Was haben Ortho­pä­die-Tech­ni­ker und Arzt in der Beglei­tung orthe­ti­scher Sko­lio­se­be­hand­lun­gen zu beach­ten? – Abnah­me­kri­te­ri­en und Kontrollen

R. Hilker
Die Behandlung adoleszenter idiopathischer Skoliosen (AIS) mit modernen Skoliosekorrektur-Orthesen setzt nicht nur beim Orthopädie-Techniker, sondern auch beim behandelnden Facharzt ein großes Maß an Sachkenntnis voraus. In der interdisziplinären Sprechstunde mit dem Patienten und im Beisein der Eltern lässt sich feststellen, ob das Skoliose-Korsett seine Aufgaben erfüllt, ob es (noch) passgerecht ist oder ob eine Änderung in Form von Aufpolsterungen oder thermoplastischen Umformungen notwendig ist. Denn eine adäquate Passform ist die Grundvoraussetzung für die Erfüllung der umfangreichen Aufgabenstellungen von Skoliose-Orthesen. Im Folgenden werden die wichtigsten vom Behandlungsteam zu beachtenden Kontrollparameter erörtert.

Ein­lei­tung

Die Wirk­sam­keit von Sko­lio­se-Orthe­sen wird in den jüngs­ten Stu­di­en aus dem Jahr 2013 nach­ge­wie­sen, wobei hier der genaue­re Orthe­sen­typ nicht wei­ter spe­zi­fi­ziert wird 1 2.

Anzei­ge

Als Stan­dard hat sich in Deutsch­land in den letz­ten Jahr­zehn­ten die drei­di­men­sio­na­le Kor­rek­tur­tech­nik nach Chê­neau und Rigo mit dem mitt­ler­wei­le nach bei­den Medi­zi­nern benann­ten Kor­sett durch­ge­setzt (Abb. 1). Sie ist zu einem wirk­sa­men The­ra­pie­kon­zept wei­ter­ent­wi­ckelt wor­den 3. Die­ses hat fol­gen­de Kri­te­ri­en zu erfüllen:

  • Ver­hin­de­rung der Pro­gre­di­enz, mög­lichst eine Ver­bes­se­rung der Verkrümmungswerte;
  • dero­tie­ren­de Wirkung;
  • lot­rech­ter Stand des Patienten;
  • Ver­hin­de­rung einer wei­te­ren Aus­bil­dung des Flach­rü­ckens („flat back”);
  • Pati­en­ten­com­pli­ance;
  • Tra­ge­kom­fort für den Pati­en­ten (gerin­ges Gewicht, leich­te Hand­ha­bung, geeig­ne­te Luft­zir­ku­la­ti­on, kei­ne Druck- bzw. Scheuerstellen);
  • in Wachs­tums­pha­sen soll die Orthe­se mög­lichst lan­ge pass­ge­recht sein.

Kor­rek­te Beur­tei­lung einer Skoliose

Unab­ding­bar bei der Anfer­ti­gung und Kon­trol­le einer Sko­lio­se-Orthe­se ist die exak­te Beach­tung der indi­vi­du­el­len (kypho-)skoliotischen Krüm­mungs­mus­ter. Funk­tio­nell wer­den die­se Defor­mie­run­gen der Wir­bel­säu­le als 3- und 4‑bogige Sko­lio­sen bezeich­net („three cur­ve scoliosis”/„four cur­ve sco­lio­sis”) und auch so behan­delt (Abb. 2a u. b, 3). Die­se Bezeichnung(en) zäh­len die jewei­li­ge Gegen­krüm­mung mit (4 S. 17).

Aus­gangs­punkt für die kor­rek­te Beur­tei­lung einer Sko­lio­se ist eine Ganz­wir­bel­säu­len­auf­nah­me (GWS) im Rönt­gen. Mitt­ler­wei­le hat sich an unse­rer Kli­nik eine Auf­nah­me in ­p.-a.-Richtung eta­bliert, um bei Mäd­chen die Ova­ri­en durch Abde­ckung des Os ili­um zu schüt­zen (Abb. 4). Anhand der GWS kann der Fach­mann die wich­ti­gen Para­me­ter wie die Lot­ab­wei­chung, das Aus­maß der Sko­lio­se, eine even­tu­ell vor­han­de­ne und unbe­dingt zu beach­ten­de Bein­ver­kür­zung und das Risser-Sta­di­um beurteilen.

Eben­so ist, zumin­dest zu Beginn der orthe­ti­schen Ver­sor­gung, eine Beur­tei­lung des sagit­ta­len Pro­fils im Rönt­gen erfor­der­lich. Eine alter­na­ti­ve Ras­ter­ste­reo­gra­fie ist nach Ansicht des Autors im Kor­sett­bau dage­gen wenig hilf­reich, auch wenn sie dem Arzt im wei­te­ren Behand­lungs­ver­lauf Aus­sa­gen über einen Pro­gre­di­enz­aus­schluss lie­fern kann (Abb. 5).

Pass­form­kon­trol­le beim Korsett

Um im Behand­lungs­team eine Sko­lio­se-Orthe­se auf kor­rek­ten Sitz und größt­mög­li­che Effek­ti­vi­tät über­prü­fen zu kön­nen, müs­sen den Ver­ant­wort­li­chen die im Fol­gen­den ange­führ­ten Para­me­ter zur Beur­tei­lung eines Kor­setts geläu­fig sein.

Dem sko­lio­ti­schen Krüm­mungs­mus­ter fol­gend ist der hoch­tho­ra­ka­le Gegen­halt des Kor­setts von gro­ßer Bedeu­tung. Bei der Pass­form­kon­trol­le ist das Augen­merk auf eine aus­ge­prägt hohe Ach­sel­an­la­ge und einen damit eng ver­bun­de­nen late­ra­len Gegen­halt zu richten.

Bei einem neu­en Kor­sett soll­te ein kon­trol­lie­ren­der Zei­ge­fin­ger nur unter deut­li­chen Ein­klem­mungs­er­schei­nun­gen zwi­schen cra­nia­lem Kor­sett­rand und nicht abdu­zier­tem Arm unter die Ach­sel pas­sen (Abb. 6a u. b). Je mehr Fin­ger sich im wei­te­ren Behand­lungs­ver­lauf ein­le­gen las­sen, umso grö­ßer ist (bei einem pass­ge­recht gebau­ten Kor­sett) das absol­vier­te Län­gen­wachs­tum im Rumpf. Damit ist ein Kri­te­ri­um für eine Neu­an­fer­ti­gung gegeben.

Ein wei­te­res Kri­te­ri­um ist die Zunah­me der Spi­nen­wei­te, die eben­so eine Neu­an­fer­ti­gung des Kor­setts not­wen­dig macht. Hier­bei kommt es häu­fig zu Tra­ge­pro­ble­men wäh­rend des Wachstums.

Bei den mit den Druck­zo­nen kor­re­spon­die­ren­den Expan­si­ons­räu­men kann man mit einem prü­fen­den Fin­ger ein aus­rei­chen­des Volu­men tes­ten (Abb. 7a u. b). Hier soll­te bei kräf­ti­gem Ein­at­men genü­gend Frei­raum fest­stell­bar sein. Die­ser Umstand har­mo­niert aller­dings oft nicht mit dem kos­me­ti­schen Anspruch der Patientinnen.

Die Pati­en­ten­com­pli­ance ist bei einem zu hef­tig aus­ge­beul­ten Kor­sett deut­lich schlech­ter. Das kann letzt­lich dazu füh­ren, dass Pati­en­ten die Orthe­se nicht tra­gen. Bei einer Erst­ver­sor­gung ist es für den Ortho­pä­die-Tech­ni­ker häu­fig schwie­rig ein­zu­schät­zen, um wie viel sich eine Sko­lio­se auf­rich­tet; dem­entspre­chend muss ein gewis­ser Abstand zwi­schen Kör­per­ober­flä­che und Kor­sett ein­ge­hal­ten wer­den, der anfäng­lich manch­mal zu etwas zu gro­ßen Expan­si­ons­räu­men mit dem geschil­der­ten Neben­ef­fekt füh­ren kann.

Lage und Funk­ti­ons­rich­tung der Druck­zo­nen sind das wich­tigs­te Kri­te­ri­um für ein opti­mal kor­ri­gie­ren­des Kor­sett. Die­se müs­sen auch noch nach der Auf­rich­tung in der Orthe­se auf der rich­ti­gen Höhe lie­gen. Eine visu­el­le Über­prü­fung mit einem Der­mo­gra­phie­test ist nur bedingt aus­sa­ge­fä­hig. Hier­bei wird die Haut gegen­über den Druck­zo­nen durch die Öff­nun­gen in den Expan­si­ons­räu­men durch leich­tes Krat­zen mar­kiert, um die­se Mar­kie­run­gen dann nach Abnah­me des Kor­setts mit den sich auf der Haut abzeich­nen­den Druck­zo­nen in der Höhe zu ver­glei­chen (5 S. 45). Aus­sa­ge­kräf­ti­ger ist aller­dings immer ein Rönt­gen­bild mit einer vor­he­ri­gen Mar­kie­rung der Druck­zo­nen im Kor­sett mit Blu­men­draht, Büro­klam­mern oder ähn­li­chen Mar­kern (Abb. 8).

Um die im tho­ra­ka­len Bereich dero­tie­ren­de Wir­kung zu beur­tei­len, soll­te man mit dem Fin­ger den Frei­raum des Tho­rax unter der rech­ten Brust im Kor­sett bei maxi­ma­ler Inspi­ra­ti­on über­prü­fen. Hier­bei darf es zu kei­ner Ein­engung des Pati­en­ten kom­men, damit das vol­le Maß an Atem­be­we­gung in den Frei­raum genutzt wer­den kann. Aus die­ser Funk­ti­ons­be­we­gung lei­tet sich unter ande­rem der Begriff „teil­ak­ti­ves Dero­ta­ti­ons­kor­sett” her, sie­he Abbil­dung 9a u. b.

Bedeut­sam­keit der Spontanaufrichtung

Ein wei­te­res wich­ti­ges Kri­te­ri­um für eine wirk­sa­me Orthe­sen­ver­sor­gung ist nach wie vor die Beur­tei­lung der Spon­tan­auf­rich­tung im Kor­sett, die je nach Lite­ra­tur bei ca. 30 % der Ver­krüm­mung lie­gen soll­te 6 7 8. Dies steht aller­dings im Wider­spruch zur eben­falls gefor­der­ten Pro­gre­di­enz­ver­hin­de­rung, die in man­chen Fäl­len schon als Behand­lungs­er­folg gese­hen wird und zumin­dest zum Ende der kon­ser­va­ti­ven Behand­lung als End­ergeb­nis in Aus­sicht gestellt wird.

Grund­sätz­lich steht für den Autor die Com­pli­ance des Pati­en­ten in der orthe­ti­schen The­ra­pie im Vor­der­grund. Das dog­ma­ti­sche Fest­hal­ten an 30-pro­zen­ti­gen Ver­bes­se­run­gen der ursprüng­li­chen Ver­krüm­mungs­win­kel kann für den Pati­en­ten schnell zum trä­nen­rei­chen Ende der The­ra­pie füh­ren. Ange­sichts der zahl­rei­chen Para­me­ter ist der Erfolg oft nicht vor­ab fest­zu­le­gen und damit gera­de bei der ers­ten Kor­sett­kon­trol­le auch nicht einforderbar.

Ein Indi­ka­tor für eine gut kor­ri­gie­ren­de Orthe­se ist die unmit­tel­ba­re Kon­trol­le der Kör­per­grö­ße unter dem Län­gen­mess­stab ohne und mit ange­zo­ge­nem Kor­sett. So ist auch ohne Rönt­gen­bild eine Spon­tan­kor­rek­tur nach­weis­bar, wenn die Kör­per­grö­ße in einem funk­ti­ons­ge­rech­ten Kor­sett um 1 bis 1,5 cm zunimmt (Abb. 10).

Die Kon­trol­le des lot­rech­ten Stan­des vor und nach der Ver­sor­gung mit einer Orthe­se ist von gro­ßer Bedeu­tung und kann pro­blem­los und schnell mit einem dyna­mi­schen Laser­lot durch­ge­führt wer­den. Eine even­tu­ell vor­han­de­ne Bein­län­gen­dif­fe­renz spielt immer eine wich­ti­ge Rol­le bei der Behand­lung einer Sko­lio­se. Eine durch­gän­gi­ge Ver­laufs­dar­stel­lung der Pri­mär- und Sekun­där­krüm­mun­gen kann dem Team und dem Pati­en­ten einen Erfolg der The­ra­pie deut­lich machen. Dies kann für alle Betei­lig­ten ein wich­ti­ger Moti­va­tor sein.

Das Team ist wichtig

Eine sach­ge­rech­te Beglei­tung der orthe­ti­schen Ver­sor­gung liegt nicht nur in der Ver­ant­wor­tung des behan­deln­den Arz­tes und des Ortho­pä­die-Tech­ni­kers, son­dern auch in der des Phy­sio­the­ra­peu­ten, der Eltern und der beglei­ten­den Päd­ago­gen. Am häu­figs­ten wird das Kind von sei­nen Eltern und vom Phy­sio­the­ra­peu­ten gese­hen. Des Wei­te­ren folgt zu Beginn der orthe­ti­schen Behand­lung nach weni­gen Wochen und dann in grö­ßer wer­den­den Zeit­ab­stän­den eine Über­prü­fung der Orthe­se durch den Ortho­pä­die-Tech­ni­ker. Die ärzt­li­che Kon­trol­le erfolgt meis­tens halb­jähr­lich und damit im größ­ten Zeitfenster.

Von allen Betei­lig­ten ist ein gro­ßes Maß an Sach­kennt­nis gefor­dert, um dem jun­gen Pati­en­ten hilf­reich zur Sei­te zu ste­hen und damit für eine wirk­sa­me und pass­ge­rech­te Orthe­se zu sorgen.

Fazit

Eine adäquat wir­ken­de Sko­lio­se-Orthe­se setzt nicht nur gro­ße Erfah­rung beim Ortho­pä­die-Tech­ni­ker vor­aus, son­dern auch beim ver­ord­nen­den und kon­trol­lie­ren­dem Ärz­te­team, das über Lage und Funk­ti­on der ein­zel­nen Druck­zo­nen unter Beach­tung des sko­lio­ti­schen Krüm­mungs­mus­ters infor­miert sein muss.

Eine erfolg­rei­che Behand­lung einer ado­les­zen­ten idio­pa­thi­schen Sko­lio­se ist nur mit einer indi­vi­du­ell gefer­tig­ten und mög­lichst lan­ge opti­mal pas­sen­den Orthe­se erfolg­reich und kann kei­nes­falls von einer Fer­tig­or­the­se geleis­tet wer­den. Lage und Wir­kung der Druck­zo­nen und die mit ihnen kor­re­spon­die­ren­den Frei­räu­me sind von größ­ter Bedeu­tung und müs­sen vom Behand­lungs­team unter den oben geschil­der­ten Para­me­tern beur­teilt wer­den können.

Um Rönt­gen­auf­nah­men wegen der erhöh­ten Strah­len­be­las­tung für Sko­lio­ti­ker so weit wie mög­lich zu redu­zie­ren, wur­den Aspek­te einer schnel­len, unkom­pli­zier­ten Wir­kungs­kon­trol­le einer Sko­lio­se-Orthe­se auf­ge­zeigt. Mit allen Betei­lig­ten soll­ten rea­lis­ti­sche Ver­sor­gungs­zie­le ver­ein­bart wer­den, um eine größt­mög­li­che Com­pli­ance statt The­ra­pie­frus­tra­ti­on zu erreichen.

Der Autor:
Rai­ner Hil­ker, Orthopädietechniker-Meister
c/o Ortho­pä­die­tech­nik Bau­che GmbH
Am Kie­bitz­berg 10
23730 Neu­stadt
r.hilker@ot-bauche.de

Begut­ach­te­ter Beitrag/Reviewed paper

Zita­ti­on
Hil­ker R. Was haben Ortho­pä­die-Tech­ni­ker und Arzt in der Beglei­tung orthe­ti­scher Sko­lio­se­be­hand­lun­gen zu beach­ten? – Abnah­me­kri­te­ri­en und Kon­trol­len. Ortho­pä­die Tech­nik, 2014; 65 (4): 56–59
  1. Wein­stein SL, Dolan LA, Wright JG, Dobbs MB. Effects of bra­cing in ado­le­s­cents with idio­pa­thic sco­lio­sis. N Engl J Med, 2013; 369 (16): 1512–1521. doi: 10.1056/NEJ-Moa1307337. Epub 2013 Sep 19 (Zugriff am 22.12.2013)
  2. Sko­lio­se: Stu­die bestä­tigt Nut­zen von Orthe­sen. www.aerzteblatt.de/nachrichten/55911/Skoliose-Studie, Zugriff am 06.11.2013
  3. Weiß HR. Die Kor­sett­ver­sor­gung bei Sko­lio­se im Wachs­tums­al­ter. Ortho­pä­die Tech­nik, 2012; 63 (1): 46–51
  4. Weiß HR, Rigo M, Chê­neau J, Werk­mann M, Hei­nen H‑J. Pra­xis der Chê­neau-Kor­sett­ver­sor­gung in der Sko­lio­se­the­ra­pie, Stutt­gart: Thie­me, 2000: 17
  5. Weiß HR, Rigo M, Chê­neau J, Werk­mann M, Hei­nen H‑J. Pra­xis der Chê­neau-Kor­sett­ver­sor­gung in der Sko­lio­se­the­ra­pie, Stutt­gart: Thie­me, 2000: 17
  6. Matus­sek J, Mel­le­ro­wicz H, Klöck­ner C, Sau­er­landt B, Nahr K, Neff G. Zwei- und drei­di­men­sio­na­le Kor­rek­tur von Sko­lio­sen durch Kor­sett­be­hand­lung. Der Ortho­pä­de, 2000; 29: 490–499
  7. Chê­neau J, Bove­let K. Das Chê­neau-Kor­sett: ein Hand­buch. Behand­lung der Sko­lio­se bei übli­cher Indi­ka­ti­on der Orthe­se. Dort­mund: Ver­lag Ortho­pä­die Tech­nik, 1993
  8. Peter­sen D, John H. Die Orthe­sen für den Rumpf. Stutt­gart: Thie­me, 1984: 168
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