Nicht jedes Unter­neh­men wird die Anfor­de­run­gen meistern

Die MDR-Uhr tickt: Im kommenden Mai läuft die dreijäh­rige Übergangsfrist für die Europäische Medizinprodukte-Verordnung (Medical Device Regulation, MDR) ab.

Dann wird die bereits im Mai 2017 in Kraft getre­te­ne Rege­lung bin­dend – und dies bedeu­tet bei­spiels­wei­se hin­sicht­lich des Qua­li­täts­ma­nage­ments und der Doku­mentation ver­schärf­te Anfor­de­run­gen an die Her­stel­ler. Denn das Euro­päi­sche Par­la­ment will mit der MDR den Qua­li­täts­stan­dard bei Medi­zin­pro­duk­ten sichern und die Sicher­heit für Pati­en­ten erhöhen.

Die Arbeits­grup­pe (AG) MDR der Deut­schen Gesell­schaft für inter­pro­fes­sio­nel­le Hilfs­mit­tel­ver­sor­gung e. V. (DGIHV) befasst sich seit 2018 mit den Aus­wir­kun­gen der Ver­ord­nung auf den Hilfs­mit­tel­sek­tor und erar­bei­tet ent­sprechende Hand­lungs­emp­feh­lun­gen. So sind Leit­fä­den für Händ­ler im Bereich Hilfs­mit­tel sowie für Her­stel­ler von Hilfs­mit­teln als Son­der­an­fer­ti­gun­gen ver­füg­bar. Aus­kunft zum Stand der Din­ge gibt die Bon­ner Rechts­an­wäl­tin Bet­tina Hertkorn-Ket­te­rer, Mit­glied der AG und auf Bera­tung im Gesund­heits­we­sen spezialisiert.

Tücke im Detail

OT: Wenn man sich in der Bran­che umhört, scheint so man­che Fir­ma die Vor­be­rei­tun­gen auf die Medi­zin­pro­duk­te-Ver­ord­nung noch vor sich her­zu­schie­ben. Wie ist denn der Stand der Din­ge in Sachen MDR?

Bet­ti­na Hertkorn-Ket­te­rer: Die MDR ist selbst für die Un­ternehmen eine ech­te Her­ku­les­auf­ga­be, die sich recht früh­zei­tig damit aus­ein­an­der­ge­setzt haben. Gera­de weil durch die neue Ver­ord­nung alle Akteu­re, die „rund um eine Ver­sor­gung“ in ihren unter­schied­li­chen Rol­len in Akti­on tre­ten – Her­stel­ler, Impor­teu­re, Händ­ler, Gesundheitsrein­richtungen –, mit ins Boot genom­men wer­den, ist es für die Unter­neh­men sehr viel kom­pli­zier­ter gewor­den, die Vorga­ben umzu­set­zen. Man muss sich stän­dig fra­gen: „In wel­cher Rol­le habe ich wel­che Anfor­de­run­gen zu erfül­len?“– und die­se Anfor­de­run­gen dann umsetzen.

OT: Was kommt dadurch auf die Betrie­be zu?

Hertkorn-Ket­te­rer: Wenn ich die Fra­ge auf die Betrie­be re­duziere, die Pati­en­ten in Deutsch­land mit Hilfs­mit­teln ver­sorgen, dann müs­sen die­se Unter­neh­men kon­kret alle An­forderungen erfül­len, die ein „Händ­ler“ zu beach­ten hat. Das klingt erst ein­mal nicht so dra­ma­tisch, doch wenn man sich tie­fer damit beschäf­tigt, steckt die Tücke wie so oft im Detail.

OT: Das heißt?

Hertkorn-Ket­te­rer: Neh­men wir zum Bei­spiel die Pflicht aus Arti­kel 14 Abs. 2 der MDR, wonach der Händ­ler vor Be­reitstellung eines Medi­zin­pro­dukts unter ande­rem über­prüfen muss, ob das Pro­dukt die CE-Kenn­zeich­nung trägt und ob eine EU-Kon­for­mi­täts­er­klä­rung für das Pro­dukt aus­ge­stellt wur­de. Bei der Viel­zahl im Bereich der Hilfs­mit­­­tel-Ver­sor­gung ein­ge­setz­ten Pro­duk­te bedeu­tet es durch­aus einen erheb­li­chen Auf­wand, die­se Prü­fun­gen – gegebenen­falls im soge­nann­ten „Pro­be­nah­me­ver­fah­ren“ – durchzu­führen und im Zwei­fel nachzuweisen.

Oder neh­men wir bei­spiels­wei­se die Pflicht, inner­halb der Lie­fer­ket­te die Rück­ver­folg­bar­keit der Pro­duk­te zu ge­währleisten (Arti­kel 25 MDR). Händ­ler müs­sen in Zukunft nach­wei­sen kön­nen, von wel­chem „Wirt­schafts­ak­teur“ sie Pro­duk­te bezo­gen haben – bzw. an wel­chen „Wirtschafts­akteur“ oder an wel­che „Gesund­heits­ein­rich­tung“ sie Pro­dukte abge­ge­ben haben. Die kon­kre­te Aus­ge­stal­tung die­ser Ver­pflich­tung ist kom­plex. Die Abga­be an Pati­en­ten, die pri­vat ein Pro­dukt erwer­ben, ist nicht zu erfas­sen. Doch was ist mit den sozi­al­ver­si­che­rungs­recht­li­chen Vorgän­gen? In mei­nen Augen gibt es durch­aus Fallkonstellatio­nen, in denen auch eine Kran­ken­kas­se als „Händ­ler“ und damit als „Wirt­schafts­ak­teur“ anzu­se­hen ist.

Soweit Pro­duk­te indi­vi­du­ell her­ge­stellt wer­den, müs­sen die Anfor­de­run­gen der MDR für Her­stel­ler im Bereich Son­deranfertigung beach­tet wer­den. Dar­über hin­aus gibt es ei­nige The­men, die geson­dert zu beach­ten sind, beispielswei­se das „Ver­ein­zeln von Pro­duk­ten“ oder auch die Nut­zung von Pro­duk­ten außer­halb der Zweck­be­stim­mung bzw. das Kom­bi­nie­ren von Produkten.

OT: Wie wägen Sie Chan­cen und Risi­ken im Wett­be­werb für die Fir­men durch die MDR ab – wel­che Unter­neh­men profitie­ren, wel­che gera­ten ins Hintertreffen?

Hertkorn-Ket­te­rer: Die Ver­än­de­run­gen im Bereich des Medi­zin­pro­dukt­e­rechts sind erfolgt, weil sich auf europä­ischer Ebe­ne die Erkennt­nis durch­ge­setzt hat, dass stren­gere Rege­lung zur Erhö­hung der Sicher­heit der Pati­en­ten und Anwen­der not­wen­dig sei­en. Es stan­den bei Erlass der Vor­schrif­ten daher weni­ger wett­be­werb­li­che, son­dern viel­mehr qua­li­täts- und sicher­heits­recht­li­che Aspek­te im Vor­der­grund. Das Ver­fol­gen die­ser Zie­le kann man sicher nicht pau­schal ableh­nen. In mei­nen Augen taugt die Ein­führung/Verschärfung regu­la­to­ri­scher Vor­schrif­ten nicht wirk­lich als „Wett­be­werbs­in­stru­ment“ – auch wenn die­se Vor­schrif­ten natür­lich dazu geeig­net sein könn­ten, Markt­veränderungen zu bewir­ken. Und sol­che Marktverände­rungen sind natür­lich durch­aus zu erwar­ten – nicht jedes Unter­neh­men wird die Anfor­de­run­gen der MDR meis­tern. Risi­ken bestehen daher durchaus.

OT: Wird es spe­zi­ell für klei­ne Betrie­be eng – also könn­te es zu einer „Markt­be­rei­ni­gung“ dahin­ge­hend kom­men, dass die klei­nen Unter­neh­men die Anfor­de­run­gen der MDR gar nicht erfül­len können?

Hertkorn-Ket­te­rer: Für den Bereich der „Her­stel­lung von Seri­en­pro­duk­ten“ möch­te ich mir kei­ne Bewer­tung an­maßen, da ich in die­sem Markt nicht ver­tieft tätig bin. Auf Sei­ten der Leis­tungs­er­brin­ger gibt es in mei­nen Au­gen kein ein­heit­li­ches Bild. Nach mei­ner Auf­fas­sung sind es nicht zwangs­läu­fig die grö­ße­ren Unter­neh­men, son­dern die „bes­ser orga­ni­sier­ten“, die die Her­aus­for­de­run­gen der MDR gege­be­nen­falls bes­ser meis­tern als ande­re. Die MDR hat ja aus­drück­lich auch nicht das Ziel, klei­ne­re Unterneh­men zu benach­tei­li­gen. Es gibt vie­le – klei­ne und grö­ße­re – Unter­neh­men, die her­vor­ra­gend vor­be­rei­tet sind. Insbe­sondere auf­grund eines bereits bestehen­den Qualitätsma­nagementsystems wer­den sie in der Lage sein, die Heraus­forderungen zu meis­tern. Dies ist in der Rol­le des „Han­dels“ sicher ein­fa­cher zu bewerk­stel­li­gen als im Bereich der „Her­stel­lung von Son­der­an­fer­ti­gun­gen“, wo die The­men „kli­ni­sche Bewer­tung“ und „Risi­ko­ma­nage­ment­sys­tem“ sicher zu den eher grö­ße­ren Her­aus­for­de­run­gen zählen.

Kei­ne Fristverlängerung

OT: Die AG MDR der DGIHV erar­bei­tet gera­de Handreichun­gen für die Betrie­be bezüg­lich der kli­ni­schen Bewertungen/übergeordneten Risi­ko­be­wer­tun­gen für die Pro­dukt­fa­mi­li­en als Grund­la­ge für die pati­en­ten­in­di­vi­du­el­le Fer­ti­gung. Wann wer­den die­se zur Ver­fü­gung stehen?

Hertkorn-Ket­te­rer: Es ist sehr bemer­kens­wert, dass die Bran­che sich sehr früh an die Arbeit gemacht hat, Lösun­gen zu erar­bei­ten, die am Ende allen Unter­neh­men zugu­te-kom­men. Ich erwar­te, dass hier zeit­nah ers­te Ergeb­nis­se vor­lie­gen wer­den – auch wenn ich nicht glau­be, dass bis Mai 2020 schon alles abge­schlos­sen sein wird.

Da vie­le Details in Bezug auf die kon­kre­te Umset­zung noch nicht abschlie­ßend geklärt sind, ist es wohl unver­meidbar, dass nicht alles bis dahin voll­stän­dig abgearbei­tet sein wird. Daher hal­te ich „klei­ne­re Ver­zö­ge­run­gen“ für nicht beson­ders pro­ble­ma­tisch. Ich set­ze dar­auf, dass der „gute Weg“, der hier gemein­sam mit enor­mer Kraftan­strengung gegan­gen wird, auch von den Behör­den, die den Weg gege­be­nen­falls über­wa­chen und kon­trol­lie­ren, aner­kannt wer­den wird – auch wenn es ein wenig län­ger dauert.

OT: Ist die Defi­ni­ti­on von Pro­dukt­fa­mi­li­en bei Sonderanferti­gungen ein gang­ba­rer Weg hin­sicht­lich der auf­grund der MDR erfor­der­li­chen kli­ni­schen Bewertungen?

Hertkorn-Ket­te­rer: Ich hal­te die­sen Weg für den ein­zi­gen Weg, der über­haupt in Betracht kommt. Eine kli­ni­sche Be­wertung für ein „Uni­kat“ in jedem Ein­zel-/Ver­sor­gungs­fall wäre schlicht nicht umzusetzen.

OT: Wel­che Alter­na­ti­ven gäbe es für Sonderanfertigungen?

Hertkorn-Ket­te­rer: Ich sehe kei­ne – außer, dass der Verord­nungsgeber eine kla­re Aus­nah­me für Son­der­an­fer­ti­gun­gen in der Ver­ord­nung selbst defi­niert. Da das bis­her nicht ge­schehen ist, bleibt uns nur, nach Umset­zungs­we­gen zu su­chen, die den Anfor­de­run­gen der Ver­ord­nung gerecht wer­den und die Betrie­be nicht überfordern.

OT: Was raten Sie Leis­tungs­er­brin­gern, die das The­ma MDR bis­lang vor sich her­ge­scho­ben haben? Was soll­ten die­se aktu­ell tun?

Hertkorn-Ket­te­rer: Unbe­dingt star­ten – und zwar sofort. Die DGIHV hat auf ihrer Home­page für Händ­ler und Her­steller von Son­der­an­fer­ti­gun­gen wich­ti­ge Hin­wei­se hinter­legt. Damit kön­nen sich „Ein­stei­ger“ in das The­ma eine erste­wich­ti­ge Ori­en­tie­rung ver­schaf­fen. Wer sich nicht allei­ne auf den Weg machen will, kann sich auch der Hil­fe Drit­ter bedie­nen. Die Aktua­li­sie­rung vor­han­de­ner Qua­li­täts­ma­­nage­ment-Sys­te­me ist hier sicher ein gang­ba­rer Weg.

OT: Set­zen Sie sich für eine Frist­ver­län­ge­rung ein? Wie ste­hen da die Chancen?

Hertkorn-Ket­te­rer: Wo es nicht mög­lich ist, die Anforde­rungen der Ver­ord­nung frist­ge­recht umzu­set­zen, hal­te ich Frist­ver­län­ge­run­gen natür­lich für sinn­voll. Die Ver­bän­de, die die The­ma­tik eng beglei­ten, for­dern sol­che Verlänge­rungen ja auch. Mit Blick auf den Ortho­pä­die-Tech­nik-Betrie­b/­Sa­ni­täts­fach­han­del sehe ich jedoch kei­ne Fristver­längerungen. Daher emp­feh­le ich, dass die Bran­che sich ge­meinsam um die Umset­zung küm­mert – und Lösun­gen für die schwie­ri­gen Tei­le der Ver­ord­nung schafft. Ich den­ke, hier sind wir auf einem ganz guten Weg.

OT: Wird sich die MDR auf die Kos­ten der Hilfs­mit­tel­ver­sor­gung aus­wir­ken – und wie sehen Sie die Chan­cen, dies bei Kos­ten­trä­gern durchzusetzen?

Hertkorn-Ket­te­rer: Natür­lich ver­ur­sacht die MDR erhebli­chen Mehr­auf­wand bei den Unter­neh­men. Mit­ar­bei­ter, die zur „ver­ant­wort­li­chen Per­son“ benannt wer­den, wer­den sich die­se Ver­ant­wor­tung ver­gü­ten las­sen. Auch die sons­tigen büro­kra­ti­schen Auf­wän­de sind erheb­lich. Es obliegt den Ver­trags­ver­hand­lern, die­se Punk­te in die Verhandlun­gen ein­zu­brin­gen – und eine ange­mes­se­ne Ver­gü­tung für die­se Auf­ga­ben in die Ver­trä­ge „hin­ein­zu­ver­han­deln“.

Die Fra­gen stell­te Cath­rin Günzel.

Michael Blatt
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