OT: Die MDR wurde von Teilen der Branche mit großen Befürchtungen erwartet – haben sich diese bestätigt?
Tobias Chaumont: Mit der Umsetzung der Pflichten, die sich aus dem Inkrafttreten der EU-Medizinprodukte-Verordnung ergeben, sind deutliche personelle und finanzielle Belastungen verbunden. Die Neuregelung und die damit verbundenen Anforderungen sind so komplex, dass eine Umsetzung im Tagesgeschäft nicht nebenbei zu schaffen ist. Für unser Unternehmen bedeutet die MDR-Umsetzung daher einen mittleren Kostenfaktor. Der Aufwand für die MDR-Umsetzung ist unabhängig von der Mitarbeiterzahl für die Betriebe identisch. Für das Personal und die Kostenstruktur kleinerer Unternehmen ist der Aufwand jedoch in der Relation wesentlich belastender. Insofern haben sich die Befürchtungen in Teilen bestätigt.
Extrapersonal eingestellt
OT: Wie haben Sie sich für die Umsetzung der EU-Medizinprodukte-Verordnung aufgestellt?
Chaumont: Wir haben 2019 einen zusätzlichen Mitarbeiter für die Umsetzung der MDR eingestellt. Sie können sich vorstellen, dass er der „beliebteste“ Mitarbeiter ist (lacht). Denn seine Aufgabe ist es, darauf zu achten, dass alle Anforderungen, die sich aus der MDR ergeben, umgesetzt und im gesamten Haus eingehalten werden. Zusätzlich ist der für das Qualitätsmanagement (QM) zuständige Bereich mit einer halben Planstelle damit beschäftigt, die Umsetzung der MDR-Pflichten mit dem bereits bestehenden Qualitätsmanagement zu synchronisieren.
OT: An welchen Stellschrauben haben Ihre Mitarbeiter vor dem Inkrafttreten im Mai gedreht?
Chaumont: Für die Umsetzung der MDR-Pflichten waren viele Vorarbeiten nötig. So mussten wir zum Beispiel unsere EDV-Anwendung neu denken, um alle MDR-relevanten Parameter, die vom Gesetzgeber gefordert sind, digital abbilden zu können. Zusätzlich war es notwendig, das digitale Ablagesystem und die zugehörigen Prozesse entsprechend anzupassen. So können alle relevanten Dokumente jederzeit fallbezogen direkt gefunden werden. Für die Rückverfolgung der Produkte musste unser Warenwirtschaftssystem entsprechend angepasst werden.
OT: Sind Ihre Dokumentationen der einzelnen Versorgungen komplett digital?
Chaumont: Unsere Versorger:innen sind mit mobilen Geräten ausgestattet, in die sie direkt während des Versorgungsprozesses alle für die Versorgung erforderlichen Daten erheben können. Die MDR-relevanten Punkte haben wir hier in den Prozess mitintegriert. Das ist natürlich eine Mehrbelastung, über die unsere Mitarbeiter:innen durchaus stöhnen. Vorteil: Die versorgungsrelevanten Informationen sind somit sowohl für den administrativen als auch für den Produktionsprozess systemisch direkt greifbar. Oberstes Ziel ist es, keine Papierdokumente zwischen unseren Standorten zu bewegen.
Produkte weiterhin lieferbar
OT: Im Vorfeld der MDR-Einführung wurde unter anderem befürchtet, dass etliche Produkte aus dem Sortiment genommen werden, weil es sich für die Hersteller nicht lohnt, diese zertifizieren zu lassen. Oder dass einzelne Hersteller sogar ganz den Betrieb einstellen. Haben Sie dergleichen beobachtet?
Chaumont: Bisher ist uns kein derartiger Fall unter unseren Lieferanten bekannt. Es gibt kein einziges Produkt in unserem Sortiment, das aufgrund der Neuregelungen nicht mehr geliefert wird. Wir haben eine sehr klar auf Qualität ausgelegte Sortimentspolitik. Alle unsere Lieferanten agieren sehr sorgfältig und sind bestrebt, die neuen Pflichten zu erfüllen. Klar fehlt an der einen oder anderen Stelle noch eine Kennzeichnung nach MDR-Vorgaben. Hier beobachten unsere Mitarbeiter:innen aus dem Bereich QM und MDR unter Berücksichtigung der Übergangsfristen die Einhaltung.
OT: Gibt es andere negative Auswirkungen der MDR-Umsetzung?
Chaumont: Tatsächlich ist die Kennzeichnungspflicht mit Rückverfolgbarkeit pro Verpackungseinheit eine Herausforderung. Nehmen Sie ein Produkt wie Katheter. Diese werden in größeren Verpackungseinheiten eingekauft. Darin ist jeder Katheter einzeln steril verpackt. Sofern vom Hersteller nicht freigegeben, dürfen diese Produkte nicht vereinzelt in Verkehr gebracht werden. Wenn der Patient zwei Katheter verschrieben bekommt, dürfen wir nach dem aktuellen Stand die restlichen Katheter in der Verpackungseinheit nicht mehr in den Verkauf bringen.
Kein Unterschied spürbar für Kund:innen
OT: Hat die MDR positive Veränderungen für Ihren Betriebsalltag gebracht?
Chaumont: Ein klares Nein. Wir haben in unserem Haus von jeher klar definierte hohe Versorgungsstandards gesetzt – angefangen bei der Beratung bis zur Umsetzung der Versorgung. Für unsere Kund:innen ist aus meiner Sicht kein Unterschied spürbar, mit oder ohne MDR.
OT: Ziel erreicht – oder wie beurteilen Sie nach einem halben Jahr die Ergebnisse der MDR für die Sicherheit der Patient:innen?
Chaumont: Für unsere Bereiche Sanitätshaus, Orthopädie-Technik, Orthopädie-Schuhtechnik und Reha-Technik beobachte ich heute keine tatsächliche Verbesserung der Sicherheit von Patient:innen. Das bis dato geltende Medizinproduktegesetz war aus meiner Sicht völlig ausreichend, um Qualitätsversorgungen innerhalb der Branche in Deutschland abzusichern. Bei der MDR stimmen die Relationen der Pflichten nicht mit dem zu erwartenden Nutzen überein. Speziell für Produkte mit sehr geringer Risikobehaftung sind diese zu hoch aufgehangen.
OT: Erwarten Sie juristische Auseinandersetzungen zur MDR-Konformität?
Chaumont: Das wird die Zeit zeigen. Momentan zeichnet sich keine juristische Auseinandersetzung mit Behörden ab. Allerdings hatten wir wie unsere Kolleg:innen nach meinem Kenntnisstand in Deutschland noch keine Prüfung zur MDR.
Unterstützung und Austausch – Fortsetzung folgt
OT: War die Unterstützung für die Umsetzung der MDR vom Bundesinnungsverband für Orthopädie-Technik (BIV-OT) ausreichend?
Chaumont: Wir haben uns durch den BIV-OT gut unterstützt gefühlt. Die Begleitung bei der Erstellung der Leitfäden für Hersteller und Händler war sehr hilfreich. Die erarbeiteten und bereitgestellten Risikoanalysen, die Vorlagen für MDR-konforme Gebrauchsanweisungen oder die Mastermatrix für Klinische Bewertungen sind für jedes Haus individuell nutzbar. Gerade das Thema Klinische Bewertung ist für einen Betrieb allein nicht zu stemmen. Wobei unser MDR-Mitarbeiter auch Mitglied in der Arbeitsgruppe MDR der DGIHV ist. Hierbei waren Branchenverbände, wie der BIV-OT, um nur einen zu nennen, maßgeblich beteiligt. Durch unseren MDR-Beauftragten bei Rahm können wir unsere Erkenntnisse und Erfahrungen wieder zurück in die Runde geben. Somit wird der hilfreiche Austausch fortgesetzt, denn der Prozess der Umsetzung ist aus meiner Sicht noch nicht abgeschlossen.
OT: Was muss für die reibungslose MDR-Umsetzung noch geklärt werden?
Chaumont: Da fallen mir gleich zwei wichtige Punkte ein. Die Europäische Datenbank für Medizinprodukte (EUDAMED) enthält noch immer nicht alle nötigen Funktionalitäten. Wann Themen wie die nachgelagerte Marktüberwachung funktionieren sollen, ist derzeit ebenfalls offen. Darüber hinaus sollten an einigen Stellen Anpassungen an der MDR angedacht werden. Zum Beispiel sollte der oben geschilderte Ablauf bei Vereinzelungen von Verpackungseinheiten überarbeitet werden.
OT: Wenn es juristische Feen gäbe, welchen Wunsch würden Sie äußern?
Chaumont: Die Rückkehr zu einem sinnvollen Maß, analog zum bisher geltenden Medizinproduktegesetz, stünde für mich als Mitglied der Geschäftsführung bei Rahm Zentrum für Gesundheit an erster Stelle. Die immer weiter ausufernde Bürokratie darf hier noch einmal hinterfragt werden. Da das Gesetz aber nun Gültigkeit hat, müssen wir – wie alle unsere Kolleg:innen – dieses möglichst funktional umsetzen.
Die Fragen stellte Ruth Justen.
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