OTWorld 2022: Robo­ter für mehr Autonomie

Wie profitiert die Prothetik von Robotik und maschineller Intelligenz? Antworten darauf liefert Prof. Dr.-Ing. Sami Haddadin, Inhaber des Lehrstuhls für Robotik und Systemintelligenz und Direktor des Munich Institute of Robotics and Machine Intelligence (MIRMI) an der Technischen Universität München, in seiner Keynote auf der OTWorld 2022. Im OT-Gespräch verrät er erste Details.

OT: Herr Pro­fes­sor Had­da­din, was erwar­tet das Publi­kum Ihrer Key­note „Intel­li­gen­tes Steu­ern und Ler­nen in der Pro­the­tik“ auf der OTWorld 2022?

Sami Had­da­din: Ich möch­te Denk­an­stö­ße geben, wie wir die Fort­schrit­te in der Robo­tik und der maschi­nel­len Intel­li­genz in die Pro­the­tik brin­gen kön­nen. Wie pro­fi­tiert die Pro­the­tik von einer ganz neu­en Prä­zi­si­on der Sen­sor­in­te­gra­ti­on? Wel­che neu­en Para­dig­men gibt es dafür? Wie kom­men wir zu einer bes­se­ren Sym­bio­se aus Mensch und Maschi­ne, zu funk­tio­nie­ren­den Brain-Machi­ne-Inter­faces, um die Neu­ro­pro­the­tik (Ent­wick­lung elek­tro­ni­scher Implan­ta­te, um geschä­dig­te Ner­ven­funk­tio­nen wie­der­her­zu­stel­len, Anm. d. Red.) zu ver­bes­sern – und das im gesell­schaft­li­chen Kon­sens? Wie ent­steht ein syn­er­gis­ti­sches Sys­tem, bei dem der Mensch nicht ein­fach nur ein wei­te­res Werk­zeug nutzt, son­dern das Werk­zeug Teil des Men­schen wird?

Para­dig­men­wech­sel im Gange

OT: Was bedeu­tet das für die Pro­the­tik der Zukunft?

Had­da­din: Letzt­lich ist das der Kreis­schluss zu einem uralten Wunsch, den mensch­li­chen Kör­per in sei­ner Funk­ti­ons­wei­se zu ver­ste­hen. Wir wol­len aus die­sem Wis­sen her­aus mathe­ma­ti­sche Algo­rith­men ent­wi­ckeln und letzt­lich neue Tech­no­lo­gien ablei­ten. Tech­no­lo­gien, die bei­spiels­wei­se die Fle­xi­bi­li­tät des mensch­li­chen Hand­ge­lenks errei­chen. Oder künst­li­che Mus­keln, die an die mensch­li­che Per­for­mance her­an­kom­men. Wir arbei­ten mit den Metho­den des maschi­nel­len Ler­nens bzw. der maschi­nel­len Intel­li­genz dar­an, dass zum Bei­spiel eine Pro­the­se eine vor­aus­schau­en­de mensch­li­che Erwei­te­rung des Kör­pers ist – so wie ja Bei­ne oder Arme genau­so wenig nur mecha­nisch funk­tio­nie­ren, son­dern dafür kom­ple­xe adap­ti­ve Pro­zes­se ablau­fen. Die noch rela­tiv mecha­nis­ti­sche Sicht­wei­se der Pro­the­tik, die bis in die Anti­ke zurück­reicht, ist auf dem Weg zu intel­li­gen­ten Sys­te­men. Das ist ein Para­dig­men­wech­sel, der erst in den letz­ten Jah­ren mög­lich gewor­den ist.

OT: Wie weit ist die For­schung auf dem Weg zu die­sem Paradigmenwechsel?

Had­da­din: Den ers­ten per Neu­ro­in­ter­face gehirn­ge­steu­er­ten Robo­ter welt­weit gibt es bereits – mit 19 Frei­heits­gra­den, die nur mit Kraft der Gedan­ken abge­ru­fen wer­den. An der Ent­wick­lung war unter ande­rem die Brown Uni­ver­si­tät betei­ligt. In mei­ner Key­note wer­de ich Bei­spie­le aus der For­schung geben und – tech­no­lo­gisch unter­füt­tert – einen Blick in die Zukunft wer­fen. Bis zur Anwen­dung in indus­tri­el­len Pro­duk­ten ist es noch ein lan­ger Weg. Es han­delt sich bis­lang noch um einen sehr klei­nen Indus­trie­zweig. Die Robo­tik hat sich in den letz­ten Jah­ren zu einem stark soft­ware­ge­trie­be­nen Fach ver­än­dert. Für die Pro­the­tik ist die Ent­wick­lung ins­ge­samt ein Gewinn. So las­sen sich auf Basis von Algo­rith­men neu­ar­ti­ge Stu­di­en durch­füh­ren, die Daten von bio­me­cha­ni­schen Sen­so­ren bzw. EMG-Mess­sys­te­men (EMG = Elek­tro­m­yo­gra­fie, Unter­su­chung der Mus­kel­ak­ti­vi­tät, Anm. d. Red.) ana­ly­sie­ren.

Assis­tenz­sys­te­me für Men­schen mit Behinderung

OT: Sie sind Grün­der und Gesell­schaf­ter des Robo­ter­her­stel­lers Fran­ka Emi­ka. Das Unter­neh­men hat sich unter ande­rem am Pro­jekt Robi­na – „Robo­ti­sche Sys­te­me zur Unter­stüt­zung hoch­gra­dig moto­risch ein­ge­schränk­ter Pfle­ge­be­dürf­ti­ger“ – betei­ligt, das vom Bun­des­mi­nis­te­ri­um für Bil­dung und For­schung (BMBF) geför­dert wur­de. Wel­che Mög­lich­kei­ten bie­ten der­ar­ti­ge Assistenzsysteme?

Had­da­din: Das Robi­na-Pro­jekt wur­de sehr kon­kret für den Markt ent­wi­ckelt. Dabei lag der Schwer­punkt auf Inter­faces bzw. Schnitt­stel­len und Steue­run­gen für Assis­tenz­sys­te­me, die bei Men­schen mit Bewe­gungs­stö­run­gen, mit Amyo­tro­pher Late­ral­skle­ro­se (ALS) oder auch Tetra­ple­gie zum Ein­satz kom­men. Das Robi­na-Pro­jekt hat wich­ti­ge Impul­se für die Mensch-Maschi­ne-Inter­ak­ti­on gebracht. Zu den Fra­ge­stel­lun­gen gehör­te, wie man mit mini­ma­len Mög­lich­kei­ten per Steue­rung durch Augen­be­we­gun­gen ein Sys­tem markt­fä­hig umsetzt, das zunächst eine Auto­no­mie bei ein­fa­chen Din­gen her­stellt – wie bei­spiels­wei­se, sich bei Juck­reiz selbst zu krat­zen. Die Haupt­er­kennt­nis von Robi­na ist: Die Metho­den der maschi­nel­len Intel­li­genz und der Rege­lungs­tech­nik kön­nen in Pro­the­tik und Hilfs­mit­teln ein­ge­setzt wer­den. Nicht als Fern­ziel, son­dern schon umsetz­bar. Betrof­fe­ne, Pfle­ge­kräf­te, Mediziner:innen wur­den bei Robi­na mit ihren Ideen und Argu­men­ten von Beginn an ein­be­zo­gen. Ein sol­cher Dis­kus­si­ons­pro­zess ändert das Den­ken aller Betei­lig­ten. Ein wei­te­res Ergeb­nis die­ser Art von frucht­ba­rem Dia­log ist ein neu­ar­ti­ges intel­li­gen­tes Reha­bett der Fir­ma Reac­ti­ve Robo­tics, das auf Basis von Algo­rith­men der Künst­li­chen Intel­li­genz funktioniert.

OT: Wie geht es weiter?

Had­da­din: Jetzt geht es dar­um, viel kom­ple­xe­re Fähig­kei­ten für den All­tags­ge­brauch wei­ter­zu­ent­wi­ckeln und den Robo­tern noch mehr Fer­tig­kei­ten zu geben. Hier ist als Ein­satz­ge­biet eben­so die Ger­ia­tro­nik zu nen­nen, also Robo­ter­as­sis­ten­zen für die Betreu­ung im Alter, für ein selbst­be­stimm­tes Leben. Ein span­nen­des Feld. So ist Tech­no­lo­gie-Pio­nier und Tes­la-Grün­der Elon Musk eben­falls in die Ent­wick­lung von All­tags-Assis­tenz­sys­te­men ein­ge­stie­gen. (Elon Musk stell­te im Som­mer die­ses Jah­res das Kon­zept eines men­schen­ähn­li­chen Assis­tenz­sys­tems namens Tes­la­Bot vor, 2022 soll ein Pro­to­typ an den Start gehen; zudem gehört Musk zu den Grün­dern der US-Fir­ma Neu­r­a­link, die an einem Brain-Machi­ne-Inter­face arbei­tet, Anm. d. Red.)

Zei­gen, was geht

OT: Wie soll eine brei­te Akzep­tanz von Mensch-Maschi­ne-Sys­te­men erreicht wer­den – zumal es nicht weni­ge Ängs­te im Zusam­men­hang mit Robo­tern und Künst­li­cher Intel­li­genz (KI) gibt?

Had­da­din: Auch durch Skep­sis lernt man. Wir müs­sen zei­gen, was geht, wel­che Chan­cen sich bie­ten. Dabei soll­ten wir Sci­ence-Fic­tion nicht mit der Rea­li­tät ver­wech­seln. Ich schü­re kei­ne Ängs­te, son­dern will Poten­zia­le auf­zei­gen und ver­schie­de­ne Inter­es­sen­grup­pen und deren Know­how ein­be­zie­hen. Dabei spre­che ich lie­ber von maschi­nel­ler Intel­li­genz statt KI, denn es han­delt sich nicht um eine Tech­no­lo­gie, die Men­schen ersetzt. Unse­re Arbeit muss evi­denz­ba­siert sein und den Men­schen nut­zen – sie müs­sen Teil des Ent­wick­lungs­pro­zes­ses sein. Nur dann wer­den kom­ple­xe Robo­ter­sys­te­me akzep­tiert. Wir haben die Wahl, wo die Rei­se hin­geht. In den letz­ten 12, 13 Jah­ren haben wir inten­siv dar­an gear­bei­tet, damit Assis­tenz­sys­te­me mehr Fähig­kei­ten bekom­men. Dar­aus ent­stand die Idee der intel­li­gen­ten Neu­ro­pro­the­se, bei der Algo­rith­men ein­ge­setzt wer­den, um Auto­no­mie zu geben. Ein Ersatz­teil, das zum Teil des Kör­pers wird – aber gesteu­ert durch und für den Men­schen. Wir wol­len den Durch­bruch errei­chen, damit künf­ti­ge Pro­the­sen­ge­ne­ra­tio­nen mehr als ein „schwer­fäl­li­ger Haken“ sind. Wir wol­len die smar­te Lern­fä­hig­keit und die moto­ri­sche Kon­trol­le des Men­schen in Algo­rith­men gie­ßen und dafür sor­gen, dass sich die Tech­no­lo­gie per­fekt an den Kör­per anschmiegt und sich mit ihm bewegt.

Mut gefragt

OT: Wann erwar­ten Sie den Durch­bruch, von dem alle pro­fi­tie­ren können?

Had­da­din: Die Indus­trie muss viel mehr Fahrt auf­neh­men, da sehe ich Bedarf. Es han­delt sich nicht um einen nied­rig­schwel­li­gen Markt. Doch wer das Heft nicht in der Hand behält und selbst ent­wi­ckelt, wird irgend­wann mit einer Tech­no­lo­gie kon­fron­tiert, die von ande­ren bestimmt wird. Wenn man die Din­ge falsch angeht und ein­fach nur abwar­tet, wohnt die­ser Tech­no­lo­gie ein dis­rup­ti­ver Cha­rak­ter inne, der bis­he­ri­ge Mecha­nis­men umwälzt und neue Play­er ins Spiel bringt. Was mich posi­tiv stimmt: Inzwi­schen sind wir weg vom „ob“ und befas­sen uns nun damit, „wie“ wir Robo­tik und maschi­nel­le Intel­li­genz ein­set­zen. Mut ist gefragt, damit wir eine Tech­nik schaf­fen, die unse­re Mög­lich­kei­ten erwei­tert – nicht zuletzt in der Orthopädie-Technik.

Die Fra­gen stell­te Cath­rin Günzel.

Sami Had­da­din: Auf dem Weg zum intel­li­gen­ten Roboter
Prof. Dr.-Ing. Sami Had­da­din ist Elek­tro­in­ge­nieur, Infor­ma­ti­ker und Unter­neh­mer. Er ist Grün­dungs­di­rek­tor des Munich Insti­tu­te of Robo­tics and Machi­ne Intel­li­gence (MIRMI, ehe­mals MSRM) an der Tech­ni­schen Uni­ver­si­tät Mün­chen (TUM) sowie Inha­ber des Lehr­stuhls für Robo­tik und Sys­tem­in­tel­li­genz. Er forscht in den Berei­chen Robo­tik, embo­di­ed AI (embo­di­ed arti­fi­ci­al intel­li­gence = ver­kör­per­te künst­li­che Intel­li­genz, eine neue­re Strö­mung der KI-For­schung), kol­lek­ti­ve Intel­li­genz und Mensch-Robo­ter-Inter­ak­ti­on. Sei­ne Robo­ter­ent­wick­lun­gen rei­chen von unbe­mann­ten Luft­fahr­zeug­sys­te­men (UAVs) bis zu huma­no­iden Robo­tern, intel­li­gen­ter Pro­the­tik und Exo­ske­let­ten. So wirk­te er am Deut­schen Zen­trum für Luft- und Raum­fahrt (DLR) maß­geb­lich an der Ent­wick­lung der Leicht­bau­ro­bo­ter­tech­no­lo­gie mit, die im Tech­no­lo­gie­trans­fer zum Kuka LBR iiwa wur­de – dem Leicht­bau-Cobot des Unter­neh­mens Kuka. Zudem war er Gast­wis­sen­schaft­ler an der Stan­ford Uni­ver­si­ty (USA), erhielt Rufe aus Stan­ford und dem Mas­sa­chu­setts Insti­tu­te of Tech­no­lo­gy (MIT). Had­da­din ver­öf­fent­lich­te mehr als 200 wis­sen­schaft­li­che Arti­kel in inter­na­tio­na­len Jour­na­len und infol­ge von Kon­fe­ren­zen, vie­le davon preis­ge­krönt. Sei­ne wis­sen­schaft­li­chen Arbei­ten wur­den viel­fach aus­ge­zeich­net, dar­un­ter mit dem Geor­ge Giralt PhD Award (2012), dem RSS Ear­ly Care­er Spot­light (2015), dem IEEE/RAS Ear­ly Care­er Award (2015), dem Alfried-Krupp-För­der­preis für jun­ge Hoch­schul­leh­rer (2015) sowie dem Leib­niz­preis (2019). Er ist Grün­der und Gesell­schaf­ter der Fran­ka Emi­ka GmbH, deren lern­fä­hi­ger Leicht­bau­ro­bo­ter „Pan­da“ 2017 mit dem Deut­schen Zukunfts­preis für Tech­nik und Inno­va­ti­on aus­ge­zeich­net wur­de. Der Robo­ter schaff­te es zudem auf die Titel­sei­ten des Time-Maga­zins („Best Inven­ti­ons of 2018“) und des Natio­nal Geo­gra­phic („Meet the Robots“). Had­da­dins Algo­rith­men wer­den bei­spiels­wei­se in Droh­nen von Sky­dio Inc. oder dem intel­li­gen­ten Reha-Robo­ter von Reac­ti­ve Robo­tics ange­wen­det. Had­da­din ist Mit­glied der Natio­na­len Aka­de­mie der Wis­sen­schaf­ten Leo­pol­di­na, der Deut­schen Aka­de­mie der Tech­nik­wis­sen­schaf­ten (aca­tech) und der EU High-Level Expert Group on Arti­fi­ci­al Intel­li­gence. Außer­dem ist er Vor­sit­zen­der des Baye­ri­schen KI-Rats. 
Robo­tik-Mei­len­stein: Der tak­ti­le Roboter
Prof. Sami Had­da­din hält mehr als 30 Paten­te – dar­un­ter ist der „Tak­ti­le Robo­ter“, der zur Samm­lung der „Mei­len­stei­ne Made in Ger­ma­ny“ (Deut­sches Patent- und Mar­ken­amt DPMA) zählt und damit zu den wich­tigs­ten Leis­tun­gen in der deut­schen Tech­nik­ge­schich­te. 2015 mel­de­te er den Mei­len­stein mit dem Titel „Vor­rich­tung und Ver­fah­ren zur Steue­rung und Rege­lung eines Robo­ter-Mani­pu­la­tors“ zum Patent an (Patent­schrift DE 10 2015 102 642 B4). Dahin­ter steht ein neu­er Ansatz für die moto­ri­sche Kon­trol­le eines Robo­ters, der eine bis zu die­sem Zeit­punkt bei die­sen Maschi­nen nicht erreich­ba­re Sen­si­ti­vi­tät, Nach­gie­big­keit und Sicher­heit bzw. Prä­zi­si­on bei der Aus­übung von Kraft ermög­lich­te. Robo­ter mit Tast­sinn sozu­sa­gen – ein gewal­ti­ger Technologiesprung. 

 

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