Kin­der­ver­sor­gung inter­dis­zi­pli­när: Neu­ro­or­the­tik an Fuß und Unter­schen­kel in der Praxis

J. Schickert
An jede pädiatrische Versorgung werden unterschiedliche Erwartungen geknüpft. Eltern, Betreuende und Klienten haben dabei jedoch nicht unbedingt dieselben Anforderungen, die eine Orthese erfüllen soll. Da die technische Umsetzung viele Variationen ermöglicht, ist es unumgänglich, die Ziele der Versorgung mit allen Beteiligten abzugleichen, um am Ende zu einer Lösung zu gelangen, die den Ansprüchen von Anwendern, Therapeuten und Medizinern in höchstem Maße gerecht wird. Dabei sollte man die Grenzen der technischen Umsetzung nicht aus den Augen verlieren und diese synchron zur Entwicklung des Klienten validierbar halten. Eine adäquate Dokumentation erlaubt dabei ein zielgerichtetes Versorgungsmanagement, wie im Beitrag anhand eines Fallbeispiels aufgezeigt wird.

Ein­lei­tung

Eine neu­ro­or­the­ti­sche Ver­sor­gung in der Päd­ia­trie stellt hin­sicht­lich ihrer Aus­füh­rung beson­de­re Anfor­de­run­gen an Kon­zep­ti­on, Tech­nik und Design der Orthe­se. Über die medi­zi­ni­sche Indi­ka­ti­on wird eine Ver­sor­gung initi­iert, die den Ziel­kon­flikt lösen muss, die unter Umstän­den diver­gie­ren­den Para­me­ter (ins­be­son­de­re Qua­li­täts­pa­ra­me­ter) aus Dia­gnos­tik, Physio‑, Ergo- und Logo­pä­die, fami­liä­rem Umfeld, Assis­tenz und Hand­ling in einer ein­fach gehal­te­nen und selbst­er­klä­rend anzu­wen­den­den Orthe­se zu ver­ei­nen. Allein die Viel­zahl der ein­ge­schlos­se­nen Dis­zi­pli­nen lässt erah­nen, dass die­ser Kanon oft nicht leicht her­zu­stel­len ist und dass nicht nur tech­ni­sches Geschick den Aus­schlag für das Gelin­gen der Orthe­sen­ver­sor­gung gibt.

Es darf zudem nicht aus dem Blick gera­ten, dass gera­de in der Kin­der­ver­sor­gung dem Fak­tor Zeit ein erheb­li­ches Gewicht bei­zu­mes­sen ist. Denn die Ver­sor­gungs­ge­schwin­dig­keit bestimmt letzt­lich die effek­ti­ve Tra­ge­dau­er der Orthe­sen­ver­sor­gung, und viel­fach bedeu­tet der Abschluss einer Ver­sor­gung, dass die wachs­tums­be­ding­te Neu­ver­sor­gung zeit­lich bereits abseh­bar ist. Wachs­tums­zy­klen und Ver­än­de­run­gen bezüg­lich Phy­sio­lo­gie, Sta­tik und Dyna­mik machen dies oft in Inter­val­len von 6 bis 9 Mona­ten unum­gäng­lich. Genau die­se Ver­än­de­run­gen füh­ren aller­dings unter Berück­sich­ti­gung aller Para­me­ter zu immer wie­der unter­schied­li­chen Orthe­sen bei ein und dem­sel­ben Kind.

Aus­gangs­pa­ra­me­ter

Die Qua­li­täts­pa­ra­me­ter des Pro­duk­tes wer­den ent­schei­dend von einer sach­li­chen und kla­ren Ana­ly­se der phy­sio­lo­gi­schen Vor­aus­set­zun­gen am neu­ro­lo­gi­schen Kli­en­ten geprägt. Im Rah­men einer umfas­sen­den Sta­tus­fest­stel­lung wer­den Bewe­gungs­um­fän­ge der Gelen­ke und Kraft­gra­de doku­men­tiert, Bil­der in drei Ebe­nen (sit­zen­de Kli­en­ten) bzw. Syn­chron­vi­de­os in zwei Ebe­nen erstellt (geh­fä­hi­ge Kli­en­ten), ggf. ein Fuß-Scan und Bil­der von Lot­ver­läu­fen (geh- oder steh­fä­hi­ge Kli­en­ten) ange­fer­tigt (Abb. 1) oder der Schwer­punkt­ver­lauf auf der Balan­ce-Plat­te fest­ge­hal­ten (steh­fä­hi­ge Kli­en­ten). Alle Bild- und Video-Doku­men­ta­tio­nen 1 die­nen neben der Ana­ly­se der Pro­blem­stel­lung und der Kom­mu­ni­ka­ti­on mit Eltern, The­ra­peu­ten und Medi­zi­nern auch der Kon­trol­le per Vor­her-nach­her-Ver­gleich bei Abga­be der Orthe­se. Mit­tels Vide­os las­sen sich Zusam­men­hän­ge von Defi­zi­ten am Kör­per – z. B. in Zeit­lu­pe – gut erkenn­bar dar­stel­len; die ermit­tel­ten Sta­tus­wer­te füh­ren dann zu den ein­zel­nen „Bau­stel­len“ im Sys­tem Bewegungsapparat.

Wäh­rend alle Qua­li­täts­pa­ra­me­ter und die Sta­tus­ana­ly­se die Grund­la­ge für die Kon­zep­ti­on der Orthe­se bil­den, muss vor Beginn der Rea­li­sa­ti­on das Ziel der Ver­sor­gung defi­niert wer­den. Inter­dis­zi­pli­när gilt es für die Ver­sor­gung ver­bind­lich fest­zu­le­gen, mit wel­cher Per­spek­ti­ve Eltern, The­ra­peu­ten und Medi­zi­ner die orthe­ti­sche Ver­sor­gung pla­nen, in wel­chem Zeit­raum ein Ziel wie z. B. Sta­bi­li­sie­rung im Ste­hen, frei­es Gehen, sym­me­tri­sches Sit­zen o. Ä. erreicht wer­den soll und wel­che beglei­ten­den Maß­nah­men unter­stüt­zend not­wen­dig sein wer­den (Retro-Wal­ker, Steh­ge­rät, Sitz­scha­le, 5‑Punkt-Stüt­ze, ana­to­mi­sche Sitz­scha­le usw.) (Abb. 2a u. b). Bis­lang nutz­te der Ver­fas­ser zur Doku­men­ta­ti­on einer Ver­sor­gung die Form­blät­ter sei­ner Ein­rich­tung und die umfang­rei­chen For­mu­la­re aus den reha­KIND-Bögen 2. Gegen­wär­tig wird aber ein neu­es Sys­tem erar­bei­tet, das alle Qua­li­täts­pa­ra­me­ter fort­lau­fend und neben­ein­an­der auf einem Zeit­strahl dar­zu­stel­len ver­mag. Denn nur die ver­bind­li­che Ziel­set­zung einer Ver­sor­gung inner­halb eines ver­ein­bar­ten Zeit­raums lässt eine ehr­li­che Über­prü­fung des Erreich­ten zu.

Umset­zung

Die ent­schei­den­den Kri­te­ri­en der tech­ni­schen Umset­zung einer Ver­sor­gung sind die Erwar­tun­gen an die Hand­ha­bung und eine com­pli­ance­ge­rech­te Gestal­tung (Abb. 3a u. b). Das Design kann es z. B. erfor­dern, dass die Orthe­se selbst­tä­tig an- und abge­legt wer­den kann, dass eine dafür geschul­te oder nicht vor­be­rei­te­te Assis­tenz bereit­steht (Assis­ten­ten, Eltern) oder dass die­se Assis­tenz häu­fig wech­selt (Lehr­kräf­te). Dar­über hin­aus kann es rele­vant sein, in wel­cher Tages­pha­se oder Situa­ti­on die Orthe­se getra­gen (Ste­hen und Gehen, Sit­zen im Stuhl/Rollstuhl) oder abge­legt (Sit­zen am Boden) wer­den soll und/oder ob sie z. B. kom­pa­ti­bel mit einem Steh­ge­rät sein soll.

Aus der Pal­pa­ti­on des Kör­pers und den gesam­mel­ten Daten kann abge­lei­tet wer­den, wel­che Spe­zi­fi­ka 3 ins Orthe­sen­sys­tem ein­ge­bracht wer­den müs­sen, um eine adäqua­te tech­ni­sche Umset­zung zu ermög­li­chen. Aspek­te wie die Aus­wahl geeig­ne­ter Gelenk­pass­tei­le, die ein­zu­set­zen­de Fer­ti­gungs­tech­nik (Ther­mo­plast, FVW, Sili­kon), die not­wen­di­gen Bau­grup­pen wie Innen­schuh­klick­tei­le oder ein rigi­der Vor­fuß, die Bau­hö­he, der Ein­satz einer ven­tra­len Unter­schen­kel­an­la­ge, die Anwen­dung von Sili­kon­tech­nik usw. kön­nen dar­aus abge­lei­tet werden.

Über­prü­fung der Anfor­de­rung in der tech­ni­schen Anprobe

In der Pra­xis hat es sich als sinn­voll erwie­sen, vor der Defi­ni­tiv­fer­ti­gung eine Test­or­the­se zu erstel­len. Die­se ent­spricht in Zuschnitt und Aus­ar­bei­tung bereits der Qua­li­tät der Defi­ni­tiv­or­the­se, nur das Mate­ri­al wird sub­sti­tu­iert. Um eine gute Sicht auf die Haut­ober­flä­che zu behal­ten, bie­tet sich trans­pa­ren­tes Poly­pro­py­len (PP) in unter­schied­li­cher Wan­dungs­di­cke 4 5 an. Die Vor­tei­le die­ses Vor­ge­hens lie­gen auf der Hand: Das Mate­ri­al ist sta­bil und kann zum leich­te­ren Bedie­nen zur Öff­nung hin dünn und weich aus­ge­zo­gen wer­den. Es ist leicht umform­bar und kann z. B. mit Soh­len­ma­te­ri­al in den Stand gebracht wer­den, zudem kön­nen Schie­nen sowie Gelen­ke ein­ge­zo­gen oder ein­fach mit Rän­del­mut­tern auf­ge­schraubt wer­den; Ver­stei­fun­gen las­sen sich als Hand­la­mi­na­te fixie­ren oder beim Tie­fen ins PP ein­zie­hen. Sili­kon­bau­tei­le kön­nen eben­so trans­pa­rent in Erko­flex oder trans­pa­ren­tes Sili­kon ein­ge­bracht wer­den. In der Neu­ro­or­the­tik kann dabei das zir­ku­lär-flä­chi­ge Con­tain­ment als Stand der Tech­nik vor­aus­ge­setzt wer­den. Eine Test­ver­sor­gung in offe­ner PETG-Scha­le ist dage­gen in die­sem Bereich nicht sinnvoll.

Mit­tels Test­ver­sor­gung kann die Orthe­se in Sta­tik und Dyna­mik tech­nisch über­prüft wer­den (Abb. 4a u. b). Dabei las­sen sich sowohl für die Kli­en­ten als auch für Assis­tenz und The­ra­pie ers­te Erfah­run­gen sam­meln, wie Ände­run­gen schnell und mit gerin­gem Auf­wand ein­ge­bracht wer­den kön­nen. Es bie­tet sich in der Anpro­be an, sowohl die The­ra­pie mit ein­zu­be­zie­hen als auch ggf. ers­te Bil­der oder Vide­os zur Über­prü­fung des erziel­ten Ergeb­nis­ses zu nutzen.

Hand­ling und Compliance

Auch in der Orthe­tik stei­gen Gebrauchs­wert und Nut­zung durch über­leg­tes Design, selbst­er­klä­ren­des Hand­ling und den sub­jek­ti­ven Nut­zen für den Kli­en­ten, die soge­nann­te Com­pli­ance (Abb. 5a–c). Dane­ben kön­nen ein auto­ad­ap­ti­ves Anle­gen, Form und Far­be der Ver­sor­gung und ein mög­lichst mini­ma­lis­ti­scher Umgang mit Ver­schluss­sys­te­men die Nut­zung wesent­lich ver­bes­sern (Abb. 6a–d). Der Umgang mit flä­chi­gen Con­tain­ments ermög­licht eine Tonus­kon­trol­le (Pro­prio­zep­ti­on) 6 7 und die phy­sio­lo­gi­sche Ein­stel­lung von Ach­sen (z. B. am Fuß: Cal­ca­neus, Vor­fuß­pro­na­ti­on). Asym­me­tri­sche Öff­nun­gen las­sen Auf­la­ge­flä­che dort zu, wo sich allei­ne über Kon­takt und Füh­rung 8 eine phy­sio­lo­gisch sinn­vol­le Sta­bi­li­tät erzie­len lässt. Eine rigi­de „Klett­ver­schluss­re­dres­si­on“ wird so ver­mie­den und gewon­ne­ne Mobi­li­tät sinn­voll genutzt. Die Mehr­tei­lig­keit von Orthe­sen­sys­te­men mit z. B. einem Klick­schuh­in­nen­teil, mit dem ein inver­tier­ter Fuß in eine phy­sio­lo­gi­sche Stel­lung tonus­arm zurück­ge­führt wird, kann pro­blem­los in einer Pre­preg-Orthe­se posi­tio­niert wer­den; ein sol­ches Ergeb­nis ist mit einem rigi­den Halb­scha­len-Con­tain­ment nicht zu erzie­len 9.

Qua­li­täts­pa­ra­me­ter und Versorgungsziel

Die Erhe­bung der Qua­li­täts­pa­ra­me­ter über die unter­schied­li­chen Mög­lich­kei­ten und deren fort­lau­fen­de Doku­men­ta­ti­on bean­spru­chen Zeit im Ver­sor­gungs­vor­gang und las­sen sich daher nicht über­all glei­cher­ma­ßen bewerk­stel­li­gen. Jedoch lässt nur eine adäqua­te Doku­men­ta­ti­on die Mög­lich­keit einer Über­prü­fung des Ergeb­nis­ses zu. Das heißt aber nicht, dass bei Nicht­er­rei­chen eines Zie­les zwin­gend der Grund bei der Ver­sor­gung zu suchen ist. Viel­mehr ist das inter­dis­zi­pli­nä­re Team unter Nut­zung der Daten­la­ge in die Suche nach der Ursa­che einzubinden.

Von Wert ist die Doku­men­ta­ti­on auch in der Aus­ein­an­der­set­zung mit Kos­ten­trä­gern und mit wech­seln­den The­ra­peu­ten oder Medi­zi­nern. Denn der Ver­sor­gungs­weg kann auf die­se Wei­se jeder­zeit nach­voll­zo­gen wer­den und bleibt über­prüf­bar, beson­ders dann, wenn eine Neu­ver­sor­gung von der bis­he­ri­gen wesent­lich abweicht.

Fall­bei­spiel

An einem Bei­spiel aus der Pra­xis wer­den im Fol­gen­den die Vor­tei­le einer pro­ba­ten Doku­men­ta­ti­on erläu­tert. Die Kli­en­tin ist zum Zeit­punkt der Ver­sor­gung 15 Jah­re alt. Dia­gnos­ti­ziert wur­de eine her­edi­tä­re spas­ti­sche Para­ple­gie; eine Sta­tus­er­he­bung führt u. a. zu fol­gen­den Ergebnissen:

  • Knie- und Hüft­stre­ckung sind beid­seits aktiv kaum mög­lich (Jan­da 3 bis 4), eben­so wenig Plant­ar­fle­xi­on und Dor­sal­ex­ten­si­on; Hüp­fen kann nur bipe­dal ohne Orthe­sen erfolgen.
  • In der Fol­ge bestehen aus­ge­präg­te Hyper­lor­do­se, gering­gra­di­ge Sko­lio­se, Streck­de­fi­zit in den Hüf­ten und Knien beid­seits, Innen­ro­ta­ti­on in den Hüf­ten mit Val­gi­sa­ti­on der Bein­ach­sen, Duchen­ne-Hin­ken beid­seits, ein unphy­sio­lo­gi­sches Ein­sin­ken bei­der Füße (ver­gleich­bar einem Pes pla­nus); im obe­ren Sprung­ge­lenk bestehen nach Auf­rich­tung der Füße Dor­sal­ex­ten­si­ons­de­fi­zi­te beidseits.
  • Eine Fort­be­we­gung in Kom­plett­auf­rich­tung ist auf­grund ein­ge­schränk­ter Frei­heits­gra­de und von Kon­trak­tu­ren weder aktiv noch pas­siv möglich.

Bis zur Vor­stel­lung wur­de die Kli­en­tin mit sen­so­mo­to­ri­schen Ein­la­gen und einem auf 0° ein­ge­stell­ten Leder­in­nen­schuh links ver­sorgt. In Zusam­men­ar­beit mit der behan­deln­den Phy­sio­the­ra­peu­tin, den zustän­di­gen Ärz­ten, der Kli­en­tin und den Ange­hö­ri­gen wur­de ein pas­sen­des Orthe­sen­kon­zept erstellt: Eine ven­tral geführ­te Ank­le-Foot-Orthe­se mit dor­sa­ler Feder in 5° Plant­ar­fle­xi­on und eine dor­sa­le Fuß­fe­der mit lan­gem Fuß­he­bel sol­len zu einem knie­stre­cken­den Moment füh­ren; dabei sol­len die Füße in sepa­ra­ten Klick­schuh­in­nen­tei­len auf­ge­rich­tet und die Mög­lich­kei­ten der sen­so­mo­to­ri­schen Fuß­bett­ge­stal­tung genutzt werden.

Als Ziel der Ver­sor­gung wird die maxi­mal mög­li­che Auf­rich­tung des Ober­schen­kels in der Sta­tik (Knie­stre­ckung 18° gegen­über ein­gangs 25°) und deren Siche­rung gegen wei­te­ren Ver­fall defi­niert. Dem Kos­ten­trä­ger wer­den die detail­lier­ten Ergeb­nis­se per Video mit Zustim­mung der Kli­en­tin und der Eltern über­mit­telt, um die Not­wen­dig­keit der Ver­sor­gungs­um­stel­lung zu ver­deut­li­chen. In der Test­ver­sor­gung lässt sich eine wesent­li­che Ver­bes­se­rung der Auf­rich­tung able­sen (Abb. 7a u. b): Allein der Knie­ab­stand steigt von 0 auf 4 cm, die Lor­do­se kann zurück­ge­führt wer­den, und die sym­me­tri­sche Unter­stüt­zung stellt das Becken in der Fron­ta­len wie­der in die Hori­zon­ta­le. Der Innen­ro­ta­ti­ons­gang wird ver­bes­sert, die zer­vi­ka­le Über­stre­ckung zur Blick­aus­rich­tung redu­ziert. Durch einen asym­me­tri­schen Zuschnitt und die Klick­schuh­in­nen­tei­le kann die Kli­en­tin die Orthe­sen selbst­stän­dig anle­gen, obwohl sie nur ein­ge­schränk­te Mög­lich­kei­ten hat, selbst Schu­he anzu­zie­hen. Im Lau­fe der mehr­mo­na­ti­gen Tra­ge­dau­er ent­wi­ckeln sich zwar immer wie­der ein­sei­tig Bla­sen auf der Höhe des Os navicu­la­re, die­ses Pro­blem wird jedoch durch das Ein­brin­gen von „GlideWear“-Polstern eli­mi­niert. Rund einen Monat nach Fer­tig­stel­lung nimmt die Kli­en­tin mit der Ver­sor­gung an einer sta­tio­nä­ren Reha­maß­nah­me teil. Das Ziel der sta­tio­nä­ren Maß­nah­me wird defi­niert als „Opti­mie­rung von Stand und Gang-Reduk­ti­on von lum­ba­len Schmer­zen wäh­rend län­ge­rer Geh- und Stehbelastung“.

Mit Abschluss der Maß­nah­me wird fest­ge­stellt, dass die Zie­le ins­ge­samt erreicht wor­den sei­en. Ledig­lich bezüg­lich der Gelenk­funk­ti­on der unte­ren Extre­mi­tä­ten wird im Ergeb­nis fest­ge­hal­ten: „Mit der Behand­lung sind die Waden etwas ent­spann­ter, eine wei­te­re Bewe­gungs­er­wei­te­rung konn­te jedoch nicht erzielt wer­den.“ Des Wei­te­ren wer­den Stan­dard-Tests auf­ge­lis­tet und ange­führt, dass die Kli­en­tin sub­jek­tiv ein „gedehn­te­res Gefühl“ beschrei­be, zudem wird das Aus­blei­ben von Rücken­schmer­zen wäh­rend des Auf­ent­hal­tes konstatiert.

Aller­dings wur­de die Kli­en­tin im Rah­men ihres Kli­nik­auf­ent­hal­tes alter­na­tiv mit einer kon­fek­tio­nier­ten ven­tral geführ­ten Unter­schen­kel-Fuß-Orthe­se beid­seits ver­sorgt, wie sie häu­fig für Fuß­he­ber­schwä­che genutzt wird, da sie damit „schnel­ler gehen“ kön­ne. Die Indi­vi­du­al­ver­sor­gung wur­de dort nicht län­ger ein­ge­setzt. Da die Kli­nik dar­über hin­aus kei­ne objek­ti­ven Daten zur Ver­sor­gungs­emp­feh­lung mit den Kon­fek­ti­ons­or­the­sen lie­fer­te, waren Eltern und The­ra­peu­ten stark ver­un­si­chert und stell­ten die Indi­vi­du­al­ver­sor­gung in Fra­ge. Um den The­ra­peu­ten und Medi­zi­nern die Vor­tei­le der Indi­vi­dual­or­the­tik und deren Vor­zü­ge bei der Errei­chung des ein­gangs for­mu­lier­ten Zie­les zu ver­mit­teln, wur­de auf die Doku­men­ta­ti­on des Ver­fas­sers zurück­ge­grif­fen. Dem­zu­fol­ge wur­den die gefor­der­ten Para­me­ter bezüg­lich der Auf­rich­tung ins­ge­samt, einer phy­sio­lo­gi­sche­ren Auf­rich­tung von Füßen und unte­ren Extre­mi­tä­ten 10 und einer lum­ba­len Ent­lor­do­sie­rung 11 erreicht. Dar­über hin­aus wur­de zur Ver­an­schau­li­chung der man­geln­den Eig­nung der Kli­nik­emp­feh­lung ein Ver­suchs­auf­bau mit einem Timed-up-and-go-Test 12 durch­ge­führt, bei dem die Kli­en­tin vom Stuhl auf­stand, 3 Meter auf einer mar­kier­ten Bahn hin- und zurück­ging und sich wie­der hin­setz­te (Abb. 8a–c). Mit den dar­aus gewon­ne­nen Daten (Vide­os und Mess­zei­ten) konn­te das ein­zi­ge von der Kli­nik ange­führ­te Kri­te­ri­um für die vor­ge­nom­me­ne Umver­sor­gung ent­kräf­tet wer­den, wie Tabel­le 1 zeigt.

Dis­kus­si­on

Aus der Viel­schich­tig­keit der Erfah­run­gen im Umgang mit unter­schied­li­chen Ein­fluss­fak­to­ren in der neu­ro­or­the­ti­schen Ver­sor­gungs­pra­xis wur­de im Unter­neh­men des Ver­fas­sers eine strin­gen­te Doku­men­ta­ti­on – gestützt durch Bild und Video – ent­wi­ckelt (Abb. 9). Ver­än­de­run­gen kön­nen so nach­voll­zo­gen 13 und die Ursa­chen dafür detek­tiert wer­den. In Ver­bin­dung mit einer zeit­ab­hän­gi­gen Ziel­set­zung für die Orthe­sen­ver­sor­gung lässt sich der Erfolg der jewei­li­gen Maß­nah­me able­sen und Abwei­chun­gen ver­ste­hen; das Nicht­er­rei­chen einer Ziel­set­zung wirft Fra­gen auf. Neben einem ver­bes­se­rungs­fä­hi­gen Orthe­sen­kon­zept kön­nen es aller­dings auch Ver­än­de­run­gen beim Kli­en­ten, Umfeld­fak­to­ren oder the­ra­peu­ti­sche Her­aus­for­de­run­gen sein, die zum Umsteu­ern füh­ren. Beglei­ten­de reha­tech­ni­sche Unter­stüt­zung oder die Erwei­te­rung the­ra­peu­ti­scher Maß­nah­men kön­nen eben­so wie z. B. ein ope­ra­ti­ver Ein­griff zur Ver­bes­se­rung beitragen.

Schluss­fol­ge­run­gen

Eine trans­pa­ren­te und kon­ti­nu­ier­li­che Doku­men­ta­ti­on der Ver­sor­gun­gen eines Kli­en­ten lässt ein ziel­ge­rich­te­tes Ver­sor­gungs­ma­nage­ment zu. Der­zeit wird eine zeit­lich fort­lau­fen­de Ver­sor­gungs­ma­trix getes­tet, die alle rele­van­ten und ange­führ­ten Para­me­ter ein­schließt und auf einem Zeit­strahl erfasst. An jeder Stel­le kön­nen so Ver­än­de­run­gen und Ein­fluss­nah­men aus den Berei­chen Orthe­tik, The­ra­pie, Medi­zin und Umfeld über­sicht­lich dar­ge­stellt und der Ver­sor­gungs­fluss mit Hilfs­mit­teln objek­ti­viert wer­den. Ziel ist es, die­se „Per­spek­ti­ven der Hilfs­mit­tel­ver­sor­gung“ als fort­lau­fen­de Doku­men­ta­ti­on zur pro­spek­ti­ven Hilfs­mit­tel- und The­ra­pie­pla­nung ein­zu­set­zen und z. B. – evtl. in Aus­zü­gen – dort zur Ver­fü­gung zu stel­len, wo die dar­in gesetz­ten Maß­stä­be von denen ande­rer Betei­lig­ter abwei­chen. Dies kann wie im auf­ge­zeig­ten Bei­spiel eine Reha-Ein­rich­tung, ein Medi­zi­ner- oder The­ra­peu­ten­wech­sel oder das Zusam­men­wir­ken unter­schied­li­cher Leis­tungs­er­brin­ger sein.

Der Autor:
Jochen Schi­ckert
Team­lei­ter Orthetik/
Lei­ter For­schung und Entwicklung
Ort­ho­vi­tal GmbH
Mag­de­bor­ner Str. 19
04416 Mark­klee­berg
schickert@ortho-vital.de

Begut­ach­te­ter Beitrag/reviewed paper

Zita­ti­on
Schi­ckert J. Kin­der­ver­sor­gung inter­dis­zi­pli­när: Neu­ro­or­the­tik an Fuß und Unter­schen­kel in der Pra­xis. Ortho­pä­die Tech­nik, 2018; 69 (1): 48–53

 

Ver­sor­gungerziel­te Zeit
bar­fuß10:76 s
Kon­fek­ti­ons-AFO11:90 s
Indi­vi­du­al-AFO10:05 s
Tab. 1 Wer­te des Timed-up-and-go-Tests der Kli­en­tin aus dem Fall­bei­spiel in Sekunden.
  1. Rad­tka SA, Skin­ner SR, Dixon DM, Johan­son ME. A com­pa­ri­son of gait with solid, dyna­mic, and no ank­le-foot ort­ho­ses in child­ren with spas­tic cere­bral pal­sy. Phy­si­cal The­ra­py, 1997; 77 (4): 395–409
  2. reha­KIND-Bedarfs­er­mitt­lungs­bo­gen „BEB“. https://www.rehakind.com/_rehakind/medien/pdf_beb_aktuell/rehakind-bebs_komplett-fin.pdf (Zugriff am 4.11.17)
  3. Shamp JK. Neu­ro­phy­sio­lo­gic Ortho­tic Designs in the Tre­at­ment of Cen­tral Ner­vous Sys­tem Dis­or­ders. Jour­nal of Pro­sthe­tics and Ortho­tics, 1989; 2 (1): 14–32
  4. Rad­tka SA, Skin­ner SR, Dixon DM, Johan­son ME. A com­pa­ri­son of gait with solid, dyna­mic, and no ank­le-foot ort­ho­ses in child­ren with spas­tic cere­bral pal­sy. Phy­si­cal The­ra­py, 1997; 77 (4): 395–409
  5. Shamp JK. Neu­ro­phy­sio­lo­gic Ortho­tic Designs in the Tre­at­ment of Cen­tral Ner­vous Sys­tem Dis­or­ders. Jour­nal of Pro­sthe­tics and Ortho­tics, 1989; 2 (1): 14–32
  6. Hyl­ton NM. Pos­tu­ral and Func­tion­al Impact of Dyna­mic AFOs and FOs in a Pedia­tric Popu­la­ti­on. Jour­nal of Pro­sthe­tics and Ortho­tics, 1989; 2 (1): 40–53
  7. Hyl­ton N, Allen C. The deve­lo­p­ment and use of SPIO Lycra com­pres­si­on bra­cing in child­ren with neu­ro­mo­tor defi­ci­ts. Pedia­tric Reha­bi­li­ta­ti­on, 1997; 1 (2): 109–116
  8. Lima D. Over­view of the Cau­ses, Tre­at­ment, and Ortho­tic Manage­ment of Lower Limb Spas­ti­ci­ty. Jour­nal of Pro­sthe­tics and Ortho­tics, 1989; 2 (1): 33–39
  9. Koba­ya­shi T, Leung AKL, Hut­chins SW. Design and Effect of Ank­le-Foot Ort­ho­ses Pro­po­sed to Influence Mus­cle Tone: A Review. Jour­nal of Pro­sthe­tics and Ortho­tics, 2011; 23 (2): 52–57
  10. Hyl­ton NM. Pos­tu­ral and Func­tion­al Impact of Dyna­mic AFOs and FOs in a Pedia­tric Popu­la­ti­on. Jour­nal of Pro­sthe­tics and Ortho­tics, 1989; 2 (1): 40–53
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