Eine bio­ni­sche Hand­pro­the­se für Kin­der und Jugendliche

S. Schulz
Die Kinder- und Jugendprothetik stellt den Orthopädie-Techniker vor ganz besondere Herausforderungen. Im Bereich der oberen Extremität stoßen die bisher verfügbaren Systeme bezüglich Funktionalität und Ästhetik oft an ihre Grenzen. Dies gilt insbesondere für die Merkmale Griffweite, Griffkraft und Greifgeschwindigkeit, aber auch für die Form und Größe der Handprothesen. Mit der “VINCENTyoung" wird ein neues Kinder- und Jugendhandsystem vorgestellt, das bei diesen Defiziten ansetzt und erstmals für die Altersklasse der 8- bis 13-Jährigen die Nutzung einer multiartikulierenden Handprothese ermöglicht.

Ein­lei­tung

Die pro­the­ti­sche Ver­sor­gung der obe­ren Extre­mi­tät von Kin­dern und Jugend­li­chen ist eine ganz beson­de­re Her­aus­for­de­rung. Neben dem Pro­blem der wachs­tums­be­ding­ten kon­ti­nu­ier­li­chen Anpas­sung der Schaft­sys­te­me sind auch geeig­ne­te Pass­tei­le oft nicht ver­füg­bar. Dies gilt ins­be­son­de­re für die myo­elek­tri­sche Armund Hand­pro­the­tik. Hand­pro­the­sen sind für die Alters­klas­sen 1,5 bis 13 Jah­re und dann in rea­lis­ti­schen Grö­ßen­pro­por­tio­nen zur kon­tra­la­te­ra­len Hand erst wie­der für jun­ge Erwach­se­ne ver­füg­bar. Für ca. 8- bis 16-jäh­ri­ge Kin­der und Jugend­li­che ist die pro­the­ti­sche Ver­sor­gung mit einer myo­elek­trisch gesteu­er­ten Hand in der Ver­gan­gen­heit beson­ders schwie­rig gewe­sen, weil für die­se Alters­klas­se Pro­the­sen mit den eigent­lich benö­tig­ten Griff­wei­ten und Greif­ge­schwin­dig­kei­ten nicht in aus­rei­chen­dem Maße zur Ver­fü­gung stan­den. Hin­zu kam, dass die Designs der Pro­the­sen unter kos­me­ti­schen Gesichts­punk­ten nicht zufrie­den­stel­lend waren.

Anzei­ge

Dabei ist die pro­the­ti­sche Ver­sor­gung gera­de in die­ser Ent­wick­lungs­pha­se beson­ders wich­tig für die Her­an­wach­sen­den, denn in die­ser Zeit erlan­gen sie viel Selbst­stän­dig­keit und bil­den inten­siv ihre moto­ri­schen Fähig­kei­ten aus. In die­ser Pha­se formt sich das Schrei­ben, Malen, Spie­len und Sport­trei­ben, d. h. das krea­ti­ve Arbei­ten in all sei­nen Aus­prä­gun­gen, und hier wird maß­geb­lich das Ent­wick­lungs­po­ten­zi­al der Kin­der für ihren wei­te­ren Lebens­weg fest­ge­legt. Fehlt in die­ser Pha­se eine Extre­mi­tät, wird die sich in vol­lem Gan­ge befind­li­che kör­per­li­che Ent­wick­lung erheb­lich beein­flusst. Ins­be­son­de­re führt eine asym­me­tri­sche Kör­per­hal­tung zu einer ein­sei­ti­gen Belas­tung der Wir­bel­säu­le. Aber auch die Bio­me­cha­nik des Gan­ges wird stark beein­flusst, da ein Mas­se­un­gleich­ge­wicht des Ober­kör­pers durch das Feh­len einer Hand oder eines Arms durch Kom­pen­sa­ti­ons­be­we­gun­gen auch zu einer zusätz­li­chen Belas­tung von Seh­nen, Bän­dern und Gelen­ken im Fuß-Bein-Bereich beim Gehen und Lau­fen führt.

Mit der „VIN­CEN­Ty­oung” steht nun ein Pro­the­sen­sys­tem zur Ver­fü­gung, das, je nach Kör­per­grö­ße, für Kin­der und Jugend­li­che im Alter von 8 bis 13 Jah­ren geeig­net ist und eine Lösung für die tech­ni­schen und funk­tio­na­len Defi­zi­te bie­tet (Abb. 1). Vom Funk­ti­ons­um­fang her zählt sie zu den mul­ti­ar­ti­ku­lie­ren­den Hän­den. Das seit Mit­te 2014 über qua­li­fi­zier­te Fach­be­trie­be ver­füg­ba­re Sys­tem eröff­net damit erst­mals auch einen Zugang der bio­nisch inspi­rier­ten moder­nen Hand­ver­sor­gung zur Kin­der- und Jugendhandprothetik.

Im Fol­gen­den wer­den die wesent­li­chen Funk­ti­ons­merk­ma­le der neu­en Pro­the­se vor­ge­stellt. Hin­sicht­lich der Vor­tei­le eines mul­ti­ar­ti­ku­lie­ren­den Sys­tems sowie der Kom­pa­ti­bi­li­tät zu bestehen­den Schaft­sys­te­men und EMG-Steue­run­gen nimmt die „VIN­CEN­Ty­oung” eine beson­de­re Stel­lung inner­halb der Ver­sor­gungs­lö­sun­gen für Kin­der und jugend­li­che Pro­the­sen­trä­ger ein.

Mul­ti­ar­ti­ku­lie­ren­de Hände

In den ver­gan­ge­nen zehn Jah­ren hat die Hand­pro­the­tik einen deut­li­chen tech­no­lo­gi­schen Sprung voll­zo­gen. Es ist ein anhal­ten­der Trend in Rich­tung mul­ti­ar­ti­ku­lie­ren­der Hän­de fest­zu­stel­len, d. h. ein Trend zu Hand­pro­the­sen, die über unab­hän­gig von­ein­an­der beweg­li­che Fin­ger- und Dau­men­ge­len­ke ver­fü­gen und somit unter­schied­li­che Griff­ar­ten gestat­ten. Auch den ästhe­ti­schen Aspek­ten wird im Zuge die­ser Ent­wick­lung mehr Auf­merk­sam­keit gewid­met, sodass zuneh­mend auch das Design als Funk­ti­ons­merk­mal wahr­ge­nom­men wird.

Tech­nisch war es bis­her nicht mög­lich, elek­tro­nisch gesteu­er­te hoch­be­weg­li­che Hand­pro­the­sen so klein und leis­tungs­fä­hig zu bau­en, dass sie den Anfor­de­run­gen von Kin­dern und Jugend­li­chen bezüg­lich Ana­to­mie, Gewicht, Funk­tio­na­li­tät und Robust­heit gerecht wer­den konn­ten. Die meis­ten der bis­her ver­füg­ba­ren bio­ni­schen Hän­de hat­ten die Grö­ße einer erwach­se­nen Män­ner­hand. Für Kin­der sind sol­che Pro­the­sen sowohl in Bezug auf Hand­grö­ße als auch auf Hand­ge­wicht in hohem Maße dys­funk­tio­nal. Die „VINCENTevolution2” bil­de­te in die­sem Feld mit einem Gewicht von 425 g und ihrer gerin­gen Grö­ße eine Aus­nah­me, sie war bereits für Jugend­li­che und jun­ge Erwach­se­ne im Alter von 14 bis 18 Jah­ren geeignet.

Über­trof­fen wird die­ses Modell nun aber von der „VIN­CEN­Ty­oung”. Mit ihr steht die nach Anga­ben des Ver­fas­sers der­zeit kleins­te und leis­tungs­fä­higs­te bio­ni­sche Hand­pro­the­se für die Kin­der- und Jugend­ver­sor­gung zur Verfügung.

Merk­ma­le der neu­en Handprothese

Ana­to­mie und Ästhetik

Die neue Pro­the­se ist mit dem Ziel kon­zi­piert wor­den, die Funk­tio­na­li­tät einer mul­ti­ar­ti­ku­lie­ren­den Hand mit den ana­to­mi­schen und ästhe­ti­schen Anfor­de­run­gen an eine Kin­der- und Jugend­pro­the­se zu ver­bin­den. Gewicht, Grö­ße und Form soll­ten daher dem natür­li­chen Vor­bild ent­spre­chen. Im Ver­gleich zur „VINCENTevolution2” wur­de bei dem neu­en Modell die Hand­län­ge von 163 auf 128 mm und die Brei­te der Mit­tel­hand von 80 auf 67 mm redu­ziert (Abb. 2a und 2b). Das ana­to­misch ange­nä­her­te Design des Vor­gän­gers zeich­net sich aus durch eine fla­che und aus­ge­präg­te Mit­tel­hand und eine abge­run­de­te For­men­spra­che, die durch eine voll­stän­di­ge Umman­te­lung der Pro­the­se mit elas­ti­schen Poly­ure­than-Form­ele­men­ten unter­schied­li­cher Elas­ti­zi­tät erreicht wird. Die­ses Design konn­te auch bei der neu­en Hand erfolg­reich umge­setzt wer­den. Die mul­ti­ar­ti­ku­lie­ren­de Kin­der- und Jugend­hand hat inklu­si­ve einer Hand­ge­lenk-Ver­schluss­au­to­ma­tik ein Gewicht von ca. 285 g.

Kine­ma­tik und ana­to­mi­sche Bezugsgrößen

Die kom­pak­te und bio­me­cha­nisch opti­mier­te Hand aus einer hoch­fes­ten Alu­mi­ni­um-Magne­si­um-Legie­rung und einer nach­gie­big wei­chen Hül­le aus Poly­ure­than ver­fügt über vier DC-Kleinst­mo­to­ren, die jeweils über ein Minia­tur-Pla­ne­ten­ge­trie­be die vier Bewe­gungs­ach­sen in der Hand unab­hän­gig von­ein­an­der und bidi­rek­tio­nal aktiv antrei­ben. Der Dau­men ver­fügt dar­über hin­aus über eine fünf­te, jedoch pas­siv beweg­te Ach­se. Indem die Gelen­ke der Kin­der­hand­pro­the­se sowohl mit Motor­kraft geschlos­sen als auch geöff­net wer­den, imi­tiert sie etwa 8 der 33 Mus­keln und 5 der 22 Gelen­ke einer mensch­li­chen Hand.

Im Ver­gleich zu einer nicht-mul­ti­ar­ti­ku­lie­ren­den Hand­pro­the­se weist die neue Pro­the­se trotz ihrer vier Moto­ren ein rela­tiv gerin­ges Gewicht bei erhöh­ter Funk­tio­na­li­tät auf.

Bezo­gen auf die Ana­to­mie der mensch­li­chen Hand wer­den in der Pro­the­se jeweils die Meta­car­po­phal­an­ge­al­ge­len­ke (MCP) von Zei­ge­fin­ger (2), Mit­tel­fin­ger (3), Ring­fin­ger (4) und Klein­fin­ger (5) bewegt, wobei die Fin­ger 4 und 5 mit­ein­an­der im MCP gekop­pelt sind und einen gemein­sa­men Antrieb haben. Die Fin­ger­glie­der Pha­lanx pro­xi­ma­lis, Pha­lanx media und Pha­lanx dista­lis sind in der Pro­the­se in einer leich­ten Fle­xi­on von ca. 30 Grad in den Gelen­ken starr mit­ein­an­der ver­bun­den. Der Meta­car­pal­be­reich der Hand ist starr aus­ge­führt und endet in Anleh­nung an sein natür­li­ches Vor­bild direkt auf Höhe der Hand­wur­zel. Beim Dau­men sind Pha­lanx dista­lis, Pha­lanx pro­xi­ma­lis sowie Meta­car­pa­lia starr ver­bun­den. In die­sem Bereich sitzt der Dau­men­an­trieb, der den Dau­men in der Basis der Meta­car­pa­lia elek­trisch im Oppo­si­ti­ons­sin­ne gegen die Lang­fin­ger bewegt. Die Posi­ti­on des moto­ri­sier­ten und über eine Feder vor­ge­spann­ten Dau­mens wird über einen Sen­sor erfasst und gere­gelt. Auf die­se Wei­se wird eine punkt­ge­naue Berüh­rung zwi­schen der Dau­men- und Zei­ge­fin­ger­pa­pil­le im Pin­zet­ten- bzw. Prä­zi­si­ons­griff sicher­ge­stellt. Zur Abduk­ti­on wird der Dau­men pas­siv in einer wei­te­ren Bewe­gungs­ach­se rotiert. Die für eine manu­el­le Dau­men­be­we­gung auf­zu­brin­gen­de Kraft ist über ein Feder­pa­ket indi­vi­du­ell einstellbar.

Auf die­se Wei­se sind der Zei­ge­fin­ger, der Mit­tel­fin­ger, der Ring­fin­ger zusam­men mit dem Klein­fin­ger und der Dau­men ein­zeln beweg­lich. Im Gegen­satz zur „VINCENTevolution2” befin­den sich die Moto­ren der „VIN­CEN­Ty­oung” nicht in den Fin­gern, son­dern in der Mit­tel­hand, mit Aus­nah­me des aktiv ange­trie­be­nen Dau­mens. Die­se Anord­nung gestat­tet eine schlan­ke Gestal­tung der Lang­fin­ger und der Mit­tel­hand und damit eine beson­ders wei­te Annä­he­rung an die Ana­to­mie der mensch­li­chen Hand.

Öff­nungs­wei­te

Ein beson­de­res Augen­merk wur­de auf eine gro­ße Öff­nungs­wei­te zwi­schen den Lang­fin­gern und dem Dau­men gelegt: Sie beträgt zwi­schen den Papil­len von Zei­ge­fin­ger und Dau­men 110 mm. Ein zylin­dri­scher Gegen­stand, z. B. ein Glas oder eine Tas­se, kann daher bis zu einem Durch­mes­ser von ca. 80 mm sicher gehal­ten wer­den (Abb. 3a–c). Mit die­ser gro­ßen Griff­wei­te unter­schei­det sich die­ses Hand­sys­tem deut­lich von alter­na­ti­ven Kin­der- und Jugend­hand­sys­te­men. Die in der Abbil­dung 3b gegrif­fe­ne wei­ße Tas­se hat einen Durch­mes­ser von ca. 75 mm.

Hand­ge­lenk­op­tio­nen

Das Pro­the­sen­sys­tem ver­fügt über unter­schied­li­che Hand­ge­lenk­op­tio­nen. Zunächst kann grund­sätz­lich zwi­schen einem star­ren und einem fle­xi­blen Über­gang zwi­schen Hand und Hand­ge­lenks­an­bin­dung gewählt wer­den (Abb. 4a–c).

Dar­über hin­aus kann ent­we­der eine stan­dar­di­sier­te Ver­schluss­au­to­ma­tik oder ein spe­zi­el­ler Trans­car­pal­ver­schluss mit gerin­ger Auf­bau­hö­he ein­ge­setzt wer­den. Bei­de Vari­an­ten bie­ten eine ras­ter­freie manu­el­le 355-Grad-Rota­ti­on im Hand­ge­lenk, deren Frik­ti­on stu­fen­los ein­stell­bar ist. Bei­de bie­ten auch eine ein­fa­che Mög­lich­keit, die Hand vom Pro­the­sen­schaft zu tren­nen, wobei bei der Trans­car­pal­va­ri­an­te ein han­dels­üb­li­cher Inbus­schlüs­sel erfor­der­lich ist. Für die­se Vari­an­te steht für die Schaft­an­bin­dung wahl­wei­se eine Ein­guss­hül­se oder ein Draht­ge­flecht­ring zur Ver­fü­gung, letz­te­re Aus­füh­rungs­form ist die mit 20 mm Auf­bau­hö­he kür­zes­te Vari­an­te (Abb. 5a und 5b).

Tast­sinn

Um einen Gegen­stand sicher zu grei­fen und sei­ne Eigen­schaf­ten zu erfas­sen, set­zen Men­schen ohne Ein­schrän­kung neben den Augen ins­be­son­de­re den Tast­sinn ihrer Hän­de ein. Einem Pro­the­sen­trä­ger fehlt jedoch die­se wich­ti­ge Berüh­rungs­in­for­ma­ti­on, die von den Fin­ger­spit­zen stammt. Zusätz­lich ist auch der Tast­sinn sei­nes Arm­stumpfs durch den Pro­the­sen­schaft stark ein­ge­schränkt. Will man in einer Pro­the­se einen Tast­sinn rea­li­sie­ren, muss man für die sen­so­ri­sche Rück­mel­dung und Wei­ter­lei­tung der Tast­in­for­ma­ti­on von den künst­li­chen Fin­ger­spit­zen an den Pro­the­sen­trä­ger eine Lösung fin­den. Hier besteht das Pro­blem, dass unab­hän­gig von der Art des Trans­fers sowohl die Rezep­to­ren in der Haut als auch unser Gehirn sich auf die­sen „frem­den Reiz” ein­stel­len und mit der Zeit die­se „Stö­rung” unter­drü­cken. Es tritt eine Gewöh­nung an den Reiz ein, die Rück­mel­dung kann dann nicht mehr dif­fe­ren­ziert wahr­ge­nom­men werden.

Für die „VINCENTevolution2” wur­de erst­mals ein Force-Feed­back­sys­tem ent­wi­ckelt, das die­sen Gewöh­nungs­ef­fekt deut­lich mini­miert. Die Gewöh­nung ist beson­ders stark, wenn gleich­blei­ben­de Rei­ze auf die Rezep­to­ren der Haut wir­ken. Des­halb wur­de für die Pro­the­se ein künst­li­cher Tast­sinn ent­wi­ckelt, der dar­auf beruht, dass ledig­lich Infor­ma­tio­nen über Ände­run­gen von Kraft oder Berüh­rung an den Pro­the­sen­trä­ger über­mit­telt wer­den. Dabei wird die Kraft­in­for­ma­ti­on in eine Anzahl gut zu unter­schei­den­der Stu­fen unter­teilt. Eben­so erfolgt eine Ein­tei­lung in die Kate­go­rien „ers­te Berüh­rung”, „zuneh­men­de Kraft” und „abneh­men­de Kraft”. Bei Errei­chen einer neu­en Stu­fe wird eine Rück­mel­dung in Form einer Vibra­ti­on mit Ein­zel­im­pul­sen an den Trä­ger gege­ben – die Anzahl der Impul­se rich­tet sich dabei nach der Höhe der erreich­ten Greif­kraft­stu­fe. Nur bei einem Stu­fen­wech­sel wird ein Signal über die Art der Ände­rung gege­ben, dazwi­schen erfolgt kei­ner­lei Rück­mel­dung bzw. Vibra­ti­on. Die gemes­se­ne Griff­kraft an der Fin­ger­spit­ze wird auf die­se Wei­se in ein Vibra­ti­ons­feed­back übersetzt.

Auch die „VIN­CEN­Ty­oung” ist seri­en­mä­ßig mit die­sem vibrot­ak­ti­len Tast­sinn aus­ge­stat­tet. Sie ist damit welt­weit die ers­te Kin­der- und Jugend­hand­pro­the­se, die die­se Tech­nik einsetzt.

Gestal­tungs­pro­zess der Kin­der- und Jugendhand

Der Design­pro­zess der Kin­der­hand star­te­te mit einem Gips­ab­druck der rech­ten Hand eines zwölf­jäh­ri­gen Jun­gen, für des­sen lin­ken Unter­arm eine pro­the­ti­sche Ver­sor­gung geplant war. Das Gips­mo­dell wur­de zunächst mit einem hoch­auf­lö­sen­den 3‑D-Scan­ner digi­ta­li­siert. Im CAD-Sys­tem wur­den die Daten dann gespie­gelt und als Vor­ga­be für Form und Grö­ße der zu ent­wi­ckeln­den Hand­pro­the­se ein­ge­setzt. Die Pro­the­se wur­de dar­auf­hin mit allen Funk­ti­ons­merk­ma­len vir­tu­ell kon­stru­iert, sodass ihre Kine­ma­tik und mecha­ni­sche Belas­tung simu­liert wer­den konn­ten. Auch der Design­pro­zess bis hin zur farb­li­chen Beschich­tung, bis zur Wahl der Ober­flä­chen­struk­tur aller sicht­ba­ren Bau­grup­pen und bis zur rea­li­täts­na­hen Dar­stel­lung wur­de im CAD-Pro­zess simuliert.

Die Abbil­dung 6a – f zeigt zunächst die rea­le Hand oben links, dann den Hand-Scan, das Spie­geln des Scans und die dar­auf­fol­gen­de Kon­struk­ti­on der bio­ni­schen Hand bis hin zum vir­tu­el­len, foto­rea­lis­ti­schen Ergeb­nis der mecha­tro­ni­schen Kon­struk­ti­on am PC. Unten rechts ist bereits die fer­tig pro­du­zier­te, ein­satz­be­rei­te Hand­pro­the­se abgebildet.

Erfah­rungs­be­rich­te

Bevor die „VIN­CEN­Ty­oung” in der aktu­el­len Seri­en­aus­füh­rung ange­bo­ten wer­den konn­te, wur­de die Pro­the­se an der Ziel­grup­pe umfang­reich erprobt (Abb. 7), wie das fol­gen­de Bei­spiel einer der ers­ten Pro­be­ver­sor­gun­gen zeigt. Beim Pro­ban­den han­del­te es sich um einen zwölf Jah­re alten Jun­gen, der links­sei­tig bereits mit einer myo­elek­tri­schen Kin­der­hand ver­sorgt war. Die Moti­va­ti­on zu einem Pro­the­sen­wech­sel bestand hier vor allem dar­in, dass sich das Pro­the­sen­sys­tem bezüg­lich Form und Grö­ße auf­fäl­lig von sei­ner vor­han­de­nen Hand unter­schied und dass die Griff­wei­te mit ca. 60 mm zu klein bemes­sen war, um z. B. eine Fla­sche oder eine Tas­se zu greifen.

Für den Pro­ban­den wur­de eine indi­vi­du­el­le Pro­the­se erstellt, nach­dem der Gips­ab­druck sei­ner Hand digi­ta­li­siert wor­den war. Alle Ver­klei­dungs­ele­men­te der Hand wur­den hier aus einem PU-Schaum in einem 3D-Sin­ter­pro­zess gefer­tigt. Die Hand ent­sprach bereits kine­ma­tisch und bezüg­lich der Pro­the­sen­steue­rung dem spä­te­ren Seri­en­mo­dell der „VIN­CEN­Ty­oung”. Die Hand­grö­ße des Seri­en­mo­dells wur­de jedoch etwas verkleinert.

Die Erpro­bun­gen der Pro­the­se erfolg­ten meh­re­re Mona­te, die gewon­ne­nen Erfah­run­gen führ­ten zu einer Opti­mie­rung von Ser­vice und Pro­gram­mie­rung der Hand. Ins­be­son­de­re das dif­fe­ren­zier­te Grei­fen mit unter­schied­li­chen Griff­ar­ten sowie das Fein­ma­ni­pu­lie­ren als Füh­rungs- oder Assis­tenz­hand wur­den vom Pro­the­sen­trä­ger als deut­li­che Ver­bes­se­rung gegen­über ande­ren Hand­va­ri­an­ten her­aus­ge­stellt (Abb. 8).

Steue­rung

Die Steue­rung der Hand erfolgt über zwei ana­lo­ge Ein­gän­ge. Die­se kön­nen wahl­wei­se mit ein bis zwei EMG-Elek­tro­den belegt wer­den oder alter­na­tiv mit Touch­pads. Das Öff­nen und Schlie­ßen der Hand erfolgt wie üblich über die bei­den Steu­er­si­gna­le oder alter­nie­rend bei der Ver­wen­dung nur eines Sensors.

Das Umschal­ten in ande­re Griff­ar­ten (Abb. 9) erfolgt über das zeit­lich abge­stimm­te Öff­nen und Schlie­ßen sowie mit­tels eines Umschalt­si­gnals, das frei gewählt wer­den kann. Für das Umschalt­si­gnal kann eine oder meh­re­re der vor­ge­ge­be­nen Vari­an­ten gewählt wer­den: ein ein­zel­nes kur­zes Signal, ein Dop­pel­si­gnal oder eine ein­zel­ne Ko-Kon­trak­ti­on. Die Ein­zel- und Dop­pel­si­gna­le wer­den nur auf dem Öff­nen-Signal­ein­gang aus­ge­wer­tet. Wird kein Umschalt­si­gnal aus­ge­wählt, steht auch nur eine redu­zier­te Grif­f­aus­wahl zur Verfügung.

Ruhe­po­si­ti­on

Nach dem Ein­schal­ten der Hand und aus der fla­chen Hand­stel­lung her­aus fah­ren die Lang­fin­ger und der Dau­men in eine leicht geschlos­se­ne, natür­lich wir­ken­de Ruheposition.

Drei­punkt­griff und Lateralgriff

Aus der Ruhe­po­si­ti­on her­aus bewe­gen sich pro­por­tio­nal zum Öff­nen- und zum Schlie­ßen-Signal alle Fin­ger gleich­mä­ßig auf und zu. Je nach manu­ell gewähl­ter Dau­men­grund­stel­lung kann aus die­ser Posi­ti­on her­aus ein Drei­punkt­griff oder ein Late­ral­griff erreicht werden.

Pin­zet­ten­griff

Aus der Ruhe­po­si­ti­on her­aus kön­nen durch das gewähl­te Umschalt­si­gnal der Mit­tel­fin­ger und die mit­ein­an­der gekop­pel­ten Ring- und Klein­fin­ger auf der aktu­el­len Posi­ti­on ab- und ange­schal­tet wer­den. Sind die­se Fin­ger abge­schal­tet, bewe­gen sich nun­mehr nur der Zei­ge­fin­ger und der Dau­men gegen­ein­an­der. Je nach manu­ell gewähl­ter Grund­stel­lung des Dau­mens wird hier­durch ein Pin­zet­ten­griff oder ein Late­ral­griff erreicht.

Index­stel­lung

Um direkt die typi­sche Zei­ge­fin­ger­stel­lung zu errei­chen, genügt es, die Hand zu öff­nen und sie im Anschluss für eine vor­ein­ge­stell­te Zeit wei­ter offen zu hal­ten. Mittel‑, Ring- und Klein­fin­ger sowie der Dau­men schlie­ßen sich auto­ma­tisch, der Zei­ge­fin­ger bleibt aus­ge­streckt. Der Zei­ge­fin­ger kann aus die­ser Posi­ti­on durch Öff­nen und Schlie­ßen frei posi­tio­niert werden.

Das Zurück­sprin­gen der Fin­ger in die Grund­po­si­ti­on der fla­chen Hand erfolgt durch ein lan­ges Öff­nen-Signal; die Hand öff­net dann vollständig.

Tablett­hand

Der Tablett­griff unter­schei­det sich von der Index­stel­lung nur dadurch, dass Mittel‑, Ring- und Klein­fin­ger sowie der Dau­men im voll­stän­dig geöff­ne­ten Zustand ver­blei­ben, der Index­fin­ger ist wie­der­um frei posi­tio­nier­bar. Die­ser Griff wird aus der Grund­po­si­ti­on her­aus durch ein­ma­li­ges Betä­ti­gen des Umschalt­si­gnals erreicht.

Cup­hol­der

Von dem Tablett­griff kann durch Betä­ti­gung des Umschalt­si­gnals zu dem soge­nann­ten Cup­hol­der-Griff gewech­selt wer­den. Dabei schlie­ßen Ring- und klei­ner Fin­ger, die mit­ein­an­der gekop­pelt sind, voll­stän­dig und ver­blei­ben an die­ser Posi­ti­on, ohne auf Steue­rungs­si­gna­le zu reagie­ren. Alle ande­ren Fin­ger und der Dau­men kön­nen gemein­sam bewegt wer­den. Die­ser Griff ermög­licht das Abstel­len z. B. einer Tas­se oder eines Gla­ses auf dem ver­rie­gel­ten Ring­fin­ger und das gleich­zei­ti­ge akti­ve Grei­fen von Zei­ge­fin­ger, Mit­tel­fin­ger und Dau­men um den Gegen­stand. Bei die­sem Griff füh­ren klei­ne unwill­kür­li­che oder ver­se­hent­li­che Öff­nen-Signa­le nicht dazu, dass ein gegrif­fe­nes Glas ver­se­hent­lich aus der Hand rutscht.

Ein­stel­lung der Prothesenparameter

Die nut­zer­spe­zi­fi­schen Ein­stel­lun­gen der Pro­the­se erfol­gen über ein gra­fi­sches Nut­zer-Inter­face. Für die­se Zwe­cke wur­den ver­schie­de­ne Appli­ka­tio­nen für mobi­le End­ge­rä­te ent­wi­ckelt, über deren kabel­lo­se Blue­tooth-Schnitt­stel­le alle Funk­ti­ons­pa­ra­me­ter der „VIN­CEN­Ty­oung” indi­vi­du­ell auf den Pro­the­sen­trä­ger abge­stimmt wer­den kön­nen (Abb. 10).

Über einen Tablet-PC oder ein Smart­phone kön­nen alle rele­van­ten Sen­sor­da­ten der Pro­the­sen­steue­rung am Bild­schirm in gra­fi­scher Form ver­folgt wer­den. Zudem kön­nen Pro­the­sen­pa­ra­me­ter neu ein­ge­stellt und auf dem Mikro­con­trol­ler der Hand gespei­chert wer­den. Ergänzt wird die Soft­ware durch Trai­nings­pro­gram­me zum Erler­nen und Ver­bes­sern des Umgangs mit den Steue­rungs­si­gna­len der Prothese.

Nut­zen für den Prothesenträger

Durch eine kon­se­quen­te Leicht­bau­wei­se, Minia­tu­ri­sie­rung und die tech­no­lo­gi­sche Neu­ent­wick­lung aller mecha­tro­ni­schen Kom­po­nen­ten vom Antriebs­kon­zept bis zur Steue­rungs­elek­tro­nik ist es mit der neu­en mul­ti­ar­ti­ku­lie­ren­den Kin­der- und Jugend­hand nach Auf­fas­sung des Autors gelun­gen, Funk­tio­na­li­tät, Bio­me­cha­nik und ana­to­mi­sches Design auf hohem Niveau mit­ein­an­der zu ver­schmel­zen. Der jun­ge Pro­the­sen­nut­zer selbst erfährt von dem tech­ni­schen Auf­wand, der hin­ter die­ser Pro­the­se steckt, nur wenig, denn je bes­ser sei­ne Pro­the­se wird, des­to weni­ger wird er sie als ein tech­ni­sches Hilfs­mit­tel wahr­neh­men und umso mehr als ein Teil von ihm.

Die neue Pro­the­se ist ver­füg­bar für alle Spe­zia­lis­ten der obe­ren Extre­mi­tät, die an einem Zer­ti­fi­zie­rungs­se­mi­nar für die­se Tech­nik erfolg­reich teil­ge­nom­men haben. Kur­se hier­zu wer­den der Fach­welt indi­vi­du­ell und auf Anfra­ge angeboten.

Der Autor:
Dr. Dipl.-Ing. Ste­fan Schulz
Vin­cent Sys­tems GmbH
76135 Karls­ru­he
info@vincentsystems.de

Begut­ach­te­ter Beitrag/reviewed paper

Zita­ti­on
Schulz S. Eine bio­ni­sche Hand­pro­the­se für Kin­der und Jugend­li­che. Ortho­pä­die Tech­nik, 2015; 66 (5): 30–35
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