OT: Frau Abel, Herr Grunau, das Hauptstadtbüro von „Wir versorgen Deutschland“ hat im September 2022 seine Arbeit aufgenommen – pünktlich zum Ende der parlamentarischen Sommerpause. Was bringt es den Sanitätshäusern und orthopädietechnischen Betrieben, dass Ihr Verein nun in Berlin vertreten ist?
Kirsten Abel: Nun, Gesundheitspolitik wird nicht in Dortmund oder Hamburg gemacht, sondern in Berlin. Zwar haben durch Corona viele parlamentarische Prozesse zwangsläufig in Videokonferenzen stattgefunden – doch die demokratische Meinungsbildung lebt nach wie vor ganz entscheidend vom persönlichen Austausch, von Streit und Kompromiss. Und hier wollen wir uns für unsere Branche künftig deutlich mehr einbringen. Daher ist die persönliche Präsenz im Zentrum des Geschehens wichtig. Hinzu kommt, dass wir uns für ein gemeinsames Büro mit dem Bundesinnungsverband für Orthopädie-Technik
(BIV-OT), der Landesinnung Berlin-Brandenburg für Orthopädie-Technik sowie dem Fachverband entschieden haben. Damit bündeln wir unsere Kräfte direkt vor Ort.
„Weiter so“ bringt Gesundheitswesen an Grenzen
OT: Welche Themen stehen bei Ihnen aktuell ganz oben auf der politischen Agenda, welche politischen Kämpfe möchten Sie zuerst ausfechten?
Patrick Grunau: Insgesamt haben wir eine sehr schwierige Lage. Ein „immer weiter so“ wird das deutsche Gesundheitswesen an seine Grenzen bringen. Das GKV-Finanzstabilisierungsgesetz zum Beispiel hat einen Horizont bis Ende 2023. Was danach kommt, ist für uns offen. Bundesgesundheitsminister Prof. Dr. Karl Lauterbach hat Leistungskürzungen im Gesundheitswesen seitens seines Ministeriums deutlich ausgeschlossen. Das begrüßen wir grundsätzlich sehr. Gleichzeitig wird die Qualität in der Hilfsmittelversorgung maßgeblich durch die Vertragsstrukturen zwischen den gesetzlichen Krankenversicherungen und den Leistungserbringern beeinflusst. Und da ist die vom Gesetzgeber vorgegebene Verhandlungsregelung über § 127 (1) Satz 2 des Sozialgesetzbuches (SGB) Fünftes Buch (V) bereits im Zuge der dramatisch gestiegenen Preise für Persönliche Schutzausrüstung (PSA) an ihre Grenzen gestoßen. Deshalb hat es eine wirkliche Erstattung dieser zusätzlichen Kosten für die Sanitätshäuser nicht gegeben. Selbst wenn die Politik also entscheiden würde, dass sie die Kostenumlage für Energie, Rohstoffpreise etc. über den §127 laufen lassen will – es wäre zum Scheitern verurteilt. Wir müssen da andere Lösungen finden, die schneller und wirksamer sind, um unsere Betriebe nicht in die Insolvenz laufen zu lassen.
Abel: Zudem kommt das Bundesamt für Soziale Sicherung (BAS) als Aufsichtsbehörde der gesetzlichen Krankenkassen zu dem Urteil, dass die Kassen ihre eigenen Verträge kaum im Blick haben und die in den Verträgen fixierte Versorgungsqualität in der Breite nicht kontrollieren können. Immer häufiger geraten Verträge einzelner Versorger mit Krankenkassen in den Fokus, die erhebliche rechtliche Bedenken verursachen, von der Aufsicht aus dem Verkehr gezogen werden oder Schiedsverfahren nach sich ziehen. Ob hier Begriffe wie „Kämpfe ausfechten“ angebracht sind, wird sich zeigen. Denn zuallererst stehen wir alle gemeinsam in der Verantwortung. Frontenbildung hilft da wenig. Am weitesten sind wir immer mit einer sachlichen Auseinandersetzung gekommen. Denn Zeitungsschlagzeilen schaffen vielleicht Aufmerksamkeit, sind aber selten ein erster Schritt zu einer Lösung.
Immer mehr Kostentreiber
OT: Inflation, Kostensteigerungen sowie Ängste vor Versorgungsengpässen bei Gas und Strom treiben die gesamte Wirtschaft um. Wie ist die Lage in den Sanitätshäusern und OT-Betrieben?
Abel: Inzwischen haben die Häuser ihre Rücklagen aufgrund der weiterhin steigenden Fracht‑, Rohstoff- und Energiekosten aufgebraucht. Der Fachkräftemangel hat sich verschärft. Als Kostentreiber machen sich hier neben den wachsenden Lebenshaltungskosten und damit verbundenen Lohnforderungen ebenfalls die steigenden Krankenkassenbeiträge und die Anhebung des Mindestlohns bemerkbar.
Grunau: Beim Thema Gasversorgung sind wir über unseren Partner BIV-OT im engen Kontakt mit dem Zentralverband des Deutschen Handwerks und der Bundesnetzagentur. Aktuell gehen wir nicht davon aus, dass Sanitätshäuser und OT-Werkstätten von einer Gas- und Stromversorgung abgekoppelt werden. Allerdings zeichnet sich ein Preisproblem ab, das durchaus dieselben Konsequenzen haben kann und die Existenz von Hilfsmittelversorgern gefährdet. Denn die Preissteigerungen können nicht einfach an die gesetzlich Versicherten weitergegeben werden. Außerdem ist die allgemeine Versorgung mit Hilfsmitteln über langfristige Verträge gesichert, die sich nicht sofort kündigen lassen. Uns bereitet wirklich große Sorgen, dass die wohnortnahe Versorgung aufgrund der Kostenexplosion an ihr Limit gerät.
OT: Was bedeutet das für die Zukunft?
Abel: Die Hilfsmittelversorgung hat nur einen sehr kleinen Anteil am Gesamtbudget der gesetzlichen Krankenversicherung. Doch mit der Hilfsmittelversorgung verbunden sind Fragen, die das demokratische Verständnis unserer Gesellschaft grundsätzlich berühren: Wie umfassend wollen wir Menschen mit Einschränkungen an der Gesellschaft teilhaben lassen? Wie wichtig ist uns die Erfüllung der UN-Behindertenrechtskonvention? Wie wichtig ist es uns, technische Lösungen für eine bessere Lebensqualität anzubieten – und wie weit wollen wir Menschen am Fortschritt teilhaben lassen?
Engagement für die Ukraine
OT: Zu den politisch bestimmenden Themen gehört die Unterstützung der Ukraine …
Abel: Das ist auch für die Orthopädie-Technik sehr bedeutend. Nach dem Zweiten Weltkrieg lag in der Versorgung von Kriegsversehrten eine große Herausforderung unseres Fachs. Nie hätten wir geglaubt, dass sich eine solche Herausforderung mit einer derartigen Wucht erneut stellen würde. Putin hat die Versorgung von Menschen mit schwersten Kriegsverletzungen durch seinen Angriffskrieg wieder sehr konkret auf die Tagesordnung gebracht. Unsere Partner engagieren sich daher sehr intensiv für die Kriegsversehrtenversorgung. Der BIV-OT beispielsweise entwickelt gerade mit dem Bundesgesundheitsministerium ein Projekt, das die Ausbildung von Orthopädietechniker:innen in der Ukraine für die schnelle Versorgung der zahlreichen Verletzten sicherstellt. Deutschland ist hier weltweit Vorbild. Unsere Branche hat schon seit langer Zeit enge Beziehungen zur Ukraine. Auf unserem Branchenpolitischen Forum im Rahmen der diesjährigen OTWorld in Leipzig – übrigens Partnerstadt von Kiew – war die Hilfe für die Ukraine ein großes Thema.
Prüfstein für die Politik
OT: Wie das WvD-Bündnis im politischen Geschehen mitmischt, zeigen nicht zuletzt die „Wahlprüfsteine zur Landtagswahl in Niedersachsen 2022“, die erstmals aufgestellt wurden. Darin werden sechs Fragen an die im Wahlkampf befindlichen Parteien gerichtet – unter anderem, durch welche Maßnahmen diese eine hochwertige, wohnortnahe Hilfsmittelversorgung sichern, durch Kostensteigerungen bedingten Engpässen vorbeugen und Bürokratie beseitigen wollen. Wird es künftig zu jeder Landtagswahl Prüfsteine geben – und warum konzentrieren Sie sich nicht ausschließlich auf die Bundespolitik?
Grunau: Einerseits besitzen die Bundesländer die Möglichkeit, bundespolitisch Einfluss zu nehmen. Andererseits werden viele Entscheidungen auf Länderebene getroffen, darunter zum Beispiel die Regelungen bezüglich der Hygienemaßnahmen bei Corona, die für die Versorgung von Risikopatient:innen elementar sind. Zur Systemrelevanz von Sanitätshäusern gab es in den Ländern ebenfalls unterschiedliche Auffassungen und Umsetzungen. Hinzu kommt, dass eine wohnortnahe Versorgung nicht nur gut informierte Bundespolitiker:innen, sondern ebenso gut informierte Akteur:innen vor Ort erfordert. Darüber hinaus muss nahezu jedes Gesetz einmal durch den Bundesrat und damit durch die Länder. Um die gesamte Kette der gesundheitspolitischen Entscheidungen abzudecken, beginnt die gemeinsame Arbeit bei den Kommunen und in den Wahlkreisen, geht über die Landes- auf die Bundesebene. Das ist gelebter Föderalismus. Nicht immer zügig – und für Geschäftsführer:innen und Unternehmer:innen, die es gewöhnt sind, schnelle und pragmatische Entscheidungen selbstverantwortlich zu treffen, manchmal etwas sperrig. Aber am Ende haben diese Art der Willensbildung und damit die Demokratie doch unschlagbare Vorteile. Daher ist für uns klar: Ja, vor den nächsten Landtagswahlen in Bremen, Bayern und Hessen werden wir wieder Wahlprüfsteine versenden.
OT: „Wir versorgen Deutschland“ ist im Lobbyregister des Deutschen Bundestags eingetragen. Was heißt das für Ihre Arbeit?
Abel: Lobbyarbeit heißt für uns: Politik mitzugestalten, um die Qualität der politischen Entscheidungen zu verbessern. Politik hat viel mit Verantwortung zu tun. Deshalb ist es sehr sinnvoll, dass alle Bürgerinnen und Bürger ein Recht auf maximale Transparenz und damit Einblick in politische Entscheidungsprozesse haben. Wer im Lobbyregister eingetragen ist, unterliegt einem gewissen Verhaltenskodex, der diese Transparenz lebt. Das finden wir gut. Demokratie kann nur so für sich werben.
Die Fragen stellte Cathrin Günzel.
Im 2021 formierten Bündnis „Wir versorgen Deutschland“ haben sich maßgebliche Spitzenverbände und Vereinigungen von Leistungserbringern der deutschen Hilfsmittelversorgung zusammengeschlossen, um ihre Interessenvertretung gemeinsam zu verstärken und gesundheitspolitische Zeichen zu setzen. Neben den Gründungsmitgliedern Bundesinnungsverband für Orthopädie-Technik (BIV-OT), Egroh-Service GmbH, Reha-Service-Ring GmbH, Rehavital Gesundheitsservice GmbH und der Sanitätshaus Aktuell AG ist jetzt die Ortheg eG als sechste Partnerorganisation hinzugekommen. Der Verein ist im Lobbyregister des Deutschen Bundestags eingetragen (Nr. R004824). Mit der Büroeröffnung in Berlin ging im September auch die neue Website online, erreichbar unter: www.wirversorgendeutschland.de.
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