„Die Jugendlichen sind es von zu Hause gewohnt – und das kann man finden, wie man will –, gefragt und miteinbezogen zu werden. Das wünschen sie sich auch in der Ausbildung. Sie möchten Wertschätzung erfahren“, berichtet Ullrich mit Blick auf die Studienergebnisse. Bei den Attraktivitätsfaktoren ist das Betriebsklima die Nummer eins. Ullrich sieht darin insbesondere für kleine Betriebe große Chancen: Hier kennen sich Chef und Azubis, die Hierarchien sind flacher, das Miteinander wird gelebt. Aber wie wird der Nachwuchs überhaupt auf die Branche und auf einzelne Betriebe aufmerksam? „Man muss Sichtbarkeit schaffen“, betont die Recruiting-Expertin. Die aus ihrer Sicht einfachste und günstigste (Vor-Ort-)Maßnahme nehmen viele Sanitätshäuser jedoch nicht wahr. Plakate, Poster, Flyer und darauf groß der Schriftzug „Wir bilden aus“. Danach sucht sie in den Schaufenstern vergeblich. Damit würden zwar nicht unbedingt die jungen Leute angesprochen, weil sie die kleinere Zielgruppe der Häuser sind, dafür jedoch die Großeltern, die die Informationen an die Enkel weitertragen. Wichtig: digitale Angebote machen, die Möglichkeit geben, per E‑Mail oder Whatsapp mit den Betrieben in Kontakt zu treten. Denn zum Telefonhörer würden die Jugendlichen heute nur noch selten greifen. Ist erstes Interesse da, sollte der Schritt zum Schnupperpraktikum nicht mehr weit sein. Und dabei gilt es, den Nachwuchs in spe miteinzubeziehen und den Tag spannend zu gestalten. „Die Generation will mitmachen und nicht nachmachen“, ist Ullrich überzeugt. Betriebe sollten sich die Frage stellen: Wo ist meine Zielgruppe? Allen voran: in der Schule. Ganze Klassen können eingeladen und an den Beruf herangeführt werden – und das nicht nur durch trockene Führungen oder theoretische Informationen, sondern spannend und praxisnah mit Laufanalysen und Co. Ein Mehrwert für die Schüler:innen und eine Antwort auf die Frage „Was ist für mich drin?“.
Ihr Wissen zieht Ullrich aus ihrem beruflichen Alltag sowie aus den Ergebnissen der von ihr initiierten Studie „Azubi-Recruiting Trends“. Seit 2013 werden dafür jährlich sowohl Schüler:innen und Auszubildende als auch Ausbilder:innen und Ausbildungsverantwortliche befragt. Die Ergebnisse 2022 bestätigen erneut: Google ist für die jungen Leute die erste Anlaufstelle auf der Suche nach einem Ausbildungsplatz. Voraussetzung, um im Ranking weit oben zu landen, sind gute Kenntnisse in Suchmaschinenoptimierung. „Die werden die wenigsten haben. Aber es kann sich lohnen, Google Ads zu nutzen.“ Im Gegensatz zu den großen Stellenportalen stehen die Unternehmen dort mit den Anzeigen an der Spitze der Suchergebnisse. Pflicht ist es laut Ullrich, Stellen bei der Jobbörse der Arbeitsagentur zu schalten. Diese werde nach wie vor oft von Jugendlichen aufgerufen. Ebenfalls beliebt: große Online-Jobportale. Und die haben viel Reichweite. „Sie unterstützen auch dabei, eine gute Stellenausschreibung zu gestalten“, weist Ullrich auf einen weiteren Vorteil hin. Social Media spielt aus ihrer Sicht eine eher untergeordnete Rolle – zumindest, wenn Betriebe bis dato nicht oder nur nachlässig damit arbeiten. Existiert aber bereits ein Account, werden spannende Inhalte und insbesondere Videos etc. gepostet, kann auch dieser Weg zum Erfolg führen. „Und selbst wenn auf Facebook nicht die jungen Menschen unterwegs sind. Vielleicht sind es die Eltern oder Großeltern.“ Auf der Website eines Unternehmens sollte zudem ein Job-/Karriere-Bereich zu finden sein, mit allen Informationen rund um die Ausbildung, Aufgaben, Benefits und den Kontaktdaten. Viele Wege führen nach Rom. So auch beim Azubi-Recruiting. Egal ob vor Ort oder online, grundsätzlich gilt: möglichst viele verschiedene Kontaktpunkte nutzen, um die Zielgruppe aus allen Richtungen zu erreichen.
Vom Wir zum Du
Nicht nur das Wo, sondern auch das Wie sind beim Schalten einer Anzeige entscheidend. Ullrich rät dazu, den Fokus zu verlagern, weniger das, was gefordert wird herauszustellen, und stattdessen die Rahmenparameter der Stelle zu betonen sowie das, was der Betrieb bietet und was die Azubis dort lernen können. Bei digitalen Anzeigen sollte der Klarname des Berufs mit dem Zusatz „m/w/d“ versehen werden, um alle Geschlechter anzusprechen. „Die Jugendlichen kennen das und fühlen sich davon mehr abgeholt als von der Sternchenvariante.“ Typische Formulierungen im Einstieg wie „Wir sind der führende Hersteller von …“ holen junge Generationen nicht ab. Sinnvoller sei es „vom Wir zum Du“ umzuschwenken und den Nachwuchs mit den Vorzügen, die das Unternehmen bietet, zu begeistern. Das Du nimmt Ullrich dabei wörtlich. Siezen hat ausgedient. Auch die klassischen Hygienefaktoren wie Arbeitszeiten, Urlaubstage und Vergütung lohne es sich zu hinterfragen. Besonders Zusatzqualifikationen, die man während der Ausbildung erwerben kann, haben einen hohen Stellenwert. „Damit kann man gut werben“, betont sie. Wer bisher vielleicht nur 25 Tage Urlaub geboten hat, könnte über eine Aufstockung nachdenken. „Lieber einen Azubi haben, der 30 Tage Urlaub hat, als keinen Azubi haben, der 25 Tage Urlaub hätte“, gibt Ullrich zu bedenken. Gleiches gilt für die wöchentliche Arbeitszeit und die Bezahlung: Ist die Mindestvergütung wirklich ausreichend oder kann mehr geboten werden? „Die jungen Menschen sehen, wie sich ihre Eltern kaputt arbeiten, gestresst sind, sehnsüchtig auf die Rente warten. Sie wollen nicht den gleichen Fehler machen. Sie wollen leben. Und sie wollen arbeiten, aber nicht unter den gleichen Bedingungen.“ Ullrich ist überzeugt, dass es ein Umdenken braucht, dass sich beide Seiten – Nachwuchs und Betriebe – anpassen und aufeinander zugehen müssen, dass es neue Modelle braucht, um gemeinsame Wege zu gehen.
Generationenbashing hält sie nicht für hilfreich. Laut der Studie ist der Großteil der befragten Ausbilder:innen überzeugt: Es geht bergab. „Das hat Sokrates schon gesagt. Wenn es seit Sokrates aber nur noch bergab gegangen wäre, dann wären wir heute nur noch eine Horde Wilder.“ Die jungen Menschen seien zwar anders, bringen aber neue Vorteile mit sich. Besser sei es, diese Vorteile zu nutzen als über die Nachteile zu meckern. „Lieb sie, hab sie gern, schließ sie in dein Herz, mit all ihren Macken. Wenn du das ausstrahlst, hast du gute Chancen, Menschen für dich zu begeistern“, lautet Ullrichs Botschaft. Junge Generationen empfindet sie als deutlich offener und toleranter. Betriebe können zudem von der digitalen Affinität profitieren. Es gebe erste große Industrieunternehmen, in denen die Vorstände von den Azubis lernen, wie man mit sozialen Medien umgeht.
„Hidden Champions“
Ullrich wird nicht müde zu betonen, wie wichtig es ist, Anreize zu schaffen. Denn die jungen Menschen wissen, dass sie heute in der stärkeren Position sind und gesucht werden statt suchen zu müssen. Eine Sichtweise, die nicht zuletzt in der Entwicklung vom Arbeitgeber- zum Arbeitnehmermarkt begründet liegt. Gute Schulnoten, perfektes Auftreten – für viele Betriebe sind das beliebte Einstellungskriterien, die aber auch „Gefahren“ bergen können. Denn solche Kandidat:innen bleiben vielleicht nicht lang, weil sie wissen, dass auch andere Stellen auf sie warten. In jemanden, der sich in der Schule schwergetan hat, unsicher ist und nicht beim ersten Treffen glänzen kann, müsse vielleicht zunächst mehr investiert werden, aber: „Derjenige bleibt mit höherer Wahrscheinlichkeit dem Betrieb auch nach der Ausbildung erhalten, weil er vermutlich keine Lust hat noch zu studieren. Schließlich war er in der Schule schon nicht gut.“ In diesen „Hidden Champions“ sieht Ullrich großes Potenzial. Ebenso darin Zugewanderte einzustellen. Das kann auch ein Alleinstellungsmerkmal darstellen, mit dem sich aktiv werben lässt: „Wir beraten auch auf Arabisch“ im Schaufenster erschließt womöglich eine neue Zielgruppe. Um herauszufinden, was genau den eigenen Betrieb von anderen abhebt, ist es sinnvoll, die Konkurrenz zu beobachten: Was machen die anderen? Was können wir anders machen?
„Der wichtigste Baustein für Erfolg ist Eignung“, sagt die Recruiting-Expertin, „denn, wenn ich etwas nicht kann, dann bin ich unglücklich“. Ob jemand zu einer Stelle passt oder nicht, lässt sich anhand von Eignungstests erfassen. Für Ottobock hat die U‑Form einen solchen Test bereits für Orthopädietechniker:innen entwickelt. Laut Ullrich sind diese Ergebnisse oft aussagekräftiger als Schulnoten oder Bewerbungsanschreiben. Eignung zu messen geht für sie vor Bauchgefühl.
Nett und schnell sein
Es heißt „Nett ist die kleine Schwester von …“. Das sieht Ullrich anders. „Mit nett kann man viel reißen.“ Ebenfalls mit Schnelligkeit. Kommen Bewerbungen per Mail oder Whatsapp rein, sollte innerhalb von maximal 48 Stunden eine Antwort – mit persönlicher, freundlicher Ansprache und ohne standardisierte Floskeln – erfolgen. „Wertschätzung und Nettigkeit sind so günstig. Es kostet mich nichts, bringt aber viel, weil es das Herz berührt“, betont sie. Punkten mit Menschsein also. Das können sich Betriebe auch bei Jobmessen zunutze machen. Statt darauf zu warten, dass die Jugendlichen auf einen zukommen, würde Ullrich den Spieß umdrehen, wieder von der passiven in die aktive Haltung wechseln, die Jugendlichen ansprechen und wenn möglich direkt Nägel mit Köpfen machen. Bedeutet, nicht die Visitenkarte in die Hand drücken, sondern sich die Kontaktdaten der Interessenten geben lassen, mit dem Versprechen, sich zu melden.
Die Ergebnisse der Studie kurz zusammengefasst: Die Top 5 sind für die Auszubildenden: Betriebsklima, Zusatzqualifikationen, Vergütung (erstmals Platz 3, vorher immer Platz 4), Aufgaben und Work-Life-Balance. Auch hoch im Kurs steht das Thema Diversität, also die Gleichberechtigung aller Geschlechter, Hautfarben, Kulturen und Religionen. „Das sollte ich in meiner Kommunikation ausdrücken“, sagt Ullrich und meint damit nicht zwangsläufig die Verwendung eines Gendersternchens. Sie erinnert sich an eine Stellenanzeige zurück, die ihr Interesse weckte. Statt „m/w/d“ stand neben der Berufsbezeichnung „a‑z“: Von Alien bis Zombie – bei uns ist jeder und jede willkommen.
Die Studie 2022 brachte auch die eine oder andere Überraschung mit sich, u. a. was die Top- oder Flop-Fragen betrifft. Dort hieß es beispielsweise Freizeit versus Geld. „Wir hätten alle gewettet, dass die Freizeit gewinnt“, sagt Ullrich. Fehlanzeige. Gleiches gilt für Sicherheit versus Karriere. Hier machte Karriere das Rennen. „Daran merkt man, dass die jungen Generationen ein neues Selbstbewusstsein haben. Sie sind sich ihres eigenen Wertes bewusst. Sie wissen, wenn es mir nicht gefällt, gibt es Alternativen.“ Was sich an den Ergebnissen aus Betriebssicht abzeichnet: „Die Unternehmen sind immer noch in der Zeit des Arbeitgebermarktes verhaftet“, sagt Ullrich. Ein Umdenken sei zwingend erforderlich. „Die, die umdenken, werden auch Azubis finden und generell erfolgreich sein mit ihrem Geschäft.“
Noch bis zum 3. April 2023 können Ausbilder:innen und Auszubildende an der Studie „Azubi-Recruiting Trends 2023“ teilnehmen. Die Umfrage ist online unter https://www.testsysteme.de/studie zu finden.
Pia Engelbrecht
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