Einführung
Der wesentliche Grund für den Einsatz der diabetesadaptierten Fußbettung zusammen mit Diabetesschutzschuhen ist die Versorgung nach abgeheiltem plantarem Ulkus (Risikogruppe 3) (Abb. 1).
Eine Versorgung in Form diabetesadaptierter Fußbettungen (DAF) ist ebenfalls möglich, wenn fußformbeeinflussende Faktoren vorliegen 1 2 3 4. Insbesondere gilt das für orthopädische Indikationen, Fußproportionen und Fußdeformitäten, die durch eine konfektionierte Lösung nicht zu versorgen sind 5. Alle oben genannten Ursachen, die zu einer Versorgung mit DAF führen, haben grundsätzlich sowohl druckerhöhende als auch bewegungsbeeinflussende Wirkung 6. Da aufgrund des Krankheitsbildes Diabetes mellitus mit Polyneuropathie und ggf. arterieller Verschlusskrankheit der größte bewegungsverändernde Faktor „weniger Bewegung” ist, liegt der Fokus der Betrachtungen verstärkt auf allen druckverändernden Maßnahmen plantar am Fuß.
Die Ausführung von Fußbettungen nach Art der in Deutschland konzipierten diabetesadaptierten Fußbettung stellt eine adäquate Versorgung bei diabetischem Fußsyndrom dar (Abb. 2). Ziel dieser Versorgungsmethode ist es, das deutlich erhöhte Ulkusrezidiv-Risiko zu mindern.
Die Reduktion des Drucks unter den gefährdeten Regionen (ROI) durch Umverteilung wird in den gesetzlichen Ausführungsbestimmungen als entscheidende funktionelle Maßnahme genannt. Die Fokussierung vorrangig auf den erhöhten Druck entspricht dem aktuellen Forschungsstand.
Analysiert man die biomechanisch funktionellen Möglichkeiten, über die Fußbettung den Druck in den ROI zu minimieren, so sind fünf wichtige Einflussmöglichkeiten hervorzuheben:
- die Materialstärke der Fußbettung,
- die Materialauswahl in verschiedenen Fußregionen der Fußbettung,
- Formveränderung über lokale Polsterungen,
- Verschiebung des Kraftangriffspunktes und
- Flächenvergrößerung.
Die zur Verfügung stehende plantare Fußfläche, auf der diese gewünschten Veränderungen stattfinden sollen, um den Druck zu reduzieren, ist mehr oder weniger gleichbleibend. Nimmt man die Formel „Druck gleich Kraft durch Fläche” zu Hilfe, ist jeder Effekt, der mehr Fläche zum Zeitpunkt der Belastung des ROI ermöglicht, unbedingt zu erreichen. Formveränderung auf der Einlage und Verschiebung des Kraftangriffspunktes sind sowohl zeitlich als auch räumlich wirksam. Alle Faktoren zusammen führen dann zum größtmöglichen Erfolg bei gewünschter lokaler Druckumverteilung.
Methoden
Um gezielt Aussagen zu Materialeigenschaften unter realen Lastfällen wie Gehen oder Laufen treffen zu können, wurde in Zusammenarbeit mit dem Institut für Biomechanik der Deutschen Sporthochschule Köln eine darauf ausgelegte Prüfapparatur entwickelt (Abb. 3). Die Prüfparameter wurden durch Messungen an Diabetikern mit erhöhtem Ulkus-Risiko erhoben (Abb. 4). Prüfungen, die die Belastung von mehreren Kilometern simulieren, ermöglichen zusammen mit der Messung der Erholungsmöglichkeit des Materials die Bestimmung der Dauerelastizität.
Um die Effekte unterschiedlicher Materialstärke und Materialauswahl eindeutig beschreiben zu können, hat die Prüfapparatur eine geregelte Kraft- und Wegmessung zur Verfügung 7 8. Mittels dieser auf biomechanische Eingangsparameter einstellbaren Untersuchungsmethode kann eindeutig das vorhandene Materialverhalten ermittelt werden. Erfasst werden unter anderem die Steifigkeit des Materials und das „Energieverhalten”. Die Ergebnisse der technischen Materialprüfung (Abb. 5) stimmen hinreichend genau mit den realen Messungen überein (siehe Abb. 4). Die Prüfung der Dauerelastizität der eingesetzten Materialien erfolgt ebenfalls, um die angestrebten Entlastungseffekte langfristig zu belegen. Dabei soll durch den Nachweis der Formbeständigkeit (im Mittel wird in Deutschland von einem Jahr ausgegangen) die gewünschte Wirkung dargestellt werden.
Eine weitere Methode, um die druckumverteilende Wirkung der Fußbettung zu ermitteln, ist die Messung der Drücke plantar am Fuß beim Gehen 9 10 bei annähernd gleicher Ganggeschwindigkeit (siehe Abb. 4). Die Daten, erhoben in einem Neutralschuh ohne Absatz und Abrollung, werden mit denen im Diabetesschutzschuh mit Fußbettung verglichen. Beide Methoden zusammengeführt stellen momentan für uns die besten Methoden dar, um die Wirkung von Materialien zum Aufbau von diabetesadaptierten Fußbettungen zu beschreiben 11 12.
Die Methoden können jedoch erst dann sinnvoll eingesetzt werden, wenn sie durch kontinuierliche Messungen überwacht werden. Zur Produktsicherung werden nach DIN EN ISO 9001 und DIN EN ISO 13485, die detaillierte Anforderungen für die Herstellung und das Inverkehrbringen von Medizinprodukten enthalten, Daten erhoben und nachvollziehbar ausgewertet. Es wurden n = 405 Patienten mit 673 auswertbaren Füßen, die die Risikogruppe 3 nach AG-Fuß-Schema erfüllen, eingeschlossen. Ausgewertet wurde die Druckverteilung je cm² je Einzelschritt unter den Zehen, Mittelfußköpfchen und der Basis V bei individueller Ganggeschwindigkeit.
Um möglichst gleiche Bedingungen bei geradliniger Fortbewegung zu erhalten, wurde die Stützphasendauer betrachtet. Sie sollte nicht mehr als +/-10 % von der Messung im Neutralschuh abweichen. Wir betrachten alle Werte, die größer als 35N/cm² sind, als kritisch. Eine Druckreduzierung des gemessenen Maximalwerts im Neutralschuh oder in der ROI um mindestens 40 % muss erreicht werden, um als erfolgreiche Versorgung bewertet zu werden. In der Auswertung erfolgt keine Mehrfachbewertung je Patient; es wird der höchste gemessene Wert berücksichtigt. Bewertet wird dabei immer der Effekt von Diabetikerschutzschuh und Fußbettung zusammen 13 14. Eine Trennung im Versorgungsalltag ist unter praktischen Versorgungsbedingungen momentan nicht zu realisieren.
Ergebnisse
Ein Ergebnis lautet, dass nicht der erste, oftmals weiche Effekt eine dauerhaft gute Druckumverteilung gewährleistet. Mit der subjektiven Bewertung der gefühlten Weichheit werden nicht die notwendigen funktionellen Materialeigenschaften ermittelt, die bei Typ-II-Diabetikern plantar notwendig sind. Der häufig in der Praxis benutzte Materialtest (Abb. 6) oder eine alleinige Beschreibung des Materials mittels Shore-Härte reicht zum Aufbau einer diabetesadaptierten Fußbettung aus unserer Sicht nicht aus 15.
Auf Basis der Bestimmung der dynamischen Materialeigenschaften lassen sich gezielt die einzelnen Schichten der diabetesadaptierten Fußbettung zusammensetzen. Der Aufbau der Fußbettung sollte dabei aus mindestens drei, besser vier Schichten mit eindeutig unterscheidbaren Materialkennwerten bestehen, da jede der vier Schichten unterschiedliche funktionelle Aufgaben hat und die ausgewählten Materialien diesen gerecht werden müssen.
- Der individuelle Fußbettkern im Rück- und Mittelfuß sollte eher steif sein. Er ist dazu da, formerhaltend, stabilisierend und falls gewünscht lenkend zu wirken.
- Die zweite individuelle Fußformschicht ermöglicht es, jeden Fuß eins zu eins korrigiert abzubilden. Falls zur Druckreduktion notwendig, können Weichpolsterungen in jeder Ausführungsart exakt moduliert und durch eine überlagerte DVM (Gang) feinjustiert eingebracht werden. Diese Materialschicht kann zudem je nach Patient durch Veränderung der Steifigkeit auf reale Belastungsmuster abgestimmt werden.
- Die dritte sehr weiche und dauerelastische Schicht ermöglicht das Verschieben des Fußes auf der Fußbettung. Mögliche, bis dato allerdings nicht nachweisbare Scherkräfte können damit kompensiert werden. Entscheidend ist auch die Feinanpassung an die untere Schicht, besonders bei Übergängen zu Vertiefungen.
- Die vierte Schicht überspannt und schützt die dritte Schicht. Sie ist kurzzeitig flächenelastisch wirksam und dient der optimalen Feinanpassung während des Absinkens des Fußes auf die unteren Schichten.
- Bei geeigneter Verwendung mittels zugefügten Waschmittels ist die Fußbettung antibakteriell wirksam, da mit 60 °C waschbar.
Abbildung 7 zeigt die erreichbare Druckentlastung durch den beschriebenen Aufbau der Fußbettung. Die Verwendung biomechanischer Prüfmethoden zur realen Belastung von Materialien ermöglicht es, dynamische Materialkennwerte zu erhalten und diese zielführend einzusetzen. Das komplette Verfahren ermöglicht es, alle eingesetzten Materialien, die eine gute Druckumverteilung erreichen sollen, hinsichtlich ihrer Wirkung eindeutig zu unterscheiden.
Schlussfolgerung
Die dauerhafte Aufrechterhaltung der materialimmanenten druckreduzierenden Effekte ist elementar, um das Ulkusrezidiv-Risiko, ausgelöst durch lokale Druckstellen, zu mindern. Dies kann mit dem vorgestellten technisch-biomechanischen Verfahren zur Materialauswahl, der funktionellen orthopädieschuhtechnischen Versorgung mit Überprüfung der Druckverteilungsmessung und der Einhaltung der AG-Fuß-Leitlinien gut erreicht werden.
Im Vordergrund sollten dabei die individuell herausgearbeitete Formgebung, ggf. mit lokalen Weichpolsterungen, die dauerelastischen Materialeigenschaften sowie eine genügend große Einlagenstärke zusammen mit den Funktionen von Diabetesschutzschuhen stehen.
Ausblick
Dies ist allerdings noch immer nicht ausreichend, um die Gesamtzahl der betroffenen Fälle dauerhaft gut zu versorgen. Deutlich wird dies, wenn man in der aktuellen Literatur die Höhe der Ulkus-Rezidivraten betrachtet 16. Morbach et al. merken in diesem Zusammenhang an: „Nur ein multidisziplinäres, multifaktorielles Vorgehen bei der Behandlung von Fußulzera ist in der Lage, die Häufigkeit von Amputationen um mehr als 50 % zu senken.” Da die Versorgungsleistung hinsichtlich des Parameters Druck bei Auslieferung der Versorgung optimiert ist, empfiehlt sich eine engmaschigere Kontrolle der vorhandenen Druckwerte in der getragenen Versorgung, um einen besseren Versorgungsstatus, sprich eine Senkung der Ulkus-Rezidivrate, zu erreichen. Aber auch hier gilt: Allein durch eine bessere Druckumverteilung ist dies nicht zu erreichen, was auch in der aktuellen Literatur so dargestellt wird; Vorstudien, die die Komplexität eines erweiterten Versorgungsansatzes für individuelle Versorgungen beschreiben, werden gerade von den Verfassern durchgeführt. Dabei stehen neben den biomechanisch zu erfassenden Parametern besonders Parameter wie Patientenzufriedenheit und Adhärenz im Vordergrund.
Für die Autoren:
Michael Jahn
Leitung Forschung und Entwicklung / Akademie
Ietec Orthopädische Einlagen GmbH
Produktions KG
Am Frankengrund 3
36093 Künzell
mjahn@ietec.de
Begutachteter Beitrag/Reviewed paper
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- Die neue Leitlinie zum Lipödem-Syndrom: mehr Licht als Schatten. Konsequenzen für die Praxis — 5. Dezember 2024
- Orthesenversorgung bei Läsion des Plexus brachialis — 4. Dezember 2024
- Anforderungen an additiv gefertigte medizinische Kopfschutzhelme — 4. Dezember 2024
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