Live-Video­talk OST: Stan­dard für die Bran­che geschaffen

Mit seinem Gewicht von rund 1.000 Gramm liegt das Kompendium „Qualitätsstandard im Bereich Fuß und Schuh“ gut in der Hand – deutlich schwerer aber wiegt der Inhalt. Was das Werk für die Branche bedeutet, ist am Dienstag, 8. November, beim Live-Videotalk, ausgerichtet vom Verlag OT und der Confairmed GmbH, deutlich geworden: Dem Titel „OST-Versorgung: Interdisziplinäre Barrieren überwinden“ machten die fünf Gäste aus Medizin, Handwerk und Recht alle Ehre, diskutierten intensiv über die Herausforderungen der Branche und fanden schnell Einigkeit: Sie alle sehen im erst kürzlich veröffentlichten Kompendium großes Potenzial einen wichtigen Beitrag zur Qualitätssicherung in der Hilfsmittelversorgung zu leisten und sich als Standardwerk zu etablieren.

Mehr als 80 Teilnehmer:innen ver­folg­ten die Online-Ver­an­stal­tung via Zoom und betei­lig­ten sich mit Fra­gen und Anmer­kun­gen an der Dis­kus­si­on, die Micha­el Blatt, Pro­gramm­lei­ter im Ver­lag OT, mode­rier­te. Die bei­den Schrift­lei­ter des Kom­pen­di­ums OSM Micha­el Möl­ler, Geschäfts­füh­rer Möl­ler Ortho­pä­die-Schuh-Tech­nik, und Dr. Hart­mut Sti­nus, Ortho­pä­de und Unfall­chir­urg Ortho­pae­di­cum Nort­heim, gewähr­ten einen Ein­blick in den Auf­bau, die Inhal­te und die Hin­ter­grün­de zur Ent­ste­hung des im Okto­ber ver­öf­fent­lich­ten Werks. Kla­re Lini­en in einem bis­lang chao­ti­schen Sys­tem von Indi­ka­tio­nen, Ver­sor­gungs­kon­zep­ten und Ver­ord­nun­gen zu schaf­fen – das sei die Moti­va­ti­on aller betei­lig­ten Akteur:innen gewe­sen, so Möl­ler. Nur kurz habe Sti­nus damals gezö­gert, als Möl­ler ihn für die Mit­wir­kung am Kom­pen­di­um gewin­nen woll­te. Und die sei arbeits­in­ten­si­ver gewe­sen als anfangs gedacht, zah­le sich nun aber aus. „Wir haben die Inhal­te mit hoher Exper­ti­se aus den Berei­chen Ortho­pä­die-Schuh­tech­nik sowie medi­zi­ni­sche Ortho­pä­die und Unfall­chir­ur­gie auf­ge­ar­bei­tet und mit Lite­ra­tur hin­ter­legt“, sag­te Sti­nus. Ins­be­son­de­re dort, wo wis­sen­schaft­li­che Nach­wei­se fehl­ten – wie zum Bei­spiel im Bereich sen­so­mo­to­ri­sche Ein­la­gen – haben die Autor:innen inten­siv dis­ku­tiert, um auf einen Kon­sens zu kom­men. „Ich glau­be, wir haben etwas Gutes geschaf­fen“, ist Sti­nus über­zeugt. Eine Bestä­ti­gung sehen die bei­den auch in denen zum Groß­teil posi­ti­ven Rück­mel­dun­gen. Beden­ken gebe es aber auch, so Möl­ler: „Je sau­be­rer und här­ter wir einen Min­dest­stan­dard defi­nie­ren, des­to schwie­ri­ger ist es inno­va­tiv zu sein“. Möl­ler mach­te in die­sem Zusam­men­hang deut­lich, dass das Kom­pen­di­um „nicht ein­mal geschrie­ben und die nächs­ten hun­dert Jah­re ver­bind­lich“ sei, son­dern den aktu­el­len Stand, die Basis, auf der wei­ter auf­ge­baut wer­den kön­ne, abbil­de. Per­spek­ti­visch sol­len neue Tech­no­lo­gien und damit neue Mög­lich­kei­ten der Ver­sor­gung eben­falls berück­sich­tigt wer­den. Sti­nus rief dazu auf, Fra­gen und Anmer­kun­gen an das Autoren­team wei­ter­zu­ge­ben, damit die­se im Exper­ten­gre­mi­um dis­ku­tiert und in einer erwei­ter­ten Auf­la­ge berück­sich­tigt wer­den kön­nen. „Wenn wir alle an einem Strang zie­hen – die hand­werk­li­che und die ärzt­li­che Ortho­pä­die – dann wird das Kom­pen­di­um lang­fris­tig zum Stan­dard­werk werden.“

Arbeit auf Augenhöhe

Mit Blick auf die gemein­sa­me Zusam­men­ar­beit von Mediziner:innen und Orthopädieschuhmacher:innen hat sich laut OSM Micha­el Vol­kery, Geschäfts­füh­rer Tech­ni­sche Ortho­pä­die Vol­kery, in den ver­gan­ge­nen Jah­ren viel getan. Über Jahr­zehn­te habe sich der Aus­tausch inten­si­viert und nun arbei­te man auf Augen­hö­he und mit gegen­sei­ti­gem Ver­trau­en. „Jetzt ist die gro­ße Kunst aus die­sem Ver­trau­en einen Ver­sor­gungs­al­go­rith­mus zu machen, der auf bei­den Sei­ten gelebt wird“, beton­te Vol­kery. Eine trans­pa­ren­te Ver­sor­gung – am Ende auch ein Gewinn für den Kos­ten­trä­ger. Für den OSM ist das Kom­pen­di­um mit Blick auf die Aus­bil­dung Gold wert, da es Ängs­te nimmt. „Passt die Ver­ord­nung zu dem, was ich vor mir habe? Da sind sich gera­de jün­ge­re Kol­le­gen oft unsi­cher.“ Wel­che Ver­sor­gung die pas­sen­de ist, kön­ne nun mit einem Blick nach­ge­schaut werden.

„Ver­sor­gungs­stan­dard Ein­la­gen“ als Ergänzung

Als einen wich­ti­gen Schritt für die Qua­li­täts­si­che­rung bezeich­ne­te Dr. Annet­te Kerkhoff, Pro­jekt­lei­te­rin des Kom­pe­tenz­zen­trums Ortho­pä­die­schuh­tech­nik (Kom­Zet O.S.T.), das Kom­pen­di­um. Einen Bei­trag dazu soll der „Ver­sor­gungs­stan­dard Ein­la­gen“ leis­ten, den eine Exper­ten­grup­pe um Kerkhoff erar­bei­tet hat. Erst­mals wur­de die­ser im Rah­men der „Ver­sor­gungs­welt Ein­la­gen“ auf der OTWorld 2022 vor­ge­stellt. Bei der Ent­wick­lung sei schnell deut­lich gewor­den: Im Bereich der Pro­zess­schrit­te einer Ein­la­gen­ver­sor­gung gibt es bis­lang kei­nen aktu­el­len ver­öf­fent­lich­ten Stan­dard. Auf­bau­end auf einem Pro­zess von OSM Tho­mas Stief wur­de daher ein sol­cher Stan­dard – mit den drei Haupt­pro­zess­schrit­ten „Daten­er­he­bung und Bera­tung“, „Her­stel­lung der Ver­sor­gung“ sowie „Aus­lie­fe­rung und Ver­sor­gungs­kon­trol­le – ent­wi­ckelt, der auf der OTWorld auf so gro­ßes Inter­es­se stieß, dass dem Exper­ten­team eine Ver­öf­fent­li­chung unum­gäng­lich schien. Den Ver­sor­gungs­stan­dard sieht Kerkhoff als Ergän­zung zum Kom­pen­di­um. Wäh­rend das Werk alle Berei­che der OST und alle am Pro­zess Betei­lig­ten abde­cke, sei der Ver­sor­gungs­stan­dard kom­pak­ter und bezie­he sich ledig­lich auf die Abläu­fe in den Betrie­ben. Das Ziel sei aber das glei­che: die Kom­ple­xi­tät der Ein­la­gen­ver­sor­gung ver­deut­li­chen. Auch wenn die Ver­sor­gungs­kon­trol­le bei den Ärzt:innen lie­ge, sieht Kerkhoff die Not­wen­dig­keit, eben­falls den Techniker:innen das Wis­sen an die Hand zu geben, um vor Ort die Qua­li­tät der Ver­sor­gung ver­bes­sern zu kön­nen. Die rela­tiv ein­fa­che Dar­stel­lung der Pro­zess­schrit­te soll dabei eine Hil­fe sein.

Gemein­sam die Stu­di­en­la­ge verbessern

Ziel der Ver­sor­gungs­welt war es auch, einen Über­blick über die bis­lang dürf­ti­ge Evi­denz­la­ge für ver­schie­de­ne Indi­ka­tio­nen zu lie­fern. „Das The­ma For­schung wird bei uns in der Bran­che eher stief­müt­ter­lich behan­delt“, sag­te Kerkhoff. „Die ortho­pä­die­schuh­tech­ni­sche Ver­sor­gung in Deutsch­land gehört welt­weit zu den qua­li­ta­tiv hoch­wer­tigs­ten. Das zeigt sich aber lei­der nicht in der wis­sen­schaft­li­chen Stu­di­en­la­ge. Das heißt, die meis­ten Stu­di­en im Bereich Ein­la­gen­ver­sor­gung kom­men nicht aus Deutsch­land. Wir wer­den also mit Ergeb­nis­sen kon­fron­tiert, die gar nicht Ein­la­gen auf unse­rem Ver­sor­gungs­stan­dard bewer­ten und dem­entspre­chend die Wirk­sam­keit oder Nicht­wirk­sam­keit von Ein­la­gen bele­gen.“ Laut Kerkhoff ist es not­wen­dig, dass die Bran­che gemein­sam ran­do­mi­sier­te Kon­troll­stu­di­en auf den Weg bringt und dabei Inter­dis­zi­pli­na­ri­tät als Chan­ce sieht, um Wis­sen und Ideen zu bün­deln, und eben­so, dass die Bran­che Daten selbst erhebt. Dafür könn­te bei­spiels­wei­se der „Ver­sor­gungs­stan­dard Ein­la­gen“ genutzt wer­den. Für Kerkhoff wich­ti­ge Schrit­te, bei denen das Kom­pe­tenz­zen­trum tat­kräf­tig unter­stüt­zen möchte.

„Der Ver­trag wur­de aus­ge­setzt und nicht beendet“

Auch Rechts­an­walt Nico Ste­phan, Geschäfts­füh­rer der OT-Innung Sachsen/Thüringen, sieht das Kom­pen­di­um als Berei­che­rung für sei­nen beruf­li­chen All­tag. „Ich fin­de es toll, dass jetzt ein Papier auf dem Tisch ist, an dem man sich auch als Jurist ori­en­tie­ren kann“, beton­te er und bedau­ert, dass das Werk noch nicht vor­lag, als es dar­um ging die Kla­ge gegen das Ver­sor­gungs­kon­zept der Bar­mer Ersatz­kas­se zur Online-Ein­la­gen­ver­sor­gung zu for­mu­lie­ren. Um den Sach­ver­halt bewer­ten zu kön­nen habe Ste­phan sich aus einer Viel­zahl von Gesprä­chen mit Mediziner:innen und Orthopädieschuhmacher:innen müh­sam selbst eine Leit­li­nie für die Ver­sor­gung zusam­men­stel­len müs­sen. Für ihn ist das Kom­pen­di­um „ein wun­der­ba­res Instru­ment“, auf das er bei wei­te­ren Ver­stö­ßen von Kran­ken­kas­sen von nun an zurück­grei­fen könne.

Ste­phan gewähr­te beim Live­talk auch einen Blick auf den aktu­el­len Sach­stand bezüg­lich der Ver­hand­lun­gen zur Online-Ein­la­gen­ver­sor­gung. Ist das The­ma vom Tisch? „Der Ver­trag wur­de aus­ge­setzt und nicht been­det“, ver­nein­te Ste­phan. Meh­re­re Kla­gen von ver­schie­de­nen OT- und OST-Betrie­ben sei­en ein­ge­reicht wor­den und lie­gen mitt­ler­wei­le gebün­delt dem Sozi­al­ge­richt in Ber­lin vor. „Wir wer­den die Ver­hand­lun­gen bis zum Ende füh­ren“, ver­si­cher­te Ste­phan, auch im Fal­le eines nega­ti­ven Urteils. Dann wer­de der Fall in die nächs­te Instanz gebracht. „Wir sind aber guter Din­ge, dass wir mit unse­rer Argu­men­ta­ti­on durchdringen.“

„Der Fuß gehört in die Filia­le und muss ange­schaut wer­den“, so Ste­phan – da konn­ten die Gäs­te nur ein­stim­mig nicken. Das Kom­pen­di­um ver­deut­licht die Not­wen­dig­keit und gibt den Maß­stab vor – zumin­dest den aktu­el­len. Für die Gäs­te steht außer Fra­ge, dass es mehr evi­denz­ba­sier­te Stu­di­en braucht, um den Ver­sor­gungs­pro­zess wei­ter zu ver­bes­sern und das Kom­pen­di­um fort­zu­schrei­ben. Ein Pro­zess, „da muss man sich kei­ne Illu­sio­nen machen“, so Kerkhoff, der lan­ge dau­ern wird. Der Schlüs­sel zum Erfolg – und das lebt sowohl die Arbeit am Kom­pen­di­um als auch die Talk­run­de vor – ist Inter­dis­zi­pli­na­ri­tät, mit einem Aus­tausch auf Augenhöhe.

In vol­ler Län­ge ist der Live-Video­talk auf dem You­tube-Kanal des Ver­lags Ortho­pä­die-Tech­nik zu finden.

Pia Engel­brecht

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