Ursachen der spastischen Fußheberparese
Ein Schlaganfall, traumatische Hirnverletzungen, Multiple Sklerose (MS) und Rückenmarksverletzungen vor Umschaltung auf das zweite Motoneuron (SCI) können zu einer spastischen Fußheberparese führen. Gemeinsam haben diese Erkrankungen, dass sie aufgrund der Läsion des ersten Motoneurons – im Unterschied zu schlaffen peripheren Paresen bei Läsion des zweiten Motoneurons – eine spastische Fußheberparese verursachen können. Nach Literaturangaben sind etwa 20 % der Schlaganfallpatienten von einer spastischen Fußheberparese betroffen 1.
Manifestationsformen der spastischen Fußheberparese
Eine spastische Fußheberparese führt zu einer funktionellen Beeinträchtigung des Gangbildes und schränkt den Betroffenen umfassend in den Aktivitäten seines täglichen Lebens ein 2. Eine Kombination aus der Schwäche der Dorsalextensoren (überwiegend M. tibialis anterior) des Fußes und einer Spastik der Plantarflexoren (Mm. gastro-cnemius et soleus) fixiert den Fuß in einer pathologischen plantarflektierten Position. Eine begleitende Schwäche der Peronealmuskulatur bei gleichzeitiger Spastik der Invertoren (M. tibialis posterior) des Fußes führt zu einer pathologischen Mehrbelastung der lateralen Fußaußenkante im Gangzyklus 3.
Die fehlende oder insuffiziente Dorsalextension während der Schwungbeinphase ist ursächlich für eine erhöhte Sturz- und Verletzungsgefahr des Betroffenen 4. Zudem führen ein initialer Vorfußbodenkontakt und eine eingeschränkte Vorwärtsbewegung der Tibia gegenüber dem Sprunggelenk mit daraus resultierender Hyperextension des Knies zu einer insgesamt eingeschränkten Progression des Körpers beim Gehen. Kompensatorisch beginnen zahlreiche Betroffene, in der Schwungbeinphase über eine Hyperflexion der Hüfte und des Knies den Körper voranzubringen. Dieser Gang wird als „Stepper-Gang“ bezeichnet. Andere versuchen, die schleifende, herabhängende Fußspitze durch eine Zirkumduktion der Hüfte beim Gehen anzuheben 5. Die oben genannte kompensatorische muskuläre Mehrarbeit führt zu einem ermüdenden und unsicheren Gangbild 67.
Unbehandelt mündet die Fußheberparese durch muskuläre Inaktivität der Dorsalextensoren und ‑evertoren in eine sogenannte Spitzfußkontraktur. Neben Schmerzen der Hüft- und Kniegelenke aufgrund der zuvor genannten unphysiologischen Kompensationsbewegungen sind Krallenzehen und funktionelle Instabilitäten des Sprunggelenks weitere Manifestationen des heterogenen klinischen Bildes der spastischen Fußheberparese, die zu Schmerzen, Gangunsicherheit und Druckulcera führen 8. Sensibilitätsstörungen unterhalten Druckulcera und beeinträchtigen zudem die Balance vermittelnde Propriozeption.
Angesichts der Heterogenität der spastischen Fußheberparese wurde an der Universitätsmedizin Göttingen eine interdisziplinäre Neuroprothetik-Sprechstunde etabliert. Neurologen, Chirurgen und Orthopädie-Techniker versorgen multimodal dieses herausfordernde Funktionsdefizit. Ziele der Versorgung sind:
- Wiederherstellung einer ausreichenden Fußhebung
- Wiederherstellung einer ausreichenden Fußstabilität
- Korrektur (knöcherner und) weichteilig fixierter Deformitäten
Im Folgenden werden die Möglichkeiten der Behandlung einer spastischen Fußheberparese dargestellt.
Orthesen
Das Spektrum der modernen Orthesenversorgung ist sehr vielfältig und reicht je nach Schwere der Lähmung und Ausmaß der Spastik von speziell geführten elastischen Bandagen über vorkonfektionierte Unterschenkelorthesen bis hin zu individuellen Versorgungen mit kompensierenden und korrigierenden Konstruktionsmerkmalen 910. Um das individuell adäquate Hilfsmittel zu planen, bedarf es einer ausführlichen klinischen Untersuchung. Denn einerseits ist die Ausprägung des spastischen Fallfußes sehr unterschiedlich, andererseits prägt der Fallfuß dominierend das Gangbild. Der Fallfuß ist aber häufig nur eine Komponente des Krankheitsbildes, in dem auch andere Muskeln des Beines betroffen sein können 11121314. Grundlegend muss daher differenziert werden, ob es sich um einen Fallfuß oder bereits um einen kontrakten Spitzfuß handelt.
Das dauerhafte motorische Defizit des Fallfußes kann kompensiert werden, indem der Fuß passiv in entsprechender Dorsalextension gehalten wird. Bei einem Spitzfuß besteht das Hauptziel der Versorgung in der Kompensation der Höhendifferenz des Fersen-Boden-Abstands, wobei dann gleichermaßen die Beinlängendifferenz des kontralateralen Beines berücksichtigt werden muss.
Bei ausgeprägter Spastik ist es erforderlich, die pathologische Supinationsstellung des Fußes mit einer zirkulären Fußfassung und einer individuell gestalteten Fußbettung zu korrigieren. Insbesondere hier können Hautirritationen und Druckulzerationen durch die Orthese zu Sekundärkomplikationen führen, sodass die Passformkontrolle besondere Aufmerksamkeit benötigt. Mit sensomotorischen Elementen kann Einfluss auf den Tonus der Wadenmuskultur genommen werden. Die Orthesenkonstruktion mit dem individuell zu justierenden Aufbau sollte sowohl beim spastischen Fallfuß als auch beim spastischen Spitzfuß eine physiologische Bewegung und Kniebelastung anstreben. Neben der Wiederherstellung des initialen Fersenkontaktes bestehen die herausfordernden Parameter im Erreichen einer physiologischen initialen Knieflexion in der „Loading Response“ und in der Verhinderung der Hyperextension oder ‑flexion des Kniegelenkes in der terminalen Standphase.
Zusammengefasst bietet die moderne orthetische Versorgung eine nichtinvasive und zuverlässige Option, die dem Betroffenen ein hohes Maß an Gangsicherheit zurückgeben kann. Insbesondere für ältere Patienten stellen Stürze aufgrund ihrer Begleiterkrankungen und Begleitmedikationen große Gefahren für Frakturen (Osteoporose) und Blutungen (orale Blutverdünner) dar.
Funktionelle Elektrostimulation (FES) (transkutane und implantierbare Systeme)
Funktionelle Elektrostimulation (FES) ist eine Methode, die elektrischen Strom zur Aktivierung geschwächter oder gelähmter Muskeln und Nerven benutzt. Durch transkutane oder direkte Nervenstimulation wird bei der spastischen Fußheberparese der N. peroneus stimuliert. Die von ihm versorgte Muskulatur kontrahiert und hebt den Fuß an. Eine Wiederherstellung der Fußhebung des spastischen Fallfußes durch peroneale FES wurde initial von Liberson et al. 1961 15 beschrieben. In Studien konnten positive Effekte von FES durch aktive Muskelkontraktion im Vergleich zur passiven, rein mechanischen Stabilität des Sprunggelenks durch eine Orthese gezeigt werden. So wird durch FES u. a. die Durchblutung des Beins verbessert (Muskelpumpe), und der afferente Input zeigte positiven Einfluss auf die Propriozeption und Spastizität der Antagonisten 1617.
Transkutane FES-Systeme
Transkutane Systeme 181920 verwenden Oberflächenelektroden, die über den N. peroneus und ventral im Bereich des M. tibialis anterior auf die Haut geklebt werden, um die Fußhebemuskulatur zu aktivieren. Ein Sensor erfasst den Zeitpunkt, wann das Bein von der Standphase in die Schwungphase übergeht und eine Stimulation der Dorsalextensoren zur Fußhebung benötigt. Aktuell verfügbare Systeme verwenden einen Kraftsensor 2122, der in den Schuh des Patienten gelegt wird, um zu bestimmen, wann die Schwungphase beginnt. Ein weiteres System nutzt einen Bein-Neigungssensor, der am Knie positioniert ist, um die Phasen des Gangzyklus über hinterlegte Algorithmen zu erkennen 23. Transkutane Systeme verwenden überwiegend kabellose Datenübertragung. Zur Elektrodenpositionierung werden Manschetten benutzt, die komfortabel um den Unterschenkel gelegt werden können. Der Therapeut oder Orthopädie-Techniker positioniert eine Elektrode über dem Ursprung des M. tibialis anterior und eine zweite proximal des Fibulaköpfchens im Bereich des oberflächlichen Verlaufs des N. peroneus. Nachdem die Platzierung optimiert ist und die Stimulationsparameter angepasst sind (Intensität, Frequenz etc.), werden die Elektroden in der Manschette fixiert, sodass die Patienten die Elektroden nicht täglich neu anpassen müssen, wenn sie das Gerät anziehen.
(Teil-)Implantierbare Systeme
(Teil-)Implantierbare sogenannte Hybridsysteme stellen eine weitere auf FES basierende Option zur Wiederherstellung der Fußhebung dar. Der Stimulator besteht aus einem Empfangsmodul, das subkutan im lateralen Oberschenkel des betroffenen Beins implantiert und über ein Kabel mit einer 4‑Kanal-Manschettenelektrode verbunden ist. Diese Manschettenelektrode („Cuff-Elektrode“) umschließt druckfrei den N. peroneus medial der Bizepssehne. Die Konstruktion der 4‑Kanal-Manschettenelektrode ermöglicht eine direkte und selektive Stimulation peronealer Nervenanteile. Fersenabhub und Fersenkontakt werden durch einen externen Fersenschalter registriert, der telemetrisch Signale an die Steuereinheit sendet. Diese etwa eigroße Steuereinheit wird am Gürtel getragen. Hier werden die Signale des Fersenschalters empfangen und ein adäquates Stimulationsmuster errechnet. Die Übertragung der Gangphaseninformation wie auch der Energie von der Steuereinheit an die Empfangseinheit des implantierten Stimulators erfolgt telemetrisch 24.
Effekte FES-basierter Systeme
Kottink et al. 2004 25 verglichen in einem Review den Einfluss transkutaner und implantierbarer FES-basierter Systeme auf Parameter wie Geschwindigkeit, Ausdauer und weitere Gangparameter. Die Gehgeschwindigkeit verbessere sich durch FES-basierte Systeme bei Stimulation um 14 bis 104 %, so die Forscher. Verglichen wurde in diesen Studien „System an“ gegenüber „System aus“ und gegenüber der vorherigen konventionellen orthetischen Versorgung.
Eine Studie untersuchte die Auswirkung eines implantierbaren Systems auf obengenannte Parameter. Innerhalb dieser Studie wurde die Gehgeschwindigkeit um 25 % („System an“ gegenüber „System aus“) gesteigert 26. Dieser Effekt hat nach der Klassifikation von Perry 27 klinische Relevanz. Auch die Ausdauer (6‑Minuten-Gehtest) verbesserte sich (211 vs. 260 m, „System an“ gegenüber „System aus“) 28.
Merletti 29 zeigte, dass eine auf FES basierende Wiederherstellung der Fußhebung nachhaltig unphysiologische Kompensationsbewegungen von Knie und Hüfte reduziert. Dies führt zu mehr Energieeffizienz, wie der reduzierte Physical Cost Index in den Studien zeigte (39.5 bzw. 29.4 % bei „System an“) 3031. In der obengenannten Studie konnten biomechanische Ganganalyse-Daten zeigen, dass das FES-basierte implantierbare System 12 Wochen postoperativ nahezu physiologische Bodenaufsatzwinkel (113° vs. 122° „System an“ vs. „System aus“) und eine initiale Plantarflexion (7° vs. 0° „System an“ vs. „System aus“) wiederherstellte 32.
Transkutanes vs. implantierbares System
Implantierbare Systeme haben unter Abwägung des perioperativen Risikos ihre Vorteile vor allem im Handling. Zudem führen sie aufgrund der direkten Nervenstimulation zu keinen Hautirritationen oder sensiblen Missempfindungen im Vergleich zur transkutanen Stimulation 33. Cuff-Elektroden oder 2‑Kanal-Systeme implantierbarer Systeme ermöglichen eine selektive Stimulation peronealer Anteile für Dorsalextension und Eversion des Fußes 34. Transkutane Systeme sind insgesamt störanfälliger; vor allem die Elektrodenpositionierung erfordert eine Präzision, die häufig durch eine funktionelle Einhändigkeit aufgrund einer begleitenden hemiparetischen Hand nicht erfüllbar ist. Haugland et al. zeigten einen heterogenen Effekt des transkutanen FE-basierten Stimulators auf die Gehgeschwindigkeit im Vergleich zur konstant verbesserten Gehgeschwindigkeit des implantierbaren Systems 35.
Grenzen FES-basierter Systeme
Patienten mit unzureichender Kognition, Motivation und Restgehfähigkeit eignen sich erfahrungsgemäß nicht für ein FES-basiertes System. Insgesamt konnte bisher keine Studie eine eindeutige Überlegenheit eines aktiven FES-basierten Systems zeigen 36. Dies liegt entgegen der klinischen Erfahrung unter anderem an der immer noch nicht flächendeckenden Ausbildung von Therapeuten, Orthopädie-Technikern, Ärzten und dem damit verbundenen limitierten Zugang Betroffener zu diesen Systemen. Die Studienzahlen sind häufig klein, und Kostenerstattungssysteme fehlen.
Zusammengefasst profitieren vor allem solche Patienten von FES-basierten Systemen, deren mediolaterale Instabilität durch Elektrostimulation korrigierbar ist. Akribisches Screening führt zu einer Erfolgsrate in der Versorgung mit Hilfe FES-basierter Systeme von 94 % 37. In der Ambulanz der Autoren identifiziert ein interdisziplinäres Screening einen vergleichbaren Anteil von ca. 10 % aller spastischen Fußheberparesen, die sich initial für ein FESbasiertes System eignen. Die häufigsten Kontraindikationen sind ein nicht ausreichendes Restgehvermögen und ein fehlender initialer Fersenkontakt, der essentiell für einen zuverlässig auslösenden Fersenschalter ist. Botoxinjektionen der spastischen Antagonisten und additive chirurgische Eingriffe erhöhen die Anzahl FES-geeigneter Patienten durch Wiederherstellung des initialen Fersenkontaktes in der Standbeinphase.
Botox
Spastik ist eine unwillkürliche motorische Aktivität, die bei Läsionen des ersten Motoneurons auftritt. Sie sei die Summe einer ungeordneten sensomotorischen Kontrolle, die aus einer Läsion des ersten Motoneurons resultiere und sich als intermittierende oder dauerhafte unfreiwillige Aktivierung der Muskeln darstelle, so Burridge 38. Spastik der Sprunggelenks-/Fußflexoren ist somit neben Muskelschwäche der Sprunggelenks- und Fußextensoren und fehlender Balance (u. a. durch gestörte Propriozeption) ein weiteres die Gangsicherheit einschränkendes Symptom bei Läsionen des ersten Motoneurons. Ein etabliertes Verfahren in der Behandlung der spastischen Fußheberparese mit entsprechendem Kostenerstattungssystem ist die Injektion von Botulinumtoxin A in den M. gastrocnemius, den M. soleus und/oder den M. tibialis posterior 394041.
Botulinumtoxin (BTX) ist ein Protein, das in sieben Serotypen existiert und von dem Bakterium Clostridium botulinum produziert wird. Der primäre Mechanismus von BTX besteht da-rin, die Freisetzung von Acetylcholin an der präsynaptischen Membran zu verhindern, wodurch die neuromuskuläre Übertragung unterbrochen und eine gezielte Muskelschwäche induziert wird 42. Die fokale Muskelschwäche des injizierten Muskels beginnt innerhalb von 2 bis 3 Tagen nach der Injektion; die volle Wirkung entfaltet sich typischerweise nach etwa 4 bis 6 Wochen und hält ca. 3 Monate an 43. Es wird von wenigen Therapieversagern (keine Reaktion auf BTX durch Antikörperbildung) berichtet – bei einem insgesamt sehr geringen Nebenwirkungsprofil oder unerwünschten Arzneimittelwirkungen 44.
In der neurologischen Praxis sind BTX-Injektionen zur wirksamen Behandlung von Spastiken durch Reduktion des antagonistischen Muskeltonus und die daraus resultierende Verbesserung des passiven Bewegungsausmaßes etabliert 45. Funktionelle Gangvorteile ergeben sich darüber hinaus aus sekundärer unbehinderter tibialer Progression, verbesserter Haltung, verringertem Risiko für Druckstellen und Reduktion von Schmerzen 46. Durch diese „passive“ Funktionsverbesserung kann Botox synergistisch mit orthetischen Versorgungen (Reduktion spastischer Kontrakturen, weniger Druckstellen) FES-basierter Therapieregime wirken 4748.
Schlussfolgerung
Die Manifestationsformen der spastischen Fußheberparese sind ebenso heterogen wie deren Ätiologie und Demografie. Eine erfolgreiche Wiederherstellung der Fußhebung erfordert ein interdisziplinäres Behandlungskonzept, um den funktionellen und persönlichen Bedürfnissen des Betroffenen zu entsprechen. Vorrangiges Ziel ist die Wiederherstellung des initialen Fersenkontaktes, die Stärkung der anterioren tibialen Unterschenkelmuskulatur und die Reduktion des spastischen Wadenmuskultonus. Die orthetischen, Botox- und FES-basierten Therapiemöglichkeiten sollten nicht isoliert, sondern synergistisch eingesetzt werden (siehe dazu die Übersicht in Abbildung 1).
Für die Autoren:
Dr. med. Jennifer Ernst
Universitätsmedizin Göttingen
Klinik für Unfallchirurgie,
Orthopädie und Plastische Chirurgie,
Schwerpunkt Plastische Chirurgie
Robert-Koch-Str. 40
37075 Göttingen
jennifer.ernst@med.uni-goettingen.de
Begutachteter Beitrag/reviewed paper
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