Einleitung
Es gibt viele gute Gründe, Kinder mit einer frühkindlichen Hirnschädigung in eine vertikale Körperposition zu bringen. Für diesen Zweck bietet der Hilfsmittelmarkt verschiedene Lösungen an. Für das ausschließliche Stehen gibt es diverse Bauch- und Rückenstehgeräte, auch in begrenzt dynamischer Ausführung. Diese Stehgeräte eignen sich besonders gut in Einrichtungen wie z. B. Kindergärten und Schulen, denn mit ihnen können Kinder Aspekte des Alltags wie Lernen oder Spielen auch im Stehen erleben. Diese Stehständer sind angesichts ihrer Schwere und Robustheit zwar sicher gegen Umkippen, selbst wenn andere spielende Kinder daran rütteln oder dagegenstoßen. Doch der Vorteil des stabilen Stehens wird dann zum Nachteil, wenn das Stehgerät in verschiedenen Situationen eingesetzt werden soll. Denn Stehgeräte sind schwer und sperrig und daher nur umständlich zu transportieren. Zudem verfügen sie nicht über die Option des freien Stehens im Raum. Dazu ist eine individuelle, nach Gipsabdruck hergestellte Stehorthese wie z. B. eine Hirschfeld-Orthese besser geeignet. Solche Orthesen sind aber wegen des Wachstums der jungen Patienten und aufgrund der damit verbundenen Volumenzunahme mit hohen Kosten für Neuanfertigungen verbunden. Darüber hinaus ist die Nutzungsdauer auf die Therapiezeiten beschränkt, was sich ebenfalls negativ auf den Kosten-Nutzen-Faktor auswirkt.
Vor diesem Hintergrund entstand die Idee zur SiL-Orthese (SiL ist ein Akronym für „Standing is Living“). Anfangs lautete das Ziel, ein Hilfsmittel zu entwickeln, das in der Wirkung mit einer Hirschfeld-Orthese vergleichbar, dabei jedoch modular und mitwachsend ist. Doch schnell kam seitens der Eltern betroffener Kinder der Wunsch auf, ein Modul zu konzipieren, das dem Kind die Möglichkeit vermittelt, sich am sozialen Leben zu beteiligen, ohne ständig von jemanden beaufsichtigt zu werden, der das Umfallen des Kindes verhindert. Dieses Anliegen gab den Ausschlag für die Erfindung und Entwicklung des sogenannten Dynamikmoduls.
Technische Ausführung
Bei der SiL-Orthese handelt es sich um eine Schienen- und Schellenkonstruktion. Sowohl für den Rumpfbereich als auch für die Beine gibt es verschieden große Schellen. Die Aluminiumschienen bestehen aus einem Aluminiumprofil, in das verschiebbare Muttern integriert werden können. Die Schellen sind durch das Lösen von Schrauben auf dem Aluminiumprofil der Schiene horizontal verschiebbar. Jede Schelle hat Schlitze, die durch Lösen der Schrauben auch in der Breite und im Winkel verstellbar sind. Fußseitig ist eine mehrteilige Fußschale aus Aluminium vorgesehen, mit der der Neigungswinkel von 0° bis ca. 5°
Vorneigung stufenlos eingestellt werden kann. Durch die Verstellbarkeit der Fußplatten kann eine Vorneigung des Körpers erreicht werden (Abb. 1). Dadurch wird eine aktive Aufrichtung des Rumpfes gefördert. Gleichzeitig kann die Auflagefläche der Fußplatte individuell an den eingestellten Abduktionswinkel angepasst werden (Abb. 2). Gelenkkontraktionen können durch spezielle Adapter an der Hauptschiene berücksichtigt, ggf. auch korrigiert werden. Die Abduktion der Hüfte kann mittels eines Rastengelenks individuell an die jeweilige Hüftsituation angepasst und fixiert werden (Abb. 3). Das Beckenteil besteht aus zwei Aluminiumprofilen, um eine Verdrehung im Rumpfteil zu verhindern und einen besseren Anschluss an die Hüftgelenke zu gewährleisten.
Nach dem Einstellen der Schellenbreite wird jede Schelle mit einem mitgelieferten 1 cm dicken Streifen Polstermaterial gefüttert. Das Polstermaterial wird auf die richtige Länge gebracht und mit Mikro-Klettpads an der Schelle fixiert. Die Begurtung besteht aus einem 50 mm breiten Textilband, an dessen einem Ende der mitgelieferte „Fidlock“-Verschluss (Abb. 4)montiert wird. Das andere Ende wird durch einen Schlitz an der Schelle gefädelt und anschließend auf die gewünschte Länge abgeschnitten. Zur Befestigung dient dabei ein „Back-to-Back“-Mikro-Klettpad, das zwischen Gurt und Gurtende geklebt wird. Mit dieser Technik können die Verschlüsse auch bei unruhigen Kindern problemlos und ohne lästiges Einfädeln geschlossen werden. Per „Back-to-Back“-Mikro-Klettpad können die Verschlüsse an verschiedene Volumenveränderungen (z. B. dickere Kleidung) angepasst werden. Bei Kindern, die zu einer reaktiven, spontanen Hyperextension der Halswirbelsäule neigen, kann die SiL-Orthese mit einer Rückenverlängerung und einer Kopfstütze ausgestattet werden (Abb. 5), um Verletzungen und Überdehnungen zu vermeiden. Beim Einsatz eines Dynamikmoduls wird an eine der Rumpfschellen – jeweils links und rechts – ein Ring montiert, an den später die Karabinerhaken des Moduls eingehakt werden.
Technische Ausführung des Dynamikmoduls
Das sogenannte Dynamikmodul wurde als Zusatz für die neue Orthese entwickelt und soll deren Einsatzbereich erweitern. Beim Dynamikmodul handelt es sich um eine 18 mm starke mehrschichtige Holzplatte, an die vier ausziehbare Stützen montiert sind. Durch das Ausziehen der Stützen kann die Standsicherheit des Grundmoduls deutlich vergrößert und so an die jeweilige dynamische Anforderung des Kindes angepasst werden. Jede der Stützen ist mit einer feststellbaren Rolle ausgestattet, um eine Positionsveränderung des Kindes im Raum zu erleichtern. Durch das einseitige Einfahren der Stützen ist es möglich, mit dem Dynamikmodul sehr eng an nicht unterfahrbare Möbelstücke (z. B. eine Küchenzeile, ein Klavier etc.) heranzufahren (Abb. 6). Die Auflage der Fußplatten ist mit einem Aluminiumrahmen gegen Wegrutschen gesichert. Auch dieser ist in Längsrichtung verstellbar, damit das Kind noch näher an Möbelstücke herangelangen kann. Der Dynamikfaktor des Moduls wird insbesondere durch die beiden folgenden Aspekte beeinflusst:
- durch eine elastische Unterlage in verschiedenen Shorehärten, die zwischen Holzmodul und Fußplatte eingelegt werden können;
- durch elastische Gummibänder, mit denen die SiL-Orthese am Modul befestigt wird.
Die Stärke der Elastizität wird durch die Länge der Gummibänder beeinflusst. Eine Feinjustierung kann durch Verstellen der Befestigungsringe an den Stützen erreicht werden. Optional kann das Dynamikmodul noch mit einer Therapie- und Spielplattform ausgestattet werden. Dies erweitert nochmals das Einsatzgebiet und die Möglichkeiten der sozialen Teilhabe des Kindes (Abb. 7).
Einsatzgebiet und Wirkung
Die neue Stehorthese eignet sich in der Anwendung für alle Kinder mit Infantiler Zerebralparese (ICP), die in eine aufrechte Position gebracht werden sollen. Schon in den 90er Jahren machte sich die Ärztin und Wissenschaftlerin Helga Hirschfeld von der Abteilung für Physiotherapie des Karolinska-Instituts (führende medizinische Forschungseinrichtung in Schweden) für eine frühe aufrechte Körperhaltung als wichtiges Therapieziel stark. Durch entsprechende Tagungsvorträge verbreitete sich diese Idee auch in Deutschland.
Ziel der Haltungskontrolle per SiL-Orthese ist es, den Körperschwerpunkt über die Unterstützungsfläche zu bewegen, das Gleichgewicht zu halten und damit die nötige Stabilität zu bekommen, um gezielte Bewegungen zu gewährleisten. Bewegungen im Zusammenhang mit Spielen, Ergo- und Physiotherapie, Basteln etc. sollten täglich in zwei bis drei Therapieeinheiten à 30 Minuten ohne Dynamikmodul durchgeführt werden. Dies führt zu einer Aktivierung der Rumpfmuskulatur und damit einhergehend zu einer Verbesserung der Kopfkontrolle. Dabei ist es wichtig, den Kopf in der Vertikalen zu halten und dem Kind auf diese Weise die Möglichkeit zu vermitteln, die Augenachse horizontal einzustellen.
Das Stehen führt auch zu einem besseren Knochenaufbau und unterstützt zusätzlich den Stoffwechsel. Außerdem kommt es dadurch zur Verbesserung der Atem- und Kreislaufaktivität sowie zu einer Anregung der Verdauung. Ein weiterer wichtiger Grund ist die soziale Teilhabe, die durch eine stehende Position verbessert wird. Dafür reichen mitunter schon leichte Veränderungen der Position im Raum und die Möglichkeit, sich an die jeweilige Situation anzupassen. Diese Optionen können mit dem Dynamikmodul einfach erreicht werden.
Im Unterschied zur oben erwähnten Stehorthese nach Hirschfeld bietet die neue Orthese einige Vorteile: — Aufgrund der Modularbauweise ist sie mit wenig Aufwand an Größen- und Volumenveränderungen der Kinder anzupassen. — Die Orthese wird ohne Gipsabdruck gefertigt und ist deshalb schnell verfügbar. — Nötige Stellungsveränderungen durch eine Operation oder Gelenkkontraktionen sind sofort nachjustierbar. — Mit dem zusätzlichen Dynamikmodul kann die neue Orthese daher auch außerhalb der oben beschriebenen Therapiezeiten n angewendet werden.
Verwendung als Lagerungsorthese
Eine häufige Komplikation bei Kindern mit ICP ist eine Luxation der Hüftgelenke, die operiert werden muss. Der Beckengips, der nach einer Operation angelegt wird, ist zwar effektiv und bei Orthopäden anerkannt, aber sowohl bei Patienten als auch beim Pflegepersonal unbeliebt: Das Anlegen ist komplex und verlangt viel Zeit. Je nach Operateur muss die Hüftewenige Tage, teilweise aber auch bis zu mehreren Wochen in einer Abduktionsstellung gehalten werden. In der Praxis wird dies entweder mit einem Lagerungsgips, einer nach Gipsabdruck hergestellten Hüftlagerungsorthese oder einem gefrästen Lagerungssystem erreicht. Demgegenüber bietet die neue Orthese deutliche Vorteile im Bereich der Hygiene und auch der schnellen Verfügbarkeit der Versorgung: Anstatt einen aufwendigen Lagerungsgips anzufertigen oder einen Gipsabdruck unter Narkose durchzuführen, ist es möglich, eine vormontierte SiL-Orthese anzulegen (Abb. 8). Der Hüftabduktionswinkel kann dann durch den Operateur individuell mittels eines Inbusschlüssels eingestellt werden. Vorteile gegenüber bisherigen Versorgungen:
- deutlich geringere Narkosedauer
- Wegfall eines aufwendigen und belastenden Gipsabdrucks
- schnelle Verfügbarkeit der Versorgung durch Vormontage
- individuelle und veränderbare Verstellung der Hüftabduktion
- Kostenersparnis durch Weiterverwendbarkeit
Vorteile der Modularbauweise
- Bei diesem modularen System kann auf einen für das Kind und die Angehörigen anstrengenden Gipsabdruck verzichtet werden. Das ist weniger personal- und zeitintensiv als ein Gipsabdruck, für den bis zu vier Mitarbeiter benötigt werden. Ein Mitarbeiter kann Maß nehmen und die passenden Teile über das ausgefüllte Maßblatt sofort bestellen.
- Eine Veränderung bezüglich Längenwachstum und Volumenzunahme ist durch eine einfache Verstellung der Schienen und Schellen der neuen Orthese mehrmals möglich. Bei größeren Veränderungen kann die Orthese durch den Tausch einzelner Bauteile und zusätzlicher Schellen schnell neu angepasst werden. Auch hier ist die schnelle weitere Verfügbarkeit der Orthese gewährleistet.
- Das System bietet die Möglichkeit, ärztliche und/oder therapeutische Veränderungen der Fußstellung sowie der Hüftabduktion dauerhaft oder für einen bestimmten Zeitraum (postoperativ) vorzunehmen.
Fazit
Die neuentwickelte SiL-Orthese ist ein multifunktionales Hilfsmittel, das sich variabel an die jeweils geforderten Aufgaben anpassen lässt. Sie kann als reine Stehorthese oder als Lagerungsorthese benutzt werden. Durch die zusätzliche Verwendung des Dynamikmoduls entsteht daraus zudem ein Therapiegerät, das die familiäre Integration des Kindes verbessert und gleichzeitig den Gleichgewichtssinn fördert. Es ist leicht zu transportieren und kann deshalb auch im Urlaub oder bei externen Tagespflegeeltern eingesetzt werden. Die einfache Handhabung beim An- und Ausziehen und die flexible Einsetzbarkeit mit nur einem Hilfsmittel entsprechen den Forderungen der Eltern betroffener Kinder.
Redaktioneller Hinweis: Die hier vorgestellte Stehorthese wurde 2019 mit einem der Hauptpreise des Artur Fischer Erfinderpreises ausgezeichnet. Ein Bericht über den Preisträger ist in der August-Ausgabe 2019 der ORTHOPÄDIE TECHNIK abgedruckt.
Der Autor:
Martin Pfrommer
SES Schulung – Entwicklung – Sonderbau im Bereich Orthopädietechnik
Schulbrunnenstraße 37,
74357 Bönnigheim
info@ses-ot.de
Begutachteter Beitrag/reviewed paper
Pfrommer M. Modular und dynamisch: eine Neuentwicklung im Bereich Stehtherapie. Orthopädie Technik. 2020; 71 (1): 38–41
- Kinder mit Trisomie 21: Einsatz der Ganganalyse zur adäquaten Schuh- und Orthesenversorgung — 5. November 2024
- Rehabilitation aus orthopädietechnischer und physiotherapeutischer Sicht – Osseointegration und Schaftprothesen der unteren Extremität im Vergleich — 5. November 2024
- Belastungsprofile von knochenverankerten Oberschenkelimplantaten verbunden mit modernen Prothesenpassteilen — 5. November 2024