„Deutschland hat sich dazu bereit erklärt, gerade mal 50 Patient:innen pro Woche aufzunehmen. Und selbst die haben wir nicht“, sagt Friemert. Mit Blick auf die Corona-Pandemie habe die Bundesregierung Angst vor einer Überlastung des Gesundheitssystems gehabt, inklusive eines großen Bedarfs an Intensivbetten. Aus der Erfahrung heraus habe das Team jedoch von Anfang an gewusst und kommuniziert, welche Patient:innen kommen würden – und dazu würden i. d. R. keine Intensivpatient:innen zählen, sondern solche, die eine Rekonstruktion benötigen. Innerhalb von sechs Monaten seien bundesweit lediglich rund 600 Verletzte (Stand: Ende August 2022) eingeliefert worden. „Jede Traumaklinik hat im Schnitt also einen Patienten. Von Überlastung kann da keine Rede sein“, so Friemert. Sollte Deutschland mehr leisten? „Ja, wir sind ein reiches Land, haben ein gutes und sehr leistungsfähiges Gesundheitssystem. Klar, wir haben einen Pflegemangel, aber hier geht es um schwerverletzte Menschen, darum humanitäre Hilfe zu leisten.“ Kleinreden will der Oberstarzt die personelle Situation dennoch nicht: Viele Operationssäle seien aktuell nicht zu betreiben. Um jeden OP-Platz werde gekämpft. Verschärft werde der ohnehin schon eklatante Personalmangel durch die Corona-Pandemie. Viele Mitarbeiter:innen seien in Quarantäne, zum Großteil ohne Symptome, aber mit positivem Testergebnis. „Da sollte man großzügiger werden“, fordert Friemert. Auch in Bezug auf den allgemeinen Pflegenotstand sieht er die Politik in der Pflicht: In Ausbildung zu investieren und der Branche Wertschätzung zu zollen, sei verschlafen worden. Die Problematik besteht laut Friemert auch in der Ukraine: Um die rund 500 Kriegsverletzten pro Tag zu behandeln, rotiere das Personal im Kriegsgebiet ebenfalls. Und auch dabei, die Patient:innen ins Ausland zu verlegen. Hapert es also an der Logistik? Eine Frage, die Friemert in den Raum stellt und die die geringe Patientenzahl in Deutschland mitbegründen könnte.
Verteilung über das Kleeblattsystem
Für die Verteilung der in Deutschland angekommenen Kriegsverletzten hat sich in der Vergangenheit ein Konzept etabliert, das über die 52 Traumanetzwerke in Deutschland läuft. Diesen gehören mehr als 600 Traumazentren an, die in die drei Versorgungsstufen lokal, regional und überregional eingeteilt sind. Mit dem von der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie (DGU) zertifizierten Verfahren wird das Ziel verfolgt, „für jeden Schwerverletzten an jedem Ort in Deutschland zu jeder Zeit in gleicher Qualität das Überleben und die bestmögliche Lebensqualität zu sichern“. Dazu werden die Verletzten über die jeweiligen Leitstellen an die Traumakliniken verteilt, die sich das Traumanetzwerk der DGU zu Nutze machen.
Die Verteilung der Kriegsverletzten aus der Ukraine läuft hingegen nach dem Kleeblattsystem. Dieses wurde im Frühjahr 2020 im Rahmen der Corona-Pandemie erarbeitet und sollte die bundesweite Verlegung von intensivpflichtigen Patient:innen sicherstellen und damit einer möglichen regionalen Überlastung entgegenwirken. Die 16 Bundesländer sind dabei in fünf Gruppen – die Kleeblätter Nord, Ost, Süd, Südwest und West – aufgeteilt. Seit März 2022 werden über die bereits etablierten Strukturen des Kleeblattsystems ebenfalls Patient:innen aus der Ukraine verlegt. Die Bettenvergabe liegt damit offiziell nicht mehr in der Hand der Leitstellen, sondern ist Ländersache. „Das System funktioniert, aber es ist für uns mit einem enormen Aufwand verbunden“, berichtet Friemert aus seinem Alltag. „Die Länder wollen die Hand draufhaben, aber letztendlich handeln sie nach unserer Empfehlung und wir als Experten entscheiden nach wie vor, welche Klinik die passende ist.“
Worst Case: Knocheninfektion mit Weichteildefekt
Das Bundeswehrkrankenhaus in Ulm ist spezialisiert auf die Behandlung von Menschen aus Kriegsgebieten. Zu den typischen Verletzungen zählen solche, die z. B. durch Granatsplitter verursacht werden. Dringen Splitter ein, zerstören sie Gewebe und Knochen durch Quetschung oder mechanische Einwirkung. Das Tückische: Häufig sind nur zwei kleine Löcher von Einschuss und Austritt zu sehen. „Doch durch die extrem hohe Geschwindigkeit, mit der Splitter eingetreten sind, wird das Gewebe ausgedehnt und fängt nach ein paar Tagen an abzusterben“, erläutert Friemert. Bakterien erschweren die Behandlung. Erdmaterial, das herumgeschleudert wird, enthält Sporen und Keime, nicht selten multiresistente. Der Worst Case: eine Knocheninfektion mit Weichteildefekt. Bei der Behandlung von solchen Defektwunden erfolgt die Gabe von Antibiotika nur on top, ein oder auch mehrere chirurgische Eingriffe sind notwendig, um weiteres infiziertes Knochenmaterial zu entfernen. Anschließend startet die Rekonstruktion der Gewebe, um die körperliche Integrität der Patient:innen wieder bestmöglich herzustellen. Diese ist eine wesentliche Voraussetzung für die dann noch notwendige Rehabilitation. Rückschläge sind jedoch nicht ungewöhnlich und die Infektion kehrt zurück. Und das bedeutet weitere OPs, erneute Reha. „Nimmt man solche Patient:innen auf, muss man damit rechnen, dass sie mehrere Monate bis ein Jahr bleiben“, weiß Friemert aus Erfahrung. Durch Schuss- und Explosionsverletzungen der Wirbelsäule sind zudem Querschnittlähmungen keine Seltenheit. Dann gilt es für die Ärzt:innen, die Wirbelsäule zu stabilisieren, sodass die Betroffenen wenigstens wieder sitzen können.
Ebenfalls typisch sind Verletzungen, die durch Schüsse und Explosionen verursacht wurden und den Körper so öffnen. Das Risiko ist hoch, dass Betroffene schnell verbluten. „Nach 45 Minuten sind circa 50 Prozent tot“, sagt Friemert. Die Versorgung muss demnach direkt vor Ort geschehen. „Die Ärzt:innen in der Ukraine machen das unter den Gegebenheiten hervorragend.“ Nur bedingt ist das Ulmer Team auch an der Behandlung von Brandverletzungen beteiligt. Explosionen erzeugen zunächst eine Ultraschalldruckwelle, dann eine Hitzewelle, die jedoch nur kurz einwirkt. Verbrennungen sind daher zwar großflächig, aber meist nicht schwerwiegend und heilen bis zur Transportfähigkeit und Ankunft der Patient:innen in Deutschland ab. „Meist kommen die Verletzten erst nach Wochen zu uns in Behandlung“, sagt Friemert. Verwundet werden bei Soldat:innen insbesondere das Gesicht sowie die Extremitäten, Zivilist:innen dagegen fehlt der Schutz durch Helm und Weste.
Trauma – körperlich und psychisch
Krieg hinterlässt nicht nur körperlich seine Spuren. Auch seelisch ist dieser Ausnahmezustand eine enorme Belastung. „Viele Patient:innen sind traumatisiert, wenn sie bei uns eintreffen“, berichtet der Oberstarzt. Aus diesem Grund werden sie von Anfang an von der hauseigenen Wehrpsychiatrie begleitet. Während einige Patient:innen mit den Ereignissen recht gut umgehen können, sind andere stärker betroffen. Friemert unterscheidet hier zwischen einer nur wenige Tage andauernden Belastungsreaktion sowie einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS), die sich daraus entwickeln kann. Und genau die gelte es durch den Einsatz der Psycholog:innen zu verhindern. Für die ist die Sprachbarriere eine große Hürde. Die Ärzt:innen können eine geplante OP beispielsweise mit Gegenständen oder Bildern erklären oder aufzeichnen, Gefühle so abzubilden und tiefergehende, persönliche Gespräche zu führen, ist nahezu unmöglich. Bei Bedarf erhalten die Bundeswehrkrankenhäuser deswegen Unterstützung durch Dolmetscher:innen des Bundessprachenamts. Für zivile Krankenhäuser gilt das jedoch nicht.
Erstattung mit viel Aufwand
Auch die Finanzierung stellt das Bundeswehrkrankenhaus vor Herausforderungen. Denn die Versorgung Schwerverletzter ist kostspielig. Pro Patient:in fallen zwischen 40.000 und 140.000 Euro an, wie eine Auswertung der Patient:innen aus dem Bundeswehrkrankenhaus Ulm zeigt. Geht es um eine Akutversorgung und der Flüchtlingsstatus ist geklärt, erstattet das Sozialamt die Kosten. Alles, was in den Bereich Technische Orthopädie und Rehabilitation fällt, wird nicht übernommen – zumindest nicht ohne aufwändige Antragsverfahren, lange Wartezeiten und Beharrlichkeit von Seiten der Klinik. „Was die Nachbehandlung betrifft, ist noch vieles ungeklärt. Letztendlich übernimmt das Sozialamt die Kosten. Aber der Aufwand, der dahintersteckt, ist enorm. In manchen Regionen läuft es gut, in anderen zäher“, berichtet Friemert. Aus seiner Sicht wäre es eine praktikablere Lösung gewesen, einen gemeinsamen finanziellen Topf anzulegen, aus dem man den Kliniken die Kosten hätte erstatten können. Ebenfalls problematisch: Viele Soldat:innen würden den Status als Flüchtling ablehnen, aus Angst nach ihrer Rückkehr als Deserteur:innen betrachtet zu werden. Auch durch das eigene Selbstverständnis, kein Flüchtling, sondern Soldat:in zu sein, würden die Soldat:innen nicht selten selber die Anerkennung des Flüchtlingsstatus verhindern. Der Status ist für die Klinik jedoch notwendig, um die Behandlungskosten erstattet zu bekommen. Viele offene Fragen, auf die, wie Friemert hofft, bald Antworten gefunden werden.
Pia Engelbrecht
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