Indi­vi­du­el­le the­ra­peu­ti­sche Beglei­tung von Kin­dern mit kör­per­li­chen Behin­de­run­gen — Eine mul­ti­dis­zi­pli­nä­re Herausforderung

M. Schiebe
In diesem Artikel werden die heute üblichen Werkzeuge zur Einschätzung von Behinderung und Gesundheit von Kindern und Jugendlichen zusammengefasst. Drei Fallbeispiele zeigen die weitreichende Behandlungsplanung unter Berücksichtigung der individuellen Bedingungen im Erleben der Behinderung für das Kind und seine Familie auf.

Die the­ra­peu­ti­sche Beglei­tung von Kin­dern und Jugend­li­chen mit kör­per­li­chen Behin­de­run­gen, ob in der aku­ten Reha­bi­li­ta­ti­ons­pha­se oder in der Lang­zeit­be­hand­lung, erfor­dert die Fest­le­gung geeig­ne­ter und erreich­ba­rer Zie­le. Die Beach­tung der Bedürf­nis­se des Kin­des, sei­ner Ent­wick­lung und wich­ti­ger Umwelt­fak­to­ren steht im Mit­tel­punkt der The­ra­pie­pla­nung. Eine Viel­falt the­ra­peu­ti­scher Ansät­ze steht heu­te zur Ver­fü­gung, die teils par­al­lel, teils auf­ein­an­der auf­bau­end zum Ein­satz kom­men. Für die opti­ma­le Ver­sor­gung eines Kin­des sind die Zusam­men­ar­beit in einem inter­dis­zi­pli­nä­ren Team und eine Abspra­che mit den flan­kie­ren­den päd­ago­gi­schen Insti­tu­tio­nen erfor­der­lich. Dabei sto­ßen Behand­ler und Pati­en­ten immer wie­der an Gren­zen. Ände­run­gen der Lebens­um­stän­de des Kin­des bzw. des Jugend­li­chen bedür­fen einer Neu­an­pas­sung von The­ra­pie­ziel und ‑wegen.

Ein­lei­tung

Kin­der mit Behin­de­run­gen erle­ben im Unter­schied zu gesun­den Kin­dern deut­lich mehr Stress und eine höhe­re emo­tio­na­le Belas­tung. Dabei ist der enor­me Auf­wand an The­ra­pie­be­mü­hun­gen ange­sichts des Umfangs an The­ra­pien und des damit ver­bun­de­nen zeit­li­chen Ein­sat­zes im Kon­trast zu damit ein­her­ge­hen­den ver­min­der­ten Spiel- und Explo­ra­ti­ons­zei­ten ein wesent­li­cher Belas­tungs­fak­tor. Wenn­gleich Kin­der mit Behin­de­run­gen ihre Lebens­qua­li­tät häu­fig bes­ser ein­schät­zen als ihre Eltern, ist die Lebens­qua­li­tät von Kin­dern mit Behin­de­run­gen in Euro­pa ungleich schlech­ter als die nor­mal gesun­der Kin­der [1].

Im medi­zi­nisch-the­ra­peu­ti­schen Feld kön­nen alle an der The­ra­pie Betei­lig­ten ihren Anteil an der Ver­bes­se­rung der Lebens­qua­li­tät die­ser Kin­der leis­ten. Schwer­punkt bei der Behand­lungs­pla­nung ist eine Ziel­de­fi­ni­ti­on, die eine Ver­bes­se­rung der Par­ti­zi­pa­ti­on und eine Stär­kung der Selbst­wirk­sam­keit der Kin­der und Jugend­li­chen beinhal­tet. Bei Kin­dern gilt es zudem, die Zeit­fens­ter der Ent­wick­lung opti­mal aus­zu­nut­zen und Ver­än­de­run­gen durch Wachs­tum zu berücksichtigen.

Der zu betrei­ben­de Auf­wand für die Kin­der und ihre Fami­li­en muss dabei in einem adäqua­ten Ver­hält­nis zum erreich­ba­ren Nut­zen ste­hen. Die beson­de­re Her­aus­for­de­rung dabei ist, dass die an der The­ra­pie Betei­lig­ten bei der Ver­sor­gungs­pla­nung in ers­ter Linie mit den Vor­stel­lun­gen der Ange­hö­ri­gen, in der Regel der Eltern, kon­fron­tiert wer­den und die Bedürf­nis­se der Kin­der als eigent­li­che Pati­en­ten häu­fig lan­ge Zeit unbe­rück­sich­tigt blei­ben bzw. mit denen ihrer Umge­bung gleich­ge­setzt wer­den. Hier ste­hen The­ra­peu­ten und Ärz­te in der beson­de­ren Ver­ant­wor­tung, auch die Bedürf­nis­se des Kin­des bei der Behand­lung zu erken­nen, die­se vor den Ange­hö­ri­gen zu ver­tre­ten und den eige­nen the­ra­peu­ti­schen Ehr­geiz zurückzustellen.

Zudem führt ver­stärk­tes Üben kom­bi­niert mit hohen Erwar­tun­gen zum Teil zu Frus­tra­ti­on bei Kin­dern. Nicht prak­ti­ka­ble oder stig­ma­ti­sie­ren­de Hilfs­mit­tel wer­den vom Kind eben­so wie schmerz­haf­te ärzt­li­che Maß­nah­men kaum akzep­tiert, mög­lichst gemie­den und bedin­gen inner­fa­mi­liä­re Span­nun­gen oder Gleich­gül­tig­keit. Im Fol­gen­den wird gezeigt, wie eine adäqua­te the­ra­peu­ti­sche Beglei­tung von Kin­dern und Jugend­li­chen mit Behin­de­rung kon­zi­piert sein soll­te, um sol­che Effek­te zu vermeiden.

Metho­dik

Ver­sor­gungs­grund­la­ge ist die Wür­de des Men­schen unter Berück­sich­ti­gung sei­ner phy­si­schen und psy­chi­schen Situa­ti­on. Als Ver­sor­gungs­richt­li­nie ist der Heil- und Hilfs­mit­tel­ka­ta­log zu beach­ten [2]. Die Klas­si­fi­ka­ti­on zur Funk­ti­ons­fä­hig­keit, Behin­de­rung und Gesund­heit von Kin­dern (ICF-CY) bil­det die kind­li­che Gesund­heit in 4 Ebe­nen ab [3] (Abb. 1).

So gelingt es, neben den struk­tu­rel­len und funk­tio­nel­len Bedin­gun­gen auch die Umge­bungs­res­sour­cen, die beson­de­ren Belas­tun­gen und ins­be­son­Abb. 2 GMFCS-The­ra­pie­kur­ve [5]. dere die eige­ne Teil­ha­be und die Akti­vi­tä­ten des Pati­en­ten zu berück­sich­ti­gen. Die For­mu­lie­rung „Kör­per­struk­tur und ‑funk­ti­on“ beschreibt zunächst das kon­ser­va­ti­ve Ver­ständ­nis von Behin­de­rung; es han­delt sich also um eine Beschrei­bung des vor­han­de­nen Defi­zits auf struk­tu­rel­ler und funk­tio­nel­ler Ebe­ne. Hier­zu gehö­ren neben der Moto­rik auch Spra­che, Kogni­ti­on, Sen­so­rik und wei­te­re Körperfunktionen.

„Par­ti­zi­pa­ti­on (Teil­ha­be am Leben) und Selbst­wirk­sam­keit“ beschrei­ben die für den Pati­en­ten gefühl­te Behin­de­rung. Kin­der wol­len teil­ha­ben, mit ande­ren zusam­men sein, etwas erle­ben. Inso­fern kann das nicht geh­fä­hi­ge Kind, das mit einem The­ra­pie­rad neu ver­sorgt erst­mals in den Park fährt, sich sehr viel glück­li­cher füh­len als das voll geh­fä­hi­ge Kind mit leich­ter Spitz­fuß­ent­wick­lung, das beim Sport häu­fi­ger auf der Ersatz­bank zubringt, das dafür sonst aber im All­tag mehr Selbst­stän­dig­keit und damit Selbst­wirk­sam­keit erlebt.

Selbst­be­stimm­tes Han­deln ist die Basis für das Ver­ständ­nis des Seins. Eine gan­ze Rei­he von Hilfs­mit­teln für den All­tag kann die­se Selbst­be­stim­mung bereits unter­stüt­zen. Selbst wenn dem Pati­en­ten nur eine geziel­te Bewe­gung mög­lich ist oder eine Zufalls­be­we­gung repro­du­zier­bar wird, kann durch den Ein­satz bspw. eines elek­tro­ni­schen Tas­ters eine selbst­wirk­sa­me Will­kür­mo­to­rik geför­dert wer­den und dem Pati­en­ten dadurch z. B. die eigen­stän­di­ge Benut­zung elek­tro­ni­scher Gerä­te ermög­licht werden.

Es gibt heu­te eine Viel­zahl the­ra­peu­ti­scher Ansatz­punk­te, ange­passt an die Viel­falt der Behin­de­run­gen und die dar­aus ent­ste­hen­den Bedürf­nis­se. Die Basis­aus­wahl bei Kin­dern mit Zere­bral­pa­re­se ist in The­ra­pie­kur­ven auf­ein­an­der abge­stimmt. Das Gross Motor Func­tion Clas­si­fi­ca­ti­on Sys­tem (GMFCS) umfasst The­ra­pie­kur­ven in Form auf­ein­an­der abge­stimm­ter Bau­stei­ne [4]. Die GMFCS-The­ra­pie­kur­ven beru­hen auf den GMFCS-Ent­wick­lungs­kur­ven, visua­li­sie­ren adäquat den inter­dis­zi­pli­nä­ren The­ra­pie­an­satz und hel­fen, wich­ti­ge ent­wick­lungs­ge­rech­te The­ra­pie­ent­schei­dun­gen zu fäl­len (Abb. 2).

Am Anfang der The­ra­pie­pla­nung steht die funk­tio­nel­le und struk­tu­rel­le Beschrei­bung der Behin­de­rung. Die grob­mo­to­ri­schen Funk­tio­nen wer­den übli­cher­wei­se anhand des Gross Motor Func­tion Clas­si­fi­ca­ti­on Sys­tem (GMFCS) [5] beschrie­ben, die hand­mo­to­ri­schen Funk­tio­nen anhand des Manu­al Abili­ty Clas­si­fi­ca­ti­on Sys­tem (MACS) [6][7] und die kom­mu­ni­ka­ti­ven Fähig­kei­ten anhand des Com­mu­ni­ca­ti­on Func­tion Clas­si­fi­ca­ti­on Sys­tem (CFCS) [8][9]. Zwar wur­den die­se Ein­stu­fun­gen ursprüng­lich für Kin­der mit tetra­ple­gi­scher Zere­bral­pa­re­se ent­wi­ckelt, doch ermög­li­chen sie auch bei moto­ri­schen Behin­de­run­gen ande­rer struk­tu­rel­ler Ursa­chen eine adäqua­te Beschrei­bung der Fähig­kei­ten der Kin­der. Der ätio­lo­gi­sche Aspekt der Behin­de­rung, also die Ursa­che des struk­tu­rel­len Defekts, ist bei der The­ra­pie­pla­nung aller­dings geson­dert zu berück­sich­ti­gen, ins­be­son­de­re dann, wenn er Ein­fluss auf das The­ra­pie­er­geb­nis neh­men kann.

Die inter­dis­zi­pli­nä­re The­ra­pie umfasst funk­tio­nel­le The­ra­pien (Phy­sio­the­ra­pie, Ergo­the­ra­pie, Sprach­the­ra­pie u. a.), ortho­pä­die­tech­ni­sche Ver­sor­gun­gen (Orthe­sen, Mobi­li­sa­ti­ons- und ande­re Hilfs­mit­tel), loka­le Botu­li­num­to­xin­be­hand­lun­gen, sys­te­mi­sche anti­s­pas­ti­sche The­ra­pie (ora­le Medi­ka­men­te oder intra­the­ka­le Baclofen­the­ra­pie) sowie ope­ra­ti­ve The­ra­pie­an­sät­ze. Bei den ope­ra­ti­ven The­ra­pie­an­sät­zen wird in den letz­ten Jah­ren als frü­he mini­mal­in­va­si­ve Maß­nah­me immer häu­fi­ger die per­ku­ta­ne Fas­zio­myo­to­mie kom­ple­men­tär zur Botu­li­num­to­xin­be­hand­lung als loka­le Mus­kel­ver­län­ge­rung erfolg­reich angewandt.

Den funk­tio­nel­len The­ra­pien kommt beson­de­re Beach­tung zu. Sie sind die Basis jeder The­ra­pie­be­mü­hung. Über die zum Teil über Jah­re andau­ern­den The­ra­pien ent­steht ein beson­de­rer inter­per­so­nel­ler Pro­zess zwi­schen dem The­ra­peu­ten, dem Kind und sei­nen Eltern. Der The­ra­peut erlebt den Ent­wick­lungs­fluss des Kin­des und sei­ner Umge­bung und hat hier beson­ders sen­si­ble Mög­lich­kei­ten, die erfor­der­li­chen nächs­ten Schrit­te zu erken­nen, zu benen­nen und die wei­te­ren Behand­lun­gen anzustoßen.

Der moder­ne the­ra­peu­ti­sche Ansatz berück­sich­tigt dabei neben den struk­tu­rel­len und funk­tio­nel­len Gege­ben­hei­ten auch die sich ver­än­dern­den Bedin­gun­gen inner­halb der The­ra­pie, die sich aus der Umge­bung und der Moti­va­ti­on des Pati­en­ten erge­ben. In jeder The­ra­pie­stun­de sind dabei zumin­dest die vier Grund­ebe­nen „Bewe­gungs­sys­tem“, „Bewe­gungs­kon­trol­le“, „Inne­re Orga­ne“ und „Erle­ben und Ver­hal­ten des Pati­en­ten“ zu berück­sich­ti­gen („Neu­es Denk­mo­dell der Phy­sio­the­ra­pie“) [10], da jede ein­zel­ne die­ser Ebe­nen den Erfolg der Behand­lung mit­be­stimmt. Aus die­sen vier Grund­ebe­nen erge­ben sich erwei­ter­te Ebe­nen im All­tag des Kin­des, die ent­schei­dend über Erfolg oder Nicht­er­folg bestim­men (Abb. 3, 4).

Wäh­rend zu Beginn der phy­sio­the­ra­peu­ti­schen Behand­lung vor allem reflex­hem­men­de Lage­rung, Anbah­nung phy­sio­lo­gi­scher Bewe­gungs­mus­ter, Min­de­rung der Ent­wick­lung von Kon­trak­tu­ren und Stär­kung ant­ago­nis­ti­scher Mus­keln bei loka­ler Behand­lung im Vor­der­grund der The­ra­pie ste­hen, wird dies mit zuneh­men­dem Alter und fort­schrei­ten­der Ent­wick­lung der Kin­der durch geziel­te Funk­ti­ons­an­bah­nung für die Selbst­stän­dig­keit im All­tag abge­löst. Hier­bei kom­men dann auch ver­stärkt kom­ple­men­tä­re the­ra­peu­ti­sche Ansät­ze zum Einsatz.

Seit eini­gen Jah­ren kommt zur umfas­sen­de­ren Ein­schät­zung von Her­an­wach­sen­den mit Behin­de­rung die Inter­na­tio­na­le Klas­si­fi­ka­ti­on der funk­tio­nel­len Gesund­heit bei Kin­dern und Jugend­li­chen (ICF-CY) zum Ein­satz. Das neue phy­sio­the­ra­peu­ti­sche Denk­mo­dell der Behand­lung und die ICF betrach­ten den Men­schen indi­vi­du­ell und somit sei­ne jewei­li­gen Stö­run­gen bzw. Fähig­kei­ten. Auch wenn die Klas­si­fi­ka­ti­on nach ICF-CY auf den ers­ten Blick umfang­reich erscheint, so ist sie doch sehr gut dazu geeig­net, die Behin­de­rung am indi­vi­du­el­len Erle­ben des Betrof­fe­nen zu bemes­sen. Sie klas­si­fi­ziert in ers­ter Linie sei­ne Fähig­kei­ten und fokus­siert nicht auf sei­ne Ein­schrän­kun­gen. Anhand der umfas­sen­de­ren all­tags­be­zo­ge­nen Klas­si­fi­ka­ti­on lässt sich nun ziel­ge­rich­te­ter erken­nen, wel­che Funk­tio­nen noch trai­niert oder mit Hilfs­mit­teln unter­stützt wer­den müs­sen. Im Fol­gen­den wird anhand drei­er Fall­bei­spie­le auf­ge­zeigt, wie die­se Vor­ga­ben sich in der the­ra­peu­ti­schen Pra­xis sinn­voll umset­zen lassen.

Fall­bei­spiel 1

Ein Jun­ge von 9 Jah­ren wird erst­mals zur Lang­zeit­be­hand­lung vor­ge­stellt, nach­dem eine neu­ro­de­ge­nera­ti­ve Erkran­kung (hier Leu­ko­dys­tro­phie) zu einer tetra­ple­gi­schen schlaf­fen Pare­se mit Tonus­er­hö­hung in der unte­ren Extre­mi­tät führ­te. Bis zum Erkran­kungs­be­ginn bestand eine unauf­fäl­li­ge soma­ti­sche, moto­ri­sche und men­ta­le Entwicklung.

Unter Berück­sich­ti­gung des struk­tu­rel­len Defi­zits wird eine Beschrei­bung des Behin­de­rungs­le­vels nach GMFCS, MACS und CFCS im Level V vor­ge­nom­men. Dem­nach besteht aktu­ell kei­ne eigen­stän­di­ge Mobi­li­tät, Hand­lungs- oder Kom­mu­ni­ka­ti­ons­fä­hig­keit. Das Kind ist in der Lage zu geziel­ten Kopf­wen­dun­gen, Geräusch­bil­dun­gen und damit ver­bun­de­nen Gefühls­äu­ße­run­gen im Sin­ne von Zufrie­den­heit oder Unmut. Wei­ter­hin ist der Pati­ent noch in der Lage, ange­reich­te Nah­rung genuss­voll oral auf­zu­neh­men, zu kau­en und zu schlucken.

Die The­ra­pie­pla­nung sieht eine umfas­sen­de Hilfs­mit­tel­ver­sor­gung zur wei­te­ren Teil­ha­be sowie Maß­nah­men zur Pfle­ge­er­leich­te­rung im häus­li­chen und schu­li­schen Umfeld vor. Zudem ste­hen der Erhalt der noch vor­han­de­nen Fähig­kei­ten, die Min­de­rung der wei­te­ren Kon­trak­tur­ent­wick­lung und die Min­de­rung des Schmerz­er­le­bens im Vor­der­grund. Ziel der Behand­lung ist es, dem Kind trotz fort­schrei­ten­der Erkran­kung eine maxi­mal mög­li­che Lebens­qua­li­tät zu sichern. Die Phy­sio­the­ra­pie ist dabei neben der Hilfs­mit­tel­ver­sor­gung der wich­tigs­te Bau­stein. Ange­bo­te zur erwei­ter­ten Sin­nes­er­fah­rung wie basa­le Sti­mu­la­ti­on, Ele­men­te der Musik­the­ra­pie, Was­ser- und tier­ge­stütz­te The­ra­pien sind eine wert­vol­le Ergän­zung. Unter­stüt­zend erwei­sen sich zunächst pro­ba­to­ri­sche Botu­li­num­to­xin­be­hand­lun­gen im Bereich des Gas­tro­c­ne­mi­us zur Tonus­re­duk­ti­on als hilf­reich; sie erleich­tern das täg­li­che Anle­gen der Unter­schen­kel­or­the­sen. Die­se wie­der­um sind erfor­der­lich, um eine Ver­ti­ka­li­sie­rung des Kin­des in einem The­ra­pie­stand­ge­rät zu ermög­li­chen. Eine Sprach­the­ra­pie ist zur För­de­rung der mund­mo­to­ri­schen Koor­di­na­ti­on erfor­der­lich. Damit ist es dem Kind mög­lich, Spei­chel und Nah­rung wei­ter­hin oral zu ver­ar­bei­ten. Über die ora­le Ernäh­rung wird ihm zumin­dest eine gust­a­to­ri­sche Teil­ha­be wei­ter­hin ermöglicht.

Die­ses Bei­spiel ver­an­schau­licht, inwie­fern gera­de bei schwer beein­träch­ti­gen­der Behin­de­rung ein sinn­vol­les Inein­an­der­grei­fen der mul­ti­plen Behand­lungs- und Unter­stüt­zungs­an­ge­bo­te erfor­der­lich ist, um dem Kind und sei­ner Fami­lie eine maxi­mal mög­li­che Gesund­heit und Lebens­qua­li­tät zu ermöglichen.

Fall­bei­spiel 2

Ein Kind mit klas­si­scher tetra­ple­gi­scher Zere­bral­pa­re­se nach früh­kind­li­chem Hirn­scha­den wird mit 5 Jah­ren erst­mals vor­ge­stellt. Die nähe­re Unter­su­chung ermit­telt moto­ri­sche Fähig­kei­ten, die frü­he­ren Ent­wick­lungs­stu­fen inner­halb von GMFCS II ent­spre­chen. Das Kind ist in der Lage, sich hoch­zu­zie­hen, krab­belt, steht an Möbeln und läuft an ihnen ent­lang. Ana­mnes­tisch sei das Kind bereits seit zwei Jah­ren in die­sem moto­ri­schen Ent­wick­lungs­stand. Das Hand­ling erfolgt mit bei­den Hän­den unbe­ein­träch­tigt (MACS I). Das Kind wirkt unge­übt in der Selbst­stän­dig­keit, die Kom­mu­ni­ka­ti­ons­fä­hig­keit ist sowohl für den Sen­der als auch für den Emp­fän­ger jedoch wei­test­ge­hend unbe­ein­träch­tigt (CFCS I). Als ein­zi­ger Behand­lungs­bau­stein wur­de bis­her Phy­sio­the­ra­pie in unre­gel­mä­ßi­ger Form durch­ge­führt. Es kommt bereits zur Ent­wick­lung von mus­ku­lä­ren Ver­kür­zun­gen mit Spitzfuß.

Die nähe­re Betrach­tung der Umge­bungs­res­sour­cen nach ICF-CY iden­ti­fi­ziert man­gel­haft infor­mier­te Eltern, die nun unmit­tel­bar durch Bera­tung und Visua­li­sie­rung hin­sicht­lich der Ent­wick­lung und der mög­li­chen Unter­stüt­zung ihres Kin­des auf­ge­klärt wer­den. Eine Rück­spra­che mit dem Kin­der­gar­ten ergibt gut aus­ge­bau­te Mög­lich­kei­ten vor Ort, das Kind regel­mä­ßig zu the­ra­pie­ren und zu inte­grie­ren, jedoch erschei­ne das Kind dort nur unregelmäßig.

Es erfolgt eine umfas­sen­de The­ra­pie­pla­nung unter Ein­be­zug einer inten­si­ve­ren Phy­sio­the­ra­pie sowie einer Ver­sor­gung mit Orthe­sen, Nacht­la­ge­rungs­schie­nen und Mobi­li­täts­hil­fen wie einem Retro­wal­ker. Wei­ter­hin wird eine loka­le Botu­li­num­to­xin­be­hand­lung zur The­ra­pie­un­ter­stüt­zung emp­foh­len. Die Fami­lie wird zu einer regel­mä­ßi­gen und inten­si­ve­ren The­ra­pie motiviert.

Im wei­te­ren Ver­lauf stellt sich aller­dings her­aus, dass die Ter­mi­ne unzu­ver­läs­sig wahr­ge­nom­men wer­den. Auch im the­ra­peu­ti­schen Umfeld und sei­tens des Kin­der­gar­tens ent­steht Sor­ge hin­sicht­lich der wei­te­ren Ent­wick­lung des Kin­des, da es nur unre­gel­mä­ßig erscheint. Gleich­zei­tig wird in den fol­gen­den zwei Jah­ren eine zuneh­men­de Kon­trak­tur­ent­wick­lung beob­ach­tet; schließ­lich ist das Kind nicht mehr in der Lage, sich auf­zu­stel­len; es kann sich nur noch in einem Roll­stuhl fort­be­we­gen (GMFCS III), und die anfangs zu beob­ach­ten­de Mobi­li­täts­freu­de nimmt ab.

Da die umfas­sen­den Bemü­hun­gen zur fami­liä­ren Unter­stüt­zung schei­tern, kommt es schließ­lich zu einer Inob­hut­nah­me des Kin­des durch den ört­li­chen Jugend­schutz. Im Rah­men der in die­sem Zuge ein­ge­lei­te­ten inten­si­ven För­de­rung des Kin­des in einem Inter­nat für Men­schen mit Behin­de­run­gen gelingt es, das Kind wie­der zu mobi­li­sie­ren. Nach nur einem wei­te­ren Jahr ist es jetzt auf dem Weg, frei zu lau­fen. Sogar das Errei­chen von GMFCS I ist vor­stell­bar. Nach­dem die Eltern ange­sichts der erreich­ten Fähig­kei­ten des Kin­des den För­de­r­er­folg nach­voll­zie­hen kön­nen, sind sie nun aus eige­ner Moti­va­ti­on in der Lage, die auf­wen­di­gen The­ra­pien am Kind kon­se­quent zu begleiten.

Fall­bei­spiel 3

Ein männ­li­cher Teen­ager, 13 Jah­re alt, mit tetra­ple­gi­scher bein­be­ton­ter Zere­bral­pa­re­se (GMFCS II, MACS I) ist seit sei­ner Kin­der­gar­ten­zeit bei der Ver­fas­se­rin in regel­mä­ßi­ger Behand­lung. Die bis­he­ri­gen The­ra­pie­be­mü­hun­gen rei­chen von Phy­sio­the­ra­pie über die Ver­sor­gung mit Orthe­sen und Mobi­li­täts­hil­fen bis hin zu Botu­li­num­to­xin­in­jek­tio­nen bis vor zwei Jah­ren. Zeit­wei­se kann der Jun­ge sogar mit ande­ren Kin­dern Fuß­ball spie­len, was ihm sehr wich­tig ist.

Im Zuge des Län­gen­wachs­tums kommt es jedoch zu einer deut­li­chen Beu­ge­kon­trak­tur­ent­wick­lung der Knie- und Hüft­beu­ger, sodass Auf­rich­tung und Gehen gefähr­det sind. Selbst weni­ge Meter Geh­stre­cke erfor­dern häu­fi­ge Pau­sen. In die­ser Zeit fin­det der Teen­ager zum Roll­stuhl­bas­ket­ball und erlebt dabei viel Erfolg und Anerkennung.

Es ist aller­dings eine erneu­te Inten­si­vie­rung der The­ra­pien erfor­der­lich, um ihm die Auf­rich­tung und das Gehen im All­tag wie­der zu erleich­tern. Zur the­ra­peu­ti­schen Unter­stüt­zung ist eine loka­le Deto­ni­sie­rung der betrof­fe­nen Mus­ku­la­tur sinn­voll. Auf­grund sei­ner nega­tiv gepräg­ten Erin­ne­rung an die für ihn schmerz­haf­ten Botu­li­num­to­xin­in­jek­tio­nen ist er die­ser Behand­lung gegen­über nicht mehr auf­ge­schlos­sen. Er wird daher für eine per­ku­ta­ne Fas­zio­myo­to­mie mit anschlie­ßen­der Inten­sivre­ha­bi­li­ta­ti­ons­maß­nah­me vor­ge­schla­gen. Nach die­ser Behand­lung gelingt es ihm, das freie Gehen wie­der auf­zu­neh­men. Ein Aktiv­roll­stuhl ist nur noch für wei­te Stre­cken erforderlich.

Aller­dings wird der Teen­ager durch einen Mit­be­hand­ler irri­tiert, der ihn auf­for­der­te, den Roll­stuhl­sport wie­der auf­zu­ge­ben – aus­ge­hend von der Über­le­gung, dass der Sport im Roll­stuhl die wei­te­ren Behand­lungs­er­fol­ge hin­sicht­lich des frei­en Gehens gefähr­de. Dem Teen­ager war Sport jedoch immer sehr wich­tig, und es beein­träch­tig­te ihn sehr, beim Fuß­ball mit sei­nen Freun­den nicht mehr mit­hal­ten zu kön­nen. Über den Roll­stuhl­sport hat er eine sinn­vol­le Alter­na­ti­ve für sich ent­deckt, hat Erfolg und bekommt dar­über Aner­ken­nung. Der Roll­stuhl­sport hat ihm somit trotz der grö­ße­ren Ein­schrän­kun­gen beim Gehen neue Lebens­freu­de und neue Moti­va­ti­on für künf­ti­ge Zie­le ver­mit­telt. Inso­fern wird mit dem Mit­be­hand­ler Rück­spra­che gehal­ten und der Pati­ent moti­viert, den Roll­stuhl­sport fort­zu­set­zen, da die­ser die wie­der erreich­te Geh­fä­hig­keit kei­nes­wegs gefähr­det, son­dern bis­he­ri­ge Fort­schrit­te noch unterstützt.

Ergeb­nis

Die The­ra­pie von Kin­dern mit Behin­de­run­gen erfor­dert eine umfas­sen­de Kennt­nis der kom­ple­xen struk­tu­rel­len und funk­tio­nel­len Defi­zi­te im Zusam­men­spiel pati­en­ten- und umwelt­be­zo­ge­ner Res­sour­cen, viel Erfah­rung, die Zusam­men­ar­beit in einem mul­ti­dis­zi­pli­nä­ren Team sowie eine adäqua­te Abspra­che mit flan­kie­ren­den Behand­lern und edu­ka­ti­ven Institutionen.

Die Ver­bes­se­rung der Lebens­qua­li­tät, der sozia­len Teil­ha­be und der Selbst­wirk­sam­keit ste­hen heu­te im Vor­der­grund der Behand­lungs­pla­nung. Die vor­ge­stell­ten Fall­bei­spie­le zei­gen das kom­ple­xe Wech­sel­spiel zwi­schen Defi­zi­ten und Fähig­kei­ten, Moti­va­ti­on und Res­sour­cen von Pati­ent und Umge­bung, struk­tu­rel­len Ver­än­de­run­gen und the­ra­peu­ti­schen Inter­ven­ti­ons­mög­lich­kei­ten auf.

Die Autorin:
Dr. med. Mari­ka Schiebe
Lebens­zen­trum Königsborn
Zim­mer­platz 1
59425 Unna
m.schiebe@lebenszentrum-koenigsborn.de

Begut­ach­te­ter Beitrag/reviewed paper

Zita­ti­on
Schie­be M. Indi­vi­du­el­le the­ra­peu­ti­sche Beglei­tung von Kin­dern mit kör­per­li­chen Behin­de­run­gen — Eine mul­ti­dis­zi­pli­nä­re Her­aus­for­de­rung. Ortho­pä­die Tech­nik, 2016; 67 (3): 68–72
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