Hilfs­mit­tel­be­darf in der Früh­för­de­rung schwer­be­hin­der­ter Kin­der — Fall­bei­spie­le aus der täg­li­chen Praxis

J. Becker, B. Rose, S. Ortfeld, M. Ekkernkamp
Leistungserbringer in der Orthopädie-Technik mit der Fokussierung auf technische Kinderorthopädie werden täglich vor die Herausforderung gestellt, schwer- und schwerstbehinderte Kinder adäquat orthopädietechnisch zu versorgen. Der folgende Artikel stellt in einem praxisnahen Zugriff drei ausgewählte Fallbeispiele von Versorgungen der unteren Extremität vor. Besonderer Wert wird dabei auf die Darstellung der Umsetzung des integrativen Versorgungsansatzes gelegt.

Ein­lei­tung

Als Leis­tungs­er­brin­ger mit der Fokus­sie­rung auf tech­ni­sche Kin­der­or­tho­pä­die sind ca. 70 % der Pati­en­ten des Haupt­au­tors Kin­der, die i. d. R. unmit­tel­bar nach ihrer Geburt behan­delt und häu­fig ein Kin­der- und Jugend­le­ben lang ortho­pä­die­tech­nisch beglei­tet wer­den müs­sen. Die Gemein­sam­keit, die sie alle aus­zeich­net, ist das Vor­han­den­sein einer ange­bo­re­nen oder trau­ma­ti­schen Behin­de­rung. Die Fehl­bil­dung kann häu­fig bereits prä­na­tal im Rah­men bild­ge­ben­der Dia­gnos­tik fest­ge­stellt wer­den und zeigt sich peri­na­tal in ihrer end­gül­ti­gen Form.

Schon in die­sem frü­hen Sta­di­um bil­det sich das trans­dis­zi­pli­nä­re Behand­lungs­team und erar­bei­tet ein gemein­sa­mes Behand­lungs- und Ver­sor­gungs­kon­zept. Die Her­an­ge­hens­wei­se rich­tet sich dabei grund­sätz­lich nach den kind­li­chen Ent­wick­lungs­pha­sen. Eine durch­gän­gi­ge Anleh­nung an die Ein­tei­lung in Per­zen­ti­len der Ent­wick­lung ist auf­grund der vor­lie­gen­den Behin­de­run­gen jedoch nur ein­ge­schränkt mög­lich. Eine zen­tra­le Bedeu­tung bei der ortho­pä­die­tech­ni­schen Ver­sor­gung kommt der Ver­ti­ka­li­sie­rung des Kin­des zu. Auf­grund ope­ra­ti­ver Ein­grif­fe, sta­tio­nä­rer Kli­nik­auf­ent­hal­te oder vor­lie­gen­der Reduk­ti­ons­de­fek­te ist eine alters­ge­rech­te moto­ri­sche Ent­wick­lung, vor allem das eigen­stän­di­ge Ver­ti­ka­li­sie­ren, i. d. R. nicht mög­lich. In eini­gen Fäl­len gilt es sogar, dies mit Unter­stüt­zung des Hilfs­mit­tels zunächst zu unter­bin­den, um Schä­di­gun­gen oder Fehl­ent­wick­lun­gen des vor­han­de­nen Ske­letts zu verhindern.

Im Lau­fe der Umset­zung des Ver­sor­gungs­kon­zep­tes wird jeder ein­zel­ne Ent­wick­lungs­schritt ent­spre­chend ortho­pä­die­tech­nisch beglei­tet, indem Anpas­sun­gen und Ände­run­gen am Hilfs­mit­tel zeit­nah vor Ort, in der Kli­nik oder im häus­li­chen Umfeld, vor­ge­nom­men wer­den. Dabei kommt den Aspek­ten „Sozia­les Umfeld“ und „Teil­ha­be“ eine beson­de­re Bedeu­tung zu.

Fall­bei­spiel 1

Pati­en­ten­fak­ten
Geburts­da­tumJanu­ar 2012
Geschlechtweib­lich
Dia­gno­sekon­ge­ni­taler Femur­de­fekt (Klas­si­fi­ka­ti­on nach Paley Typ 2 A)
Prä­va­lenz1:100.000

Ana­mne­se und Diagnose

Die Pati­en­tin wird mit einem pro­xi­ma­len Femur­de­fekt rechts, Typ 2 A (Klas­si­fi­ka­ti­on n. Paley), gebo­ren. Der Bewe­gungs­sta­tus im Fuß­ge­lenk ist frei, im Knie­ge­lenk erzeugt eine Insuf­fi­zi­enz des hin­te­ren Kreuz­ban­des Insta­bi­li­tät. Es besteht ein Streck­de­fi­zit im Knie­ge­lenk von 25°. In der Hüf­te ist die Abduk­ti­on ein­ge­schränkt, das Streck­de­fi­zit liegt nach der Neu­tral-Null-Metho­de bei 0°/45°/110° Ex/Flex, die Rota­ti­on ist frei. Eine Arth­ro­gra­phie im Juli 2013 zeigt einen fest im Ace­tabu­lum lie­gen­den 8 mm klei­nen Hüft­kopf. Zu die­sem Zeit­punkt ist eine OP nicht indi­ziert (Abb. 1a–c).

Behand­lungs­ver­lauf

Das kon­ser­va­ti­ve Behand­lungs­team wird durch eine orts­an­säs­si­ge Fach­ärz­tin für Kin­der­or­tho­pä­die koor­di­niert. Die ope­ra­ti­ve Fra­ge­stel­lung erfolgt im AKK Ham­burg, zwei wei­te­re natio­na­le und inter­na­tio­na­le Fach­ärz­te wer­den zwecks Zweit­mei­nung konsultiert.

Mit der orthop­ro­the­ti­schen Ver­sor­gung wird zeit­gleich zur Bereit­schaft der Pati­en­tin, sich hoch­zu­zie­hen und hin­zu­stel­len, begon­nen. Im April 2013 erfolgt die Erst­ver­sor­gung mit einer Orthop­ro­the­se mit OS-Schaft und Aus­rich­tung der ana­to­mi­schen Fuß­ach­se im OSG in Spitz­fuß­stel­lung 35° (Abb. 2). Bei den wachs­tums­be­ding­ten Erneue­run­gen im wei­te­ren Ver­lauf (Abb. 3) erfolgt davon abwei­chend die Ein­stel­lung im OSG auf 0°. Die Ver­ti­ka­li­sie­rung erfolgt per­zen­ti­len­ge­recht mit 13 Monaten.

Tech­ni­sche Umset­zung der Erst­ver­sor­gung im Alter von 13 Mona­ten (Abb. 2)

  • längs­ova­ler OS-Ring­schaft mit annä­hern­der Umgrei­fung des Tuber ischia­di­cum (Kind trägt Win­deln) und Weich­teil­ein­fas­sung unter Anstüt­zung der Glutäen
  • Knie­ge­lenk mit Sper­re und Ras­ten­ge­lenk, um den Beu­ge­kon­trak­tu­ren in Hüf­te und Knie suk­zes­si­ve entgegenzuwirken
  • Aus­rich­tung der ana­to­mi­schen Fuß­ach­se im OSG in Spitz­fuß­stel­lung 35°
  • Pro­the­sen­fuß in Eigen­bau als gespal­te­ne Pre­preg-Feder in Pedi­lin® ein­ge­fasst, um einen federn­den, rigi­den Vor­fuß­he­bel zu erhal­ten (rück­he­belnd zur Kniestreckung/Hüftstreckung bei Belastung)

Tech­ni­sche Umset­zung der Fol­ge­ver­sor­gun­gen (Abb. 3)

Vom Grund­satz her wie Erst­ver­sor­gung, aber:

  • längs­ova­ler OS-Ring­schaft mit annä­hern­der Umgrei­fung des Tuber ischia­di­cum (Kind trägt Win­deln) und Weich­teil­ein­fas­sung unter Anstüt­zung der Glutäen
  • Ein­stel­lung des ana­to­mi­schen Fußes in der Orthop­ro­the­se: Ein­stel­lung der ana­to­mi­schen Fuß­ach­se im OSG auf 0°; dar­aus resul­tiert: ana­to­mi­scher und Pro­the­sen­fuß ste­hen par­al­lel über­ein­an­der („Dop­pel­de­cker“), um struk­tu­rel­le Ver­än­de­run­gen im Fuß zu vermeiden
  • Über­gang zu einem Pro­the­sen­sys­tem in Modularbauweise

In Fäl­len wie dem oben beschrie­be­nen kommt es in den Behand­lungs­teams immer wie­der zu Dis­kus­sio­nen dar­über, wie die Aus­rich­tung der ana­to­mi­schen Fuß­ach­se im OSG im Hin­blick auf ggf. spä­ter durch­zu­füh­ren­de Ope­ra­tio­nen in der zu kon­stru­ie­ren­den Orthop­ro­the­se ange­legt wer­den soll. Ver­län­ge­rungs­ope­ra­tio­nen wer­den über einen Zeit­raum von meh­re­ren Jah­ren durch­ge­führt. Dabei kann es zu Kom­pli­ka­tio­nen mit dar­aus resul­tie­ren­den sta­tio­nä­ren Kran­ken­haus­auf­ent­hal­ten kom­men. Dar­über hin­aus bedeu­ten die Fix­a­teu­re für das Kind eine Ein­schrän­kung in der Mobi­li­tät. Für die betrof­fe­nen Kin­der, die sich zu die­sem Zeit­punkt meis­tens im Kindergarten‑, Vor­schul- oder Schul­al­ter befin­den, kann dies zu einer schwe­ren Belas­tung in der psy­cho­so­zia­len Ent­wick­lung führen.

Die Mit­glie­der aller an einer sol­chen Ver­sor­gung betei­lig­ten Fach­krei­se sind gefor­dert, die­se und ande­re Dis­kus­sio­nen wäh­rend des gesam­ten Behand­lungs­ver­laufs zu füh­ren und ihr Für und Wider vor einer gemein­sa­men Ent­schei­dung ein­zu­brin­gen und abzu­wä­gen. Der Fokus liegt dabei immer auf der opti­ma­len Ver­sor­gung des Pati­en­ten, nicht nur unter ope­ra­ti­ven oder kon­ser­va­ti­ven Gesichts­punk­ten, son­dern im Ein­klang mit allen zu berück­sich­ti­gen­den Para­me­tern. Dabei gilt es zu beden­ken, dass nicht alles, was tech­nisch mög­lich ist, auch zwin­gend sinn­voll ist.

Fall­bei­spiel 2

Pati­en­ten­fak­ten
Geburts­da­tumJanu­ar 2009
Geschlechtweib­lich
Dia­gno­seTibia-Apla­sie bds. (rechts Grad 1, links Grad 2a, Klas­si­fi­ka­ti­on nach Kalam­chi u. Dawe)
Prä­va­lenz1:100.000

Ana­mne­se und Diagnose

Prä­na­tal wird bei der Pati­en­tin im Ultra­schall eine beid­sei­ti­ge Fehl­bil­dung der unte­ren Extre­mi­tät dia­gnos­ti­ziert. Die Pati­en­tin kommt per Sec­tio in der 31. SSW als Früh­ge­bo­re­nes (Abb. 4a) zur Welt. Das Krank­heits­bild prä­sen­tiert sich nach der Geburt als beid­sei­ti­ge Tibiaa­pla­sie, rechts Grad 1, links Grad 2a (Abb. 4b). Rechts­sei­tig besteht eine Knie­beu­ge­kon­trak­tur von 110°. Die Patel­laa­pla­sie zieht einen feh­len­den Mus­kel­streck­ap­pa­rat nach sich, der Fuß steht in Inver­si­on und Klump­fuß­stel­lung, die Groß­ze­he ist hypop­las­tisch. Links­sei­tig ist das Knie­ge­lenk frei beweg­lich. Patel­la und Streck­ap­pa­rat sind vor­han­den, ein Tibia­pla­teau ist erkenn­und tast­bar. Der lin­ke Fuß steht eben­falls in Inver­si­ons- und Klump­fuß­stel­lung. Ein Herz­feh­ler und das sehr nied­ri­ge Geburts­ge­wicht machen zunächst einen mehr­wö­chi­gen sta­tio­nä­ren Auf­ent­halt notwendig.

Behand­lungs­ver­lauf (Abb. 5a–e)

Das kon­ser­va­ti­ve Manage­ment erfolgt im UKSH Lübeck/Sektion Kin­der­or­tho­pä­die sowie im SPZ des UKSH Lübeck. Die ope­ra­ti­ve Behand­lung fin­det im Uni­ver­si­täts­kli­ni­kum Müns­ter statt.

  • Ab Mai 2009 begin­nen die ortho­pä­di­sche Behand­lung der Beu­ge­kon­trak­tur des rech­ten Knie­ge­len­kes mit redres­sie­ren­den Gip­sen sowie das kon­ser­va­ti­ve Redress­ment bei­der Füße.
  • Im Okto­ber 2009 erfolgt die Erst­vor­stel­lung im Uni­ver­si­täts­kli­ni­kum Müns­ter, im März 2010 die ope­ra­ti­ve Dis­trak­ti­on, Redres­si­on und Rekon­struk­ti­on der Defor­mi­tä­ten mit exter­nen Fix­a­teu­ren (Abb. 5a). Die Fix­a­teu­re wer­den über ein hal­bes Jahr in zwei Pha­sen à drei Mona­ten mit täg­li­chem Redress­ment angepasst.
  • Der rech­te Fix­a­teur dis­tra­hiert und fixiert Ober­schen­kel, Unter­schen­kel und Fuß. Links­sei­tig wird nur der Unter­schen­kel zum Fuß in Stel­lung gebracht.
  • Im Okto­ber 2010 erfolgt eine ope­ra­ti­ve Unter­stel­lung mit Kirsch­ner­dräh­ten am lin­ken US und Fuß, am rech­ten OS und US und am rech­ten US und Fuß. Anschlie­ßend fin­det ein 10-wöchi­ges Gips­re­dress­ment statt.
  • Die ers­te ortho­pä­die­tech­ni­sche Ver­sor­gung mit dor­sal geführ­ten Lage­rungs­or­the­sen mit Spitz­fuß­aus­gleich (zur Ver­ti­ka­li­sie­rung) erfolgt im Novem­ber 2010. Im Dezem­ber 2010 macht die Pati­en­tin ihren ers­ten erfolg­rei­chen Stehversuch.
  • Die Ver­ti­ka­li­sie­rung erfolgt erst mit 21 Mona­ten, damit nicht per­zen­ti­len­ge­recht. Die­ser Umstand ist dem sehr kom­ple­xen Krank­heits­bild und der dar­aus resul­tie­ren­den Behand­lung (konservativ/operativ) geschuldet.
  • Ab Janu­ar 2011, im Alter von 24 Mona­ten, beginnt die Her­stel­lung dyna­mi­scher Orthe­sen mit suk­zes­si­ver Frei­ga­be der Beweg­lich­keit in den Knie­ge­len­ken mit­tels Gasdruckfedern.
  • Im Mai 2013 wird der K‑Draht ent­fernt und eine Pseud­arthro­se­an­fri­schung sowie eine Osteo­to­mie der tibio­fi­bu­la­ren Syn­osto­se durchgeführt.

Tech­ni­sche Aus­füh­rung der ers­ten dyna­mi­schen Orthe­sen (Abb. 6)

Links

  • OS-Orthe­se in FVW-Bau­wei­se mit sepa­ra­tem Fuß­seg­ment in Leder-/Pryx-Tech­nik
  • OS-Hül­se ven­tral geschlossen
  • US-Hül­se dor­sal geschlossen
  • mono­la­te­ra­les gesperr­tes Knie­ge­lenk (Fall­schloss­sper­re, die suk­zes­si­ve frei­ge­ge­ben wird)
  • Stel­lung (nach vor­ge­ge­be­ner ana­to­mi­scher ske­letta­ler Situa­ti­on): OSG in Spitz­fuß­stel­lung 40°; USG in Inver­si­on­s­tel­lung 18° (Erschei­nungs­bild einer Klump­fuß­stel­lung); Knie­ge­lenk in Varus­fehl­stel­lung 5°; Hüft­ge­lenk frei beweglich
  • Orthop­ro­the­sen­fuß in Son­der­bau als gega­bel­te Pre­preg-Kon­struk­ti­on mit pro­por­tio­nal ange­pass­tem Vor­fuß­he­bel geco­vert in Pedi­lin®, Ver­bin­dung zur Orthe­sen­kon­struk­ti­on mit­tels Modu­lar­ad­ap­ter in Eigenkonstruktion

Rechts

  • OS- und US-Schaft wie links
  • mono­la­te­ra­les frei­es Knie­ge­lenk mit pneu­ma­ti­scher Exten­si­ons­kraft­ein­heit (Gas­druck­fe­der) bei wackel­stei­fem Knie­ge­lenk Ex/Flex 0°/20°/50°
  • OSG in Spitz­fuß­stel­lung 65°
  • USG in Inver­si­on­s­tel­lung 10° (Erschei­nungs­bild einer Klumpfußstellung)
  • Knie­ge­lenk in Varus­fehl­stel­lung 18°
  • Hüft­ge­lenk in Fle­xi­ons­stel­lung 15°
  • Orthop­ro­the­sen­fuß in Son­der­bau als gega­bel­te Pre­preg-Kon­struk­ti­on mit pro­por­tio­nal ange­pass­tem Vor­fuß­he­bel geco­vert in Pedi­lin®, Ver­bin­dung zur Orthe­sen­kon­struk­ti­on mit­tels Modu­lar­ad­ap­ter in Eigenkonstruktion

Fall­bei­spiel 3

Pati­en­ten­fak­ten
Geburts­da­tumDezem­ber 2012
Geschlechtmänn­lich
Dia­gno­seWeich­teil­sar­kom am dista­len Tibiaende/Fuß

Ana­mne­se und Dia­gno­se (Abb. 7a–c)

In der Woche vor dem Geburts­ter­min kommt im Rah­men einer sono­gra­phi­schen Unter­su­chung des Pati­en­ten der Ver­dacht auf ein Steiß­beinter­atom der Mut­ter mit Dif­fe­ren­ti­al­dia­gno­se Pla­zen­ta­tu­mor (Rhab­do­myo­sar­kom) auf. Peri­na­tal erweist sich dies jedoch als Weich­teil­sar­kom des Unter­schen­kels des Pati­en­ten. In der Fol­ge wird der Pati­ent an sei­nem zwei­ten Lebens­tag links­sei­tig trans­ti­bi­al ampu­tiert (Abb. 7c). Im wei­te­ren Ver­lauf erhält er teil­sta­tio­när Chemotherapie.

Behand­lungs­ver­lauf

Das Pati­en­ten­ma­nage­ment zur zukünf­ti­gen Pro­the­sen­ver­sor­gung fin­det im UKSH Lübeck statt. Eine orts­an­säs­si­ge Fach­ärz­tin für Kin­der­or­tho­pä­die führt und koor­di­niert gemein­sam mit dem Fach­ärz­te­team des UKSH Lübeck die kon­ser­va­ti­ve Behand­lung. Den ope­ra­ti­ven Part über­nimmt das UKSH Lübeck.

Sei­nen ers­ten HTV-Liner nach Gips­ab­druck erhält der Pati­ent post­ope­ra­tiv nach sechs Mona­ten. Die täg­li­che Tra­ge­zeit zur Kon­di­tio­nie­rung des US-Stump­fes liegt anfangs bei 3‑mal 15 Minu­ten täg­lich. Für Krab­bel­ver­su­che wird die ers­te Pro­the­se im Alter von neun Mona­ten post­ope­ra­tiv gebaut. Die selbst­stän­di­ge Ver­ti­ka­li­sie­rung erfolgt im Alter von 13 Monaten.

Tech­ni­sche Ausführung

  • Stumpf­for­mun­g/-kon­di­tio­nie­rung durch Wick­lung postoperativ
  • anschlie­ßend Kom­pres­si­ons­stumpf­strumpf aus dün­nem Skin­ge­strick CCL1; 10. Tag nach der OP
  • indi­vi­du­ell gefer­tig­ter HTV-SI-Kom­pres­si­ons­li­ner (Shore 20, 1,4 mm Mate­ri­al­stär­ke) nach Gipsabdruck
  • ers­te Pro­the­sen­ver­sor­gung im Alter von 9 Mona­ten zum Krab­beln (Abb. 8­  a u. b); kein Pro­the­sen­fuß, um das Ver­dre­hen im Knie­ge­lenk zu vermeiden
  • mit 13 Mona­ten – per­zen­ti­len­ge­recht – ers­te Pro­the­se zum Ver­ti­ka­li­sie­ren und Lau­fen (beson­de­re Anfor­de­rung: all­tags­ge­rech­te Gestal­tung, muss z. B. dem täg­li­chen gemein­sa­men Spielen/Toben mit 4 Geschwis­tern stand­hal­ten) (Abb. 9); indi­vi­du­ell gefer­tig­ter HTV-SI-Liner (Shore 20, 1,6 mm Mate­ri­al­stär­ke) mit dista­lem Liner-Anschluss mit Gewe­be­ver­stär­kung, um einen Längs­zug auf die Weich­tei­le zu ver­mei­den; Liner-Lock-Sys­tem aus der Arm­pro­the­tik, da aus der Kin­der-Bein­pro­the­tik zu volu­mi­nös; auf­grund begrenz­ter Pass­teil­aus­wahl und zu gerin­ger Bau­hö­he wur­den kei­ne Modu­lar­bau­tei­le ver­wen­det; in Eigen­bau gestal­te­ter Pro­the­sen­fuß (Pre­preg-Span­ge mit gega­bel­tem Vor­fuß in Pedi­lin® eingearbeitet)

Fazit

Bei allen drei Kin­dern bestand eine hohe Akzep­tanz des Hilfs­mit­tels, mit dem sie jeweils ver­sorgt wur­den. Sie waren kogni­tiv in der Lage, ihre Erst­ver­sor­gun­gen als selbst­ver­ständ­lich zu emp­fin­den und deren Nut­zen in ihrem sozia­len Umfeld direkt zu erle­ben. Die Eltern unter­stütz­ten ihre Kin­der unter Füh­rung durch das trans­dis­zi­pli­nä­re Team dabei best­mög­lich und tru­gen somit nicht unwe­sent­lich zum Erfolg der Ver­sor­gun­gen bei.

Vor dem Hin­ter­grund der all­ge­mei­nen Bemü­hun­gen, ICF-CY, die „Inter­na­tio­na­le Klas­si­fi­ka­ti­on der Funk­ti­ons­fä­hig­keit, Behin­de­rung und Gesund­heit bei Kin­dern und Jugend­li­chen“, als Defac­to-Stan­dard zu eta­blie­ren, gewinnt das The­ma Kom­mu­ni­ka­ti­on in trans­dis­zi­pli­nä­ren Teams zuneh­mend an Bedeu­tung. Gera­de behin­der­te Klein­kin­der kön­nen sich zum Zeit­punkt der Auf­nah­me einer ortho­pä­die­tech­ni­schen Behand­lung i. d. R. nicht selbst zu ihren Wün­schen, Bedar­fen und Bedürf­nis­sen arti­ku­lie­ren. Die­se ste­hen aber im Mit­tel­punkt der Arbeit trans­dis­zi­pli­nä­rer Teams und sind von allen Betei­lig­ten zu berück­sich­ti­gen, indem sie die Per­spek­ti­ve der Betrof­fe­nen ein­neh­men. Den Eltern kommt in die­sem Zusam­men­hang eine beson­de­re Bedeu­tung zu. Sie und wei­te­re Ver­wand­te sind qua­si das Sprach­rohr der betrof­fe­nen Kinder.

Auf der Suche nach der best­mög­li­chen Ver­sor­gung für ihr Kind bie­tet das Inter­net eine wah­re Infor­ma­ti­ons­flut. Die­se Infor­ma­tio­nen ste­hen unge­fil­tert bereit. Die Eltern sind mit der Ein­schät­zung, ob eine beschrie­be­ne Ver­sor­gungs­va­ri­an­te für ihr Kind eine pro­ba­te Lösung dar­stellt, daher häu­fig fach­lich über­for­dert. Auch das emo­tio­na­le Moment der Situa­ti­on gilt es zu berück­sich­ti­gen. Das Behand­lungs­team muss zu jedem Zeit­punkt der Behand­lung in der Lage sein, Fra­gen und Sor­gen des Pati­en­ten respek­ti­ve der Fami­lie zu beant­wor­ten, sie zu beglei­ten und sie ggf. zu füh­ren, wenn sie sich im „Infor­ma­ti­ons­dschun­gel“ in Fach­fo­ren und auf Web­sites zu ver­ir­ren drohen.

Abschlie­ßend soll noch erwähnt wer­den, dass der anhal­ten­de Trend zur Bil­dung koor­di­nier­ter trans­dis­zi­pli­nä­rer Behand­lungs­teams in Ver­bin­dung mit SPZ (kon­ser­va­tiv), kin­der­or­tho­pä­di­schen Kli­ni­ken (ope­ra­tiv) und hoch­qua­li­fi­zier­ten ortho­pä­die­tech­ni­schen Betrie­ben es kurz- bis mit­tel­fris­tig bun­des­weit ermög­li­chen wird, schwer­be­hin­der­te Kin­der operativ/konservativorthopädietechnisch wohn­ort­nah anspruchs­voll zu versorgen.

Für die Autoren:
Jens Becker
OTM, Geschäfts­füh­rer
Tech­ni­sche Ortho­pä­die Lübeck
Jens Becker GmbH
Wakenitz­stra­ße 1, 23564 Lübeck
info@to-luebeck.de

Begut­ach­te­ter Beitrag/reviewed paper

Zita­ti­on
Becker J, Rose B, Ort­feld S, Ekkern­kamp M. Hilfs­mit­tel­be­darf in der Früh­för­de­rung schwer­be­hin­der­ter Kin­der — Fall­bei­spie­le aus der täg­li­chen Pra­xis. Ortho­pä­die Tech­nik, 2016; 67 (3): 58–61
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