie­mög­lich­kei­ten in den letz­ten Jah­ren nicht geän­dert. Die Kos­ten der Behand­lung sind über die Jah­re ste­tig enorm gestie­gen. Kos­ten­schät­zun­gen gehen davon aus, dass chro­ni­sche Rücken­schmer­zen in Bezug auf Arbeits­aus­fall, Früh­pen­sio­nie­run­gen, mul­ti­ple dia­gnos­ti­sche Abklä­run­gen und The­ra­pie­ver­su­che sowie Reha­bi­li­ta­tio­nen Kos­ten von ca. 25 Mrd. Euro jähr­lich ver­ur­sa­chen 4. Antei­lig ent­fal­len 15 Mrd. Euro auf direk­te Kos­ten (Medi­ka­men­te, Behand­lung, Reha­bi­li­ta­ti­on) und 10 Mrd. Euro auf indi­rek­te Kos­ten (u. a. Arbeits­un­fä­hig­keit, früh­zei­ti­ge Beren­tung). Ein wei­te­rer Anstieg die­ser Zah­len im zeit­li­chen Ver­lauf ist sicher gut nach­voll­zieh­bar. Ein Vier­tel aller Leis­tun­gen zur medi­zi­ni­schen Reha­bi­li­ta­ti­on wird von den Ren­ten­ver­si­che­run­gen der­zeit in Deutsch­land für chro­ni­sche Rücken­schmerz-Pati­en­ten aus­ge­ge­ben 5. Rücken­schmer­zen gehö­ren zu den teu­ers­ten mus­ku­los­ke­letta­len Erkran­kun­gen, zu den teu­ers­ten Berufs­er­kran­kun­gen und zu den häu­figs­ten Ursa­chen von Arbeits­un­fä­hig­keit bei Pati­en­ten unter 45 Jah­ren 6.

Epi­de­mio­lo­gie und Ursachen

Die Lebens­prä­va­lenz von Rücken­schmerz, d. h. die Wahr­schein­lich­keit, ein­mal im Leben Rücken­schmer­zen zu erlei­den, ist hoch und wird all­ge­mein auf 80 bis 90 % geschätzt. Bei etwa 85 % der Pati­en­ten wird von einem unspe­zi­fi­schen Rücken­schmerz ohne Nach­weis einer besorg­nis­er­re­gen­den Patho­lo­gie aus­ge­gan­gen. Rever­si­ble Ursa­chen lie­gen hier oft in einer nicht effek­tiv arbei­ten­den Mus­ku­la­tur, in den Fas­zi­en, im hyper­mo­bi­len Bin­de­ge­webs­sta­tus, in Gelenk­funk­ti­ons­stö­run­gen oder in sta­tisch-dyna­mi­schen Hal­tungs­pro­ble­ma­ti­ken bzw. im vor­han­de­nen Ste­reo­typ. Auch psy­cho­ve­ge­ta­ti­ve Span­nungs­zu­stän­de kön­nen ein mus­ku­lär deter­mi­nier­tes Schmerz­ge­sche­hen trig­gern 7. Spe­zi­fi­sche Ursa­chen (Ent­zün­dun­gen, Frak­tu­ren, Tumo­ren, Meta­sta­sen, Dege­ne­ra­ti­on) soll­ten jedoch sofort erkannt und umge­hend spe­zi­fisch behan­delt wer­den, um Sekun­där­schä­den im Aus­maß zu begren­zen (Tab. 1).

Chro­ni­fi­zie­rung

Bei 5 bis 7 % der Pati­en­ten pro­lon­giert die Schmerz­sym­pto­ma­tik über 12 Wochen mit Ein­mün­dung in eine Chro­ni­fi­zie­rung. Beim Chro­ni­fi­zie­rungs­pro­zess spie­len unbe­wuss­te Lern- und Kon­di­tio­nie­rungs­vor­gän­ge eine ent­schei­den­de Rol­le. Die Schmerz­fo­kus­sie­rung führt zu einer Ein­engung der Lebens­per­spek­ti­ve, kann lebens­be­stim­mend wer­den und zum Teil zu tief­grei­fen­den und dau­er­haf­ten Ver­än­de­run­gen des Lebens­ge­fü­ges füh­ren. Psy­cho­lo­gi­sche Risi­ko­fak­to­ren („yel­low flags”) für die Chro­ni­fi­zie­rung von Schmer­zen sind z. B. Depres­si­vi­tät und Hilf­lo­sig­keit als Reak­ti­on auf die Schmer­zen, auch die Angst vor Schmerz­stei­ge­rung durch Bewe­gung mit zuneh­mend ein­ge­schränk­ter Mobi­li­tät und eine Dekon­di­tio­nie­rung (Schmerz­ver­mei­dungs­ver­hal­ten, „fear avo­id­ance beha­vi­or”) (Tab. 2). Der Pfad zwi­schen Nichts­tun und früh­zei­ti­ger not­wen­di­ger Inter­dis­zi­pli­na­ri­tät bei erkenn­ba­rer Ten­denz zur Chro­ni­fi­zie­rung bei vor­lie­gen­den Risi­ko­fak­to­ren ist im Ein­zel­fall schmal 8. Die feh­len­de recht­zei­ti­ge Wei­chen­stel­lung kann indi­vi­du­ell rui­nie­ren­de Krank­heits­ver­läu­fe iatro­gen mitverursachen.

Sozia­le Chro­ni­fi­zie­rungs­fak­to­ren sind z. B. der sekun­dä­re Krank­heits­ge­winn, Arbeits­platz­kon­flik­te oder unbe­wäl­tig­ter sozia­ler und fami­liä­rer Stress (Tab. 3). Man weiß, dass 50 % der Pati­en­ten, die län­ger als sechs Mona­te wegen Rücken­schmer­zen arbeits­un­fä­hig geschrie­ben sind, nicht wie­der in den Arbeits­pro­zess zurück­keh­ren. Bestehen die chro­ni­schen Schmer­zen län­ger als zwei Jah­re, beträgt die Wahr­schein­lich­keit der Rück­kehr nahe­zu null 9. Nicht zu ver­nach­läs­si­gen ist der iatro­ge­ne Bei­trag zur Chro­ni­fi­zie­rung z. B. durch War­te­zei­ten zum Behand­lungs­zu­gang, Ver­ord­nung von pas­si­ven mono­mo­da­len The­ra­pien, von pas­si­ven Orthe­sen und die Durch­füh­rung von nicht indi­zier­ten Operationen.

Kon­ser­va­ti­ve Schmerztherapie

In der Euro­päi­schen Leit­li­nie zum Manage­ment des aku­ten Rücken­schmer­zes 2005 (www.backpaineurope.org), der Natio­na­len Ver­sor­gungs­leit­li­nie Kreuz­schmerz 2011 (www.leitlinien. de/nvl/kreuzschmerz) und auch von der Deut­schen Gesell­schaft für All­ge­mein­me­di­zin und Fami­li­en­me­di­zin (DEGAM) wird emp­foh­len, den Pati­en­ten ange­mes­sen über das Krank­heits­bild auf­zu­klä­ren und ihn zu beru­hi­gen 10. Die Pati­en­ten sol­len bera­ten wer­den, aktiv zu blei­ben und den übli­chen täg­li­chen Akti­vi­tä­ten ein­schließ­lich der Arbeit mög­lichst wei­ter­hin nach­zu­ge­hen. Bei Bedarf kön­nen mil­de schmerz­stil­len­de Medi­ka­men­te (NSAR, Par­acet­amol) vor­zugs­wei­se in regel­mä­ßi­gen Abstän­den gege­ben werden.

Abge­ra­ten wird von der Emp­feh­lung zur Bett­ru­he und auch von der Ver­ord­nung pas­si­ver phy­sio­the­ra­peu­ti­scher Ver­fah­ren wie z. B. Mas­sa­ge und Trak­ti­ons­be­hand­lun­gen. Bei Chro­ni­fi­zie­rung wird nach dem bio­psy­cho­so­zia­len Modell eine mul­ti­mo­da­le Behand­lung emp­foh­len. Pas­si­ve Ver­fah­ren (z. B. Wärme/Kälte, Trak­ti­on, Laser, Ultra­schall, Kurz­wel­le, Inter­fe­renz­the­ra­pie, Mas­sa­ge, Kor­setts, TENS) und mini­mal­in­va­si­ve Inter­ven­tio­nen (z. B. Blo­cka­den, IDET, Laser) wer­den nicht favo­ri­siert. Das gän­gi­ge The­ra­pie­vor­ge­hen und die Erwar­tun­gen der Pati­en­ten decken sich oft wenig mit die­sen Leit­li­ni­en­emp­feh­lun­gen, was häu­fig zu indi­vi­du­el­len Behand­lungs­sche­ma­ta in Anleh­nung an die Bedürf­nis­se der Pati­en­ten führt – ohne objek­ti­vier­ba­re lang­fris­ti­ge Erfol­ge 11. Es wur­de in die­ser Unter­su­chung zum Ver­ord­nungs­ver­hal­ten bei Rücken­schmerz in Deutsch­land am häu­figs­ten Phy­sio­the­ra­pie rezep­tiert, gefolgt von pas­si­ven Maß­nah­men wie Sprit­zen, Tablet­ten und Wärme/Kälte. Mit zuneh­men­der Chro­ni­fi­zie­rung nah­men die Pati­en­ten meh­re­re, oft pas­si­ve The­ra­pie­for­men (Sprit­zen, AU, Phy­sio­the­ra­pie und Bett­ru­he) par­al­lel in Anspruch – mit signi­fi­kan­tem Anstieg der Analge­ti­ka-Ein­nah­me. Ein Teil der sozio­epi­de­mio­lo­gi­schen Mise­re scheint daher iatro­gen mit­ver­ur­sacht zu sein 12.

In der haus­ärzt­li­chen Pra­xis sind Rücken­schmer­zen der dritt­häu­figs­te und in der ortho­pä­di­schen Pra­xis sogar der häu­figs­te Kon­sul­ta­ti­ons­grund (KV Nord­rhein, 2006). Es exis­tiert kei­ne ver­bind­li­che oder kon­sen­tier­te Schnitt­stel­len­de­fi­ni­ti­on zur Über­wei­sung zum Fach­arzt für Ortho­pä­die oder zum Spe­zi­el­len Schmerz­the­ra­peu­ten. Oft gel­ten Hin­wei­se auf einen abwend­ba­ren gefähr­li­chen Ver­lauf („red flags”) oder zeit­lich per­sis­tie­ren­de Beschwer­den ohne Bes­se­rungs­ten­denz als Über­wei­sungs­grund. Teil­wei­se wer­den Über­wei­sungs­wün­sche der Pati­en­ten selbst bei Unzu­frie­den­heit mit der bis­he­ri­gen Behand­lung, zur Dia­gno­se­über­prü­fung und in der Hoff­nung auf neue Dia­gnos­tik- und The­ra­pie­mög­lich­kei­ten erfüllt 13. In die­ser Unter­su­chung von Chenot zum Über­wei­sungs­ver­hal­ten und zur Kom­mu­ni­ka­ti­on zwi­schen Haus­ärz­ten und Ortho­pä­den waren man­gel­haf­te Über­wei­sungs­tex­te und unkla­re Fra­ge­stel­lun­gen der Haus­ärz­te und oft feh­len­de Befund­be­rich­te der Ortho­pä­den ein Hin­weis auf eine schlech­te Struk­tu­rie­rung und eine Qua­li­täts­min­de­rung der Effek­ti­vi­tät der ambu­lan­ten Patientenversorgung.

Im ambu­lan­ten dia­gnos­ti­schen All­tag des nie­der­ge­las­se­nen Haus- oder Fach­arz­tes ist oft die struk­tu­rel­le Ursa­chen­dia­gnos­tik füh­rend. Allein das erklä­ren­de ärzt­li­che Gespräch, um dem Pati­en­ten die spe­zi­fi­schen Ängs­te zu neh­men, kommt oft aus Zeit­grün­den zu kurz. Unser wich­tigs­tes Psy­cho­phar­ma­kon ist und bleibt die Spra­che. Die Kon­sul­ta­ti­ons­zeit im ambu­lan­ten All­tag reicht oft nicht aus, um die bis­he­ri­ge Kran­ken­ge­schich­te und das Krank­heits­kon­zept des Pati­en­ten zu ver­ste­hen und die Wei­chen indi­vi­du­ell rich­tig zu stel­len. Der Pati­ent wird oft ärzt­lich nicht dort abge­holt, wo er in sei­nem Ursa­chen­ver­ständ­nis steht, was einen unge­woll­ten Ver­lauf und eine Chro­ni­fi­zie­rung pro­gram­miert. Zusätz­lich wer­den MR-mor­pho­lo­gi­sche Zufalls­be­fun­de, z. B. Band­schei­ben­pro­tru­sio­nen, mecha­nisch dem an sich unspe­zi­fi­schen myo­fas­zia­len Rücken­schmerz ursäch­lich zuge­ord­net und häu­fig über- oder fehl­be­wer­tet, was ein allei­ni­ges kör­per­li­ches Krank­heits­ver­ständ­nis des Pati­en­ten mani­fes­tiert 14. Es wird oft eine kau­sa­le Bezie­hung ins­be­son­de­re bei sicht­ba­ren Band­schei­ben­vor­fäl­len her­ge­stellt und dem Pati­en­ten als Schmerz­ur­sa­che ver­mit­telt, obwohl die­se nicht der Kli­nik des Pati­en­ten ent­spre­chen. In die­sem Zusam­men­hang sind CT-Unter­su­chun­gen in der Pri­mär­dia­gnos­tik zur Band­schei­ben­pa­tho­lo­gie nicht mehr zeitgemäß.

Hin­ge­gen wur­de nur bei etwa 10 % der ortho­pä­di­schen Befund­be­rich­te auf psy­cho­so­zia­le Befun­de ein­ge­gan­gen, und obwohl 25 % der Haus­ärz­te psy­cho­so­zia­le Risi­ko­fak­to­ren ver­mu­te­ten, mach­ten sie kei­ne Anga­ben dazu auf dem Über­wei­sungs­schein. Psy­cho­so­zia­le Ein­fluss­fak­to­ren sind bei 80 % aller Schmerz­kran­ken rele­vant und in spe­zi­el­len Schmerz­ein­rich­tun­gen der Ter­ti­är­ver­sor­gung sogar bei 25 bis 30 % über­wie­gend oder sogar aus­schließ­lich für das Schmerz­ge­sche­hen ver­ant­wort­lich 15. Im Durch­schnitt ver­ge­hen 7 bis 9 Jah­re, bis dann erst­mals eine psy­cho­so­ma­ti­sche Abklä­rung statt­fin­det. Betrof­fe­ne suchen in die­ser Zeit im Durch­schnitt 9 bis 12 ver­schie­de­ne Ärz­te auf. 80 % die­ser Pati­en­ten neh­men Schmerz­mit­tel, für die es bei die­ser Erkran­kung über­haupt kei­ne Indi­ka­ti­on gibt 16. 20 % der Pati­en­ten mit somat­o­for­mer Schmerz­stö­rung sind als Dau­er­me­di­ka­ti­on auf Opio­ide ein­ge­stellt, oft ohne wesent­li­che Schmerz­re­duk­ti­on, jedoch mit Bestä­ti­gung in ihrem soma­ti­schen Krank­heits­ver­ständ­nis auf­grund der Fehl­ver­ord­nung. Die Dia­gno­se einer somat­o­for­men Schmerz­stö­rung mit Leit­sym­ptom Schmerz erfor­dert selbst­ver­ständ­lich eine vor­he­ri­ge sorg­fäl­ti­ge soma­ti­sche Aus­schluss­dia­gnos­tik und bei Ver­dacht den raschen Ein­be­zug einer psy­cho­so­ma­ti­schen Evaluierung.

Mul­ti­mo­da­le Schmerztherapie

Mul­ti­mo­da­le Behand­lungs­pro­gram­me nach dem Kon­zept der „func­tion­al res­to­ra­ti­on” haben ihre Effek­ti­vi­tät bei Pati­en­ten mit chro­ni­schen Rücken­schmer­zen gegen­über dem mono­mo­da­len Vor­ge­hen im sta­tio­nä­ren 17 18 19 und im teil­sta­tio­nä­ren Set­ting 20 21 bewie­sen. Das vor­ran­gi­ge Behand­lungs­kon­zept basiert auf der kom­bi­nier­ten Berück­sich­ti­gung soma­ti­scher, psy­cho­lo­gi­scher und sozia­ler Facet­ten der chro­ni­schen Schmerz­krank­heit. Betrach­tet man die Effek­ti­vi­tät der Ein­zel­bau­stei­ne der mul­ti­mo­da­len Pro­gram­me in Meta­ana­ly­sen, zei­gen z. B. Phy­si­ka­li­sche The­ra­pie und Psy­cho­the­ra­pie (beha­vi­ora­le Ver­fah­ren) allei­ne kei­ne bzw. nur gerin­ge lang­fris­ti­ge Effek­te 22. Es spricht vie­les dafür, dass die ein­zel­nen Ver­fah­ren (Trai­nings­the­ra­pie, Phy­si­ka­li­sche The­ra­pie, Arbeits­trai­ning, psy­cho­lo­gi­sche The­ra­pie) nur in Kom­bi­na­ti­on zum Erfolg füh­ren bzw. dass die Effek­ti­vi­tät rück­führ­bar ist auf unspe­zi­fi­sche, im wei­tes­ten Sin­ne psy­cho­lo­gi­sche Wirk­fak­to­ren des Gesamt­kon­zep­tes 23. Bei der Stan­dar­di­sie­rung der Behand­lungs­pro­gram­me dür­fen in Bezug auf Ziel­set­zung und the­ra­peu­ti­sche Vor­ge­hens­wei­se indi­vi­du­el­le Fak­to­ren aber nicht ver­nach­läs­sigt werden.

Die Rück­ge­win­nung von Bewe­gung und Funk­ti­ons­fä­hig­keit, nicht unbe­dingt völ­li­ge Schmerz­frei­heit sind das Ziel, um eine all­tags­taug­li­che Rücken­be­last­bar­keit wie­der­zu­er­lan­gen und eine Reinte­gra­ti­on in das sozia­le Sys­tem zu ermög­li­chen. Das Behand­lungs­kon­zept umfasst sport­the­ra­peu­ti­sche, phy­sio­the­ra­peu­ti­sche, ergo­the­ra­peu­ti­sche und psy­cho­the­ra­peu­ti­sche Bau­stei­ne mit im Vor­der­grund ste­hen­der kör­per­li­cher und psy­chi­scher Akti­vie­rung. Phy­sio­the­ra­peu­tisch erfolgt u. a. eine Kon­di­tio­nie­rung mit Stei­ge­rung der all­ge­mei­nen Mus­kel­kraft, der Hal­tungs­kon­trol­le, der Kör­per­wahr­neh­mung, der Aus­dau­er, der Mobi­li­tät und der Koor­di­na­ti­on, um dem Pati­en­ten Kom­pe­tenz und eine Eigen­kon­trol­le in Bezug auf die indi­vi­du­el­le Belast­bar­keit zu ver­mit­teln. Beson­de­rer Wert wird auf all­tags­re­le­van­te Bewe­gungs- und Hal­tungs­schu­lung gelegt, um eine erhöh­te Belast­bar­keit in ungüns­ti­gen All­tags­be­din­gun­gen zu erreichen.

In der psy­cho­lo­gisch-kogni­ti­ven Ver­hal­tens­the­ra­pie wer­den akti­ve Bewäl­ti­gungs­fer­tig­kei­ten zur Umstruk­tu­rie­rung der Gedan­ken beim Auf­tre­ten von Schmer­zen gelernt und geför­dert. Wei­te­re Aspek­te sind die Selbst­für­sor­ge („eige­ne Fell­pfle­ge”), aber auch Acht­sam­keits­übun­gen und Genuss­trai­ning, um wie­der mit allen Sin­nen wahr­neh­men und den Auf­merk­sam­keits­fo­kus vom Schmerz weg­len­ken zu kön­nen. Die Moti­va­ti­on zur Mit­ar­beit, das Erken­nen und Nut­zen von Ände­rungs- und Hand­lungs­mög­lich­kei­ten sind Vor­aus­set­zung für die beleg­ba­re Nach­hal­tig­keit mul­ti­mo­da­ler Pro­gram­me. Die Klä­rung der The­ra­pie­mo­ti­va­ti­on hat daher eine zen­tra­le Bedeu­tung, aber es exis­tiert bis­her lei­der kein Erfas­sungs­in­stru­ment, das ver­läss­li­che pro­gnos­ti­sche Aus­sa­gen erlaubt, wel­cher Pati­ent von die­sen kos­ten­in­ten­si­ven Pro­gram­men pro­fi­tiert 24.

Von ent­schei­den­der Bedeu­tung ist es, den Pati­en­ten ange­mes­se­ne Stra­te­gien zur Schmerz­be­wäl­ti­gung zu ver­mit­teln und ein unko­or­di­nier­tes Auf­su­chen unter­schied­li­cher Fach­dis­zi­pli­nen („doc­tor-hop­ping”) zu mini­mie­ren. Ziel­pa­ra­me­ter sind die Wie­der­auf­nah­me der Arbeit, die Reduk­ti­on der Medi­ka­men­ten­ein­nah­me, die Kos­ten­re­duk­ti­on durch gerin­ge­re Inan­spruch­nah­me des Gesund­heits­sys­tems und die Ver­mei­dung der Beren­tung 25. Dabei ist kri­tisch zu bemer­ken, dass der Para­me­ter der Wie­der­auf­nah­me der Arbeits­tä­tig­keit immer abhän­gig ist von der all­ge­mei­nen Wirt­schafts­la­ge und dem loka­len Arbeits­markt. Erschwe­rend in der The­ra­pie ins­be­son­de­re von Pati­en­ten aus struk­tur­schwa­chen Regio­nen ist, dass es sich nicht lohnt, gesund zu wer­den, wenn kein adäqua­ter Arbeits­platz ent­spre­chend den sozi­al­po­li­ti­schen Rah­men­be­din­gun­gen zur Ver­fü­gung steht.

Zum Trans­fer der erreich­ten Ver­än­de­run­gen durch die mul­ti­mo­da­le The­ra­pie in das beruf­li­che und sozia­le Umfeld ist ein enger Kon­takt zu exter­nen Insti­tu­tio­nen (Ange­hö­ri­ge, nie­der­ge­las­se­ne Ärz­te, Medi­zi­ni­scher Dienst der Kran­ken­kas­sen, Ren­ten­ver­si­che­rungs­trä­ger, Berufs­ge­nos­sen­schaf­ten, Arbeit­ge­ber und Arbeits­äm­ter) drin­gend erfor­der­lich. Ein Kom­pe­tenz­netz­werk „Chro­ni­scher Rücken­schmerz” mit fest­ge­leg­ten Behand­lungs­in­hal­ten, Behand­lungs­zei­ten und Behand­lungs­struk­tu­ren wäre das Opti­mum der The­ra­pie­qua­li­tät, was sich bis­her aber auf­grund ver­schie­de­ner Befind­lich­kei­ten zwi­schen ambu­lan­tem und sta­tio­nä­rem Sek­tor kaum ver­wirk­li­chen ließ (Abb. 1).

Ope­ra­ti­ve Therapie

Einer ope­ra­ti­ven The­ra­pie bedür­fen gera­de ein­mal 1 % oder weni­ger aller Rücken­schmerz­pa­ti­en­ten 26. Die­se The­ra­pie­op­ti­on soll­te mit Aus­nah­me von Not­fall­in­di­ka­tio­nen am Ende einer zeit­lich defi­nier­ten Behand­lungs­ket­te ste­hen. Eine kri­ti­sche Prü­fung der Über­ein­stim­mung der Ana­mne­se, der Kli­nik und der bild­ge­ben­den Befun­de ist dabei unab­ding­bar. Bei kon­ser­va­ti­ver The­ra­pie­re­sis­tenz soll­te dann kei­ne unnö­ti­ge Zeit bis zur Ope­ra­ti­on ver­strei­chen, um das Risi­ko der Chro­ni­fi­zie­rung zu ver­mei­den. Eine Eva­lu­ie­rung des psy­cho­so­zia­len Hin­ter­grun­des ist vor einem OP-Ent­scheid immer sinn­voll, um eine ggf. bestehen­de Domi­nanz des­sen nicht zu über­se­hen. Der Trend geht prin­zi­pi­ell zu scho­nen­de­ren ope­ra­ti­ven The­ra­pie­ver­fah­ren, die früh­funk­tio­nell zu behan­deln­de Ope­ra­ti­ons­er­geb­nis­se erzie­len. Eine gewis­se Renais­sance erfah­ren aber auch wie­der lang­stre­cki­ge dor­so­ven­tra­le Fusi­ons-Ope­ra­tio­nen, die nicht sel­ten im Ver­lauf Anschluss­seg­ment­pro­ble­me oder Aus­lo­cke­run­gen der Implan­ta­te mit der Not­wen­dig­keit von Revi­si­ons­ope­ra­tio­nen zei­gen. Die­se Ver­läu­fe bedin­gen dann meist lan­ge Lei­dens­we­ge für die Patienten.

Fazit

Die Ver­la­ge­rung des Behand­lungs­schwer­punk­tes von der rei­nen sym­pto­ma­ti­schen soma­ti­schen Schmerz­be­hand­lung zur Behand­lung gestör­ter kör­per­li­cher, psy­chi­scher und sozia­ler Funk­tio­nen ist ent­schei­dend für den Behand­lungs­er­folg, ins­be­son­de­re bei chro­ni­fi­zier­ten Pati­en­ten. Wich­tig ist in die­sem Zusam­men­hang eine nicht dra­ma­ti­sie­ren­de Bera­tung der Pati­en­ten. Die Ver­mitt­lung von Akti­vi­tät, die Ver­mei­dung von Pas­si­vi­tät und eine initia­le Akut­schmerz­the­ra­pie sind in Anbe­tracht der Rücken­schmerz­häu­fig­keit Auf­ga­be aller Behand­ler. Rich­tungs­wei­send ist dabei schon der Erst­kon­takt. Bei The­ra­pie­re­sis­tenz und/oder psy­cho­so­zia­len Risi­ko­fak­to­ren mit Gefahr der Chro­ni­fi­zie­rung soll­te eine früh­zei­ti­ge Über­wei­sung zum Spe­zi­el­len Schmerz­the­ra­peu­ten und/oder Psy­cho­lo­gen erfol­gen, denn eine Chro­ni­fi­zie­rung tritt schon nach Ablauf eines Quar­ta­les ein. Eine bild­ge­ben­de Dia­gnos­tik, ins­be­son­de­re ein MRT, soll­te nur bei „red flags” initi­al erfol­gen, denn Rücken­schmerz hat sel­ten spe­zi­fi­sche mor­pho­lo­gi­sche Ursa­chen. Ope­ra­tio­nen soll­ten mög­lichst in Zen­tren mit schmerz­the­ra­peu­ti­scher und ope­ra­ti­ver Erfah­rung vor der mani­fes­ten Chro­ni­fi­zie­rung und nach psy­cho­so­zia­ler Eva­lu­ie­rung statt­fin­den. Wich­tig ist es in der heu­ti­gen Zeit, uns inten­si­ver mit den Erwar­tun­gen der Pati­en­ten an unse­re The­ra­pie zu beschäf­ti­gen, wenn wir erfolg­reich sein wol­len. Nur eine ganz­heit­li­che Betrach­tung des Pati­en­ten und des Phä­no­mens Rücken­schmerz, ins­be­son­de­re in der The­ra­pie, kann zum Ziel füh­ren. Der schot­ti­sche Ortho­pä­de G. Wad­dell hat es tref­fend aus­ge­drückt: „Trea­ting pati­ents rather than spine”.

Der Autor:
Dr. med. Uwe Ettrich
Bereichs­lei­ter Ortho­pä­di­sche Schmerztherapie
Ortho­pä­disch-Unfall­chir­ur­gi­sches Zentrum
Uni­ver­si­täts­kli­ni­kum Dres­den AöR
Fet­scher­str. 74 • 01307 Dresden
uwe.ettrich@uniklinikum-dresden.de

Begut­ach­te­ter Beitrag/reviewed paper

Zita­ti­on
Ettrich U. Ver­sor­gungs­prin­zi­pi­en beim chro­ni­schen Rücken­schmerz. Ortho­pä­die Tech­nik, 2015; 66 (4): 50–54

 

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