Einleitung
Die Sitzposition eines Rollstuhlfahrers bestimmt die Sicherheit, die Aktivitätsmöglichkeiten, den Aktionsradius und letztendlich die Gesundheit in ganz entscheidendem Maße. Mögen die zu beeinflussenden Maße und Parameter auch relativ begrenzt erscheinen, so kann eine nur 2 cm zu hohe Rückenhöhe – oder ein 3° zu steiler Rückenwinkel – ein entspanntes, aufrechtes Sitzen für den einzelnen Rollstuhlbenutzer unmöglich machen. Das Erarbeiten einer stabilen und gesunden Sitzposition wird dadurch erschwert, dass die unterschiedlichen Einstellungen des Rollstuhls für das ungeübte Auge oft kaum zu erkennen sind. Selbst ein Fachmann erkennt die Gründe für eine schlechte Sitzposition oft nicht durch bloßes Betrachten des Rollstuhlfahrers. Vielmehr sind eine gründliche Anamnese und ein Dialog mit ihm erforderlich, um die Gründe für seine individuelle Sitzposition zu ermitteln und technische Ansatzpunkte zu finden, die das aufrechte Sitzen im Rollstuhl erleichtern.
Wichtig für den Prozess der Anpassung ist eine ganzheitliche Betrachtung der Voraussetzungen. Neben der Behinderungsart und der Läsionshöhe bei Querschnittgelähmten sind Einflussfaktoren wie Kreislauf, Gewicht, Größe und Bewegungseinschränkungen der Gelenke (z. B. bei einer heterotopen Ossifikation) zu beachten. Ebenso muss berücksichtigt werden, in welchem Umfeld und mit welcher vorwiegender Funktion der Rollstuhl benutzt wird. Ein Rollstuhl, der überwiegend für Büroarbeit und ganztägiges statisches Sitzen verwendet wird, ist anders einzustellen als ein Rollstuhl, bei dem Aktivität und Fahren im Vordergrund stehen.
Sitzgefälle
Grundsätzlich bedeutet ein Plus an Sitzgefälle (Sitzfläche vorn höher als hinten) auch eine größere Sitzstabilität. Dies gilt zum einen rein objektiv, da bei mehr Sitzgefälle die Gefahr, nach vorne zu rutschen, tatsächlich geringer ist als ohne Sitzgefälle. Zum anderen ist aber auch das subjektive Sicherheitsgefühl eines Querschnittgelähmten größer, wenn sein Rollstuhl mehr Sitzgefälle aufweist. Wie Abbildung 1 zu entnehmen ist, verstärkt das Sitzgefälle die Tendenz des Beckens, nach hinten zu kippen 1. Die Rückenlehne verhindert ein tatsächliches Kippen des Beckens und fixiert es dadurch sicher im Rollstuhl. Ohne Sitzgefälle, bei waagerechter Sitzfläche, droht das Becken und damit der ganze Oberkörper eher nach vorne zu kippen. Dem muss der Rollstuhlfahrer durch Rumpfmuskulatur (falls vorhanden) oder durch Abstützen mit den Armen entgegenwirken, was auf die Dauer sehr anstrengend wird. Der Rollstuhlfahrer wird also durch das Sitzgefälle gegen die Rückenlehne gedrückt, was gerade in der Anfangszeit als Neuverletzter, also der Gewöhnung an den Rollstuhl, als sicher empfunden wird und gleichzeitig kraftsparend wirkt. Je stärker das Sitzgefälle, desto größer wird dieser Effekt 2.
Neben diesem positiven Effekt gibt es aber auch negative Auswirkungen eines großen Sitzgefälles:
- Je größer das Sitzgefälle, desto mehr Gewicht verlagert sich auf den hinteren Teil der Sitzfläche, also auf den Tuber (Sitzbeinhöcker), und die Druckverteilung über die gesamte Sitzfläche wird schlechter. Gerade dieser Körperbereich des Rollstuhlfahrers mit seiner Knochenprominenz und oft wenig Muskel- und Fettgewebe ist besonders gefährdet für die Entstehung von Druckgeschwüren 1. Sitzt ein Querschnittgelähmter mit viel Sitzgefälle zudem sehr fixiert in dieser Position, sollte er sich ständig entlasten, seine Hautverhältnisse überprüfen und gegebenenfalls mit einem speziellen Antidekubitus-Sitzkissen der Gefahr eines Druckgeschwürs vorbeugen.
- Je größer das Sitzgefälle, desto schwerer fällt der Transfer. Zum Transfer aus dem Rollstuhl ins Bett, ins Auto oder auf die Toilette muss der Rollstuhlnutzer auf dem Sitz nach vorne rutschen, bis er auf der vorderen Kante der Sitzfläche sitzt und die Füße auf den Boden stellen kann. Je mehr Sitzgefälle der Rollstuhl aufweist, desto anstrengender wird es, nach vorne zu rutschen. Das kann den Transfer erschweren, im Extremfall sogar unmöglich machen und dadurch zu Aktivitätseinschränkungen führen. Das oben beschriebene Sicherheitsgefühl durch extremes Sitzgefälle sollte daher der Möglichkeit des eigenständigen Transfers untergeordnet werden. Bei sehr mobilen Paraplegikern mit voller Armfunktion und ausreichender Brust- und Rückenmuskulatur (etwa bei kompletten Lendenwirbelläsionen oder niedrigen Brustwirbelläsionen) sollte es möglich sein, auch bei sehr viel Sitzgefälle einen Transfer eigenständig durchzuführen. Viel Sitzgefälle heißt, dass die Sitzfläche hinten etwa 7 bis 15 cm niedriger ist als vorne. Bei weniger mobilen Paraplegikern (Th 1 bis Th 8, siehe Abb. 2) mit voller Armfunktion, aber wenig Bauch- und Rückenmuskulatur, ist ein leichtes Sitzgefälle von ca. 4 bis 7 cm angebracht.
Die angegebenen Läsionshöhen sind allerdings stark abhängig vom Allgemeinzustand des Querschnittgelähmten. Es können sich durch Spastik, Alter oder ein inkomplettes Lähmungsbild schlechtere oder bessere Voraussetzungen ergeben, die zu anderen Werten führen. So ist etwa ein 75-jähriger Brustwirbelverletzter anders zu bewerten als ein 25-jähriger.
Bei Tetraplegikern ist zudem die Möglichkeit des Transfers ausschlaggebend. Sehr junge, mobile Tetraplegiker (C7, C6, siehe Abb. 2) können durchaus in der Lage sein, eigenständig einen Transfer durchzuführen. Das Sitzgefälle darf dann ebenfalls nicht zu groß sein (ca. 3 bis 5 cm). Ist der Tetraplegiker dagegen ohnehin nicht in der Lage, einen Transfer eigenständig zu bewerkstelligen und benötigt er fremde Hilfe wie Lifter und/oder Begleitperson, so kann es günstig für die Sitzstabilität sein, ein größeres Sitzgefälle zu wählen, das deutlich mehr als 7 cm betragen kann. Auch hier ist allerdings der Druck auf die Sitzbeinhöcker zu beachten, die Hautverhältnisse müssen ebenfalls im Auge behalten werden.
Einige spezielle Antidekubitus-Sitzkissen haben durch ihre Kissenform per se ein kleines Sitzgefälle (z. B. „Jay 3″ oder „Roho Hybrid Elite”). Das bedeutet für die Rollstuhleinstellung, dass dort nicht so viel Sitzgefälle eingestellt werden muss bzw. darf. Ein Nach-vorne-Rutschen ist auf diesen Kissen ohnehin schwieriger, sodass viel Sitzgefälle den Transfer bei hohen Läsionen dann zu sehr erschwert. Daher sollte die Einstellung des Rollstuhls unbedingt mit dem später verwendeten Sitzkissen erfolgen; ein Wechsel des Sitzkissens kann eine Neujustierung des Sitzgefälles erforderlich machen.
Ein Sitzgefälle ist in der Regel auch für den Antrieb des Rollstuhls mit den Armen von Vorteil 1. Sitzt man tiefer, verlängert sich der Greifweg am Greifreifen. Der Rollstuhl kann dadurch kräftiger und effektiver angetrieben werden. Das spart Kraft und schont die Gelenke des Rollstuhlfahrers.
Eine waagerechte Sitzfläche, wie sie häufig bei Hemiplegikern 1 vorkommt, ist bei Versorgungen von Querschnittgelähmten (und anderen Rollstuhlnutzern, die den Rollstuhl nur mit den Armen antreiben) eher unüblich. Nur bei inkompletten Läsionen, wenn der Transfer über den Stand erfolgt, kann es einfacher sein, wenn der Rollstuhl kein oder nur sehr wenig Sitzgefälle aufweist (Abb. 3).
Rückenlehnenhöhe
Die richtige Rückenlehnenhöhe ist sehr wichtig für den Aktionsradius des Rollstuhlfahrers. Grundsätzlich ist eine niedrige Rückenlehne immer besser für die Beweglichkeit des Oberkörpers. Ziel der Anpassung des Rollstuhls ist es daher, die Rückenlehnenhöhe zu ermitteln, die der Rollstuhlfahrer mindestens für ein stabiles und entspanntes Sitzen benötigt. Wie hoch das konkret ist, hängt neben der Läsionshöhe auch von Größe, Alter, Gewicht und einigen weiteren Einflussgrößen ab 1.
Die wichtigsten Körperpunkte zur Orientierung sind Schulterblätter und oberer Beckenkamm. Je höher die Rückenlehne ist, desto wichtiger ist eine genaue Anpassung der Rollstuhllehne an die Rückenkontur. Es muss unbedingt vermieden werden, dass die Rückenrohre punktuell gegen den Rollstuhlfahrer drücken und so Ausweichbewegungen oder gar Druckgeschwüre hervorrufen 2. Im Folgenden werden die unterschiedlichen Lehnenhöhen genauer charakterisiert:
Niedrige Rückenlehnen
Das absolute Minimum für eine niedrige Rückenlehne sollte der obere Beckenkamm sein. Der obere Teil des Kreuzbeins und der angrenzende Beckenbereich müssen gut unterstützt sein, um im Lendenbereich die natürliche Lordose der Wirbelsäule zu ermöglichen 1. Derart niedrige Rückenlehnen können bestenfalls von Rollstuhlfahrern mit Lendenwirbelläsion oder von Betroffenen mit inkompletter Querschnittlähmung benutzt werden. Es ist eine kräftige Bauch- und Rückenmuskulatur erforderlich, um den Oberkörper den ganzen Tag in aufrechter Position zu halten. Solche niedrigen Rückenlehnen kommen oft im Rollstuhlsport vor, bei normalen Rollstuhlverordnungen sollten sie eher selten sein. Der Rollstuhlfahrer muss dabei sehr viel Kraft und Aufmerksamkeit aufwenden, um über die Jahre nicht Fehlstellungen der Wirbelsäule zu riskieren.
Mittlere Rückenlehnenhöhe
Eine stabilere Sitzposition wird erreicht, wenn die Rückenhöhe so eingestellt ist, dass nicht nur der Beckenkamm und der Lumbalbereich, sondern auch ein bis zwei Rippenbögen von der Lehne unterstützt werden (Abb. 4). Der Kontakt des Brustkorbs mit der Rückenlehne gibt viel Halt und erspart somit auch solchen Rollstuhlfahrern viel Muskelkraft, die von ihrer Läsionshöhe her mit niedrigeren Lehnen sitzen könnten. So können Folgeerkrankungen wie Skoliosen, die vermehrt bei langjährigen Paraplegikern auftreten 3, vermieden oder zumindest hinausgezögert werden. Auch Rollstuhlfahrer mit Th 6 bis Th 12 sollten sich an diesem Maß orientieren.
Hohe Rückenlehnen
Querschnittgelähmte Rollstuhlfahrer mit hohen Brustwirbelverletzungen (Th 5 bis Th 1), die mit dem Rippenkontakt zur Lehne nicht genug Sitzstabilität erreichen, sollten eine höhere Rückenlehne wählen. Die Lehne sollte möglichst zwei Finger breit unterhalb der Schulterblätter enden (Abb. 5). Die Rückenlehne gibt dann ausreichend Unterstützung und Sicherheit, lässt aber auch noch Platz für Beweglichkeit und Aktivität.
Auch Tetraplegiker mit Läsionshöhen von C 7 bis C 5 können in der Regel mit freien Schulterblättern sitzen. Eine genaue Läsionshöhe lässt sich aber hier nicht nennen. Es gibt C5-Tetraplegiker, die sehr groß, dünn und flexibel in der Brustwirbelsäule sind, bei denen diese Unterstützung nicht ausreicht. Es gibt aber auch C4-Tetraplegiker, die über ausreichend Sitzstabilität verfügen, um mit freien Schulterblättern zu sitzen.
Ein ganz genaues Ausprobieren ist gerade bei diesen Läsionshöhen von großer Bedeutung, denn eine schulterfreie Rückenlehnenhöhe lässt nicht nur Platz für Bewegung, sondern wirkt sich nach Erfahrung des Autors auch positiv auf die Vitalfunktionen aus. So fällt die Atmung umso leichter, je mehr der Rollstuhlfahrer in der Lage ist, sich aktiv aufzurichten und aufrecht zu sitzen. Gerade die Atemfunktion ist aber bei hochgelähmten Querschnitten durch die fehlende Brustmuskulatur eingeschränkt. Daher fällt der richtigen Rückenlehnenhöhe eine Schlüsselrolle zu, um eine kyphotische Sitzhaltung zu verhindern und den Allgemeinzustand des Rollstuhlfahrers zu verbessern. Auch für die Verdauung scheint eine aufrechte, die Aktivität unterstützende Rückenlehne Vorteile zu bieten.
Sehr hohe Rückenlehnen
Rückenlehnen, die bis in den Bereich der Schulterblätter hinein unterstützen, kommen nur bei sehr hohen Läsionshöhen vor (sub C 5 bis C 3, siehe Abb. 6). Viele Rollstuhlfahrer mit derartigen Lähmungshöhen wählen eher einen E‑Rollstuhl, um mobil zu sein. Falls es aber zu einer Adaptivrollstuhl-Versorgung kommt, muss besonders auf den Rückenwinkel (siehe unten) und die Einstellung des Rückenbezuges mit Klettverschlüssen geachtet werden. Wie in Abbildung 6 zu erkennen, bleibt bei einer so hohen Rückenlehne nicht viel Spielraum, um die Klettverschlüsse zu lockern und „in der Rückenlehne” zu sitzen. Das liegt in erster Linie an der Rollstuhlbreite. Da der Rücken nach oben immer breiter wird, müsste der Rollstuhl schon sehr breit sein, um mit viel Durchhang des Rückenbezuges die Schulterblätter zwischen den Rückenrohren zu platzieren. Da mit der Einstellung der Klettverschlüsse nicht viel Stabilität zu erzielen ist, muss der Rückenwinkel so exakt eingestellt sein, dass der Oberkörper weder nach vorne noch nach hinten kippt.
Rückenwinkel
Der Begriff „Rückenwinkel” beschreibt den Winkel zwischen Sitzfläche und Rückenlehne. Er ist leider auch heute noch bei vielen Rollstuhlmodellen nicht zu verstellen. Vor allem bei Faltrollstühlen existieren nur wenige Modelle, bei denen sich der Rückenwinkel individuell an die Bedürfnisse des Benutzers anpassen lässt. Bei solchen Rollstühlen, bei denen der Rückenwinkel auf 90° eingestellt ist und sich nicht verändern lässt, muss der Reha-Techniker das Sitzgefälle so wählen, dass der Rollstuhlfahrer sicher und bequem, nicht zu steil und nicht zu angelehnt im Rollstuhl sitzt. Er muss daher die ganze Sitzeinheit so kippen, bis der Rückenwinkel passt. In diesen Fällen wird die korrekte Einstellung des Sitzgefälles der richtigen Einstellung der Rückenlehne geopfert. Für die exakte Sitzposition eines Rollstuhlfahrers, der 12 bis 16 Stunden am Tag mit wenigen Körperfunktionen gesund sitzen soll, ist das keine ausreichende Lösung.
In den Abbildungen 4 bis 6 sind drei verschiedene Rückenwinkel bei drei verschiedenen Läsionshöhen visualisiert 1.
In Abbildung 4 ist ein typischer Paraplegiker mit funktionsfähiger Bauch- und Brustmuskulatur zu sehen, der bei niedriger Rückenlehne einen relativ kleinen Rückenwinkel aufweist. Es besteht kein Sitzgefälle. Der Rückenwinkel ist etwas kleiner als 90° eingestellt, damit der Rückenbezug etwas gelockert werden kann, um „in der Rückenlehne” zu sitzen. Das gibt den erforderlichen seitlichen Halt. In diesem Fall beträgt der Rückenwinkel etwa 85 bis 87°. Je mehr Sitzgefälle bei dem Rollstuhl eingestellt würde, desto kleiner würde unweigerlich der einzustellende Rückenwinkel ausfallen, da der Oberkörper in dieser Position verbleiben soll. Bei einem Sitzgefälle von 7° würde ein Rückenwinkel von 78 bis 80° benötigt. Eine typische Einstellung des kompletten Rollstuhles ist in Abbildung 7 zu sehen.
Abbildung 5 zeigt einen Paraplegiker mit einer hohen Brustwirbelläsion (ca. Th 1 bis Th 5) oder einen Tetraplegiker (sub C 7 bis C 5). Auch hier besteht kein Sitzgefälle, sodass der Rückenwinkel etwa 90° beträgt. Geht man von einem Sitzgefälle von 7° aus, wie beim Beispiel des Paraplegikers mit Rumpfmuskulatur, so wäre eine Rückenwinkeleinstellung von ca. 81 bis 85° nötig, um die Rückenlehne so aufrecht wie im Bild einstellen zu können. Bei mehr Sitzgefälle muss der Rückenwinkel automatisch kleiner werden, bei weniger Sitzgefälle größer. Eine Rollstuhleinstellung für einen Benutzer ohne Rumpfkontrolle ist in Abbildung 8 zu sehen.
In Abbildung 6 ist eine sehr hohe Rückenlehne (etwa Tetraplegie sub C 5 bis C 4) zu sehen. Ohne Sitzgefälle muss der Rückenwinkel für diese Benutzer schon größer als 90° sein, um angelehnt und sicher im Rollstuhl sitzen zu können. In der Regel werden diese Benutzer allerdings sehr viel Sitzgefälle benötigen (größer als 10°), sodass auch hier in der Praxis Rückenwinkel von 75 bis 85° verwendet werden können.
Es gibt in der Regel nur einen exakten Rückenwinkel, der dem Rollstuhlbenutzer das nötige Sicherheitsgefühl verleiht und gleichzeitig eine entspannte aufrechte Sitzhaltung ermöglicht. Jeder Autofahrer stellt die Rückenlehne seines Wagens exakt in die Position, in der er entspannt sitzen und fahren kann. Auch für ihn gibt es nur eine exakte Einstellung, in allen anderen Einstellungen fühlt er sich unwohl. Der Autofahrer sitzt aber nur Minuten oder Stunden im Fahrersitz, der Rollstuhlfahrer sitzt bis zu 16 Stunden am Tag. Ohne exakte Einstellung des Rückenwinkels wird ein Querschnittgelähmter unweigerlich eine kompensatorische Sitzhaltung einnehmen, was zu Folgeerkrankungen, insbesondere zu Fehlstellungen des Beckens und der Wirbelsäule, führen wird.
Dieser eine optimale Rückenwinkel kann sich im Laufe des Lebens verändern. Zum einen sitzen viele Neuverletzte zu Beginn etwas angelehnter, also mit größerem Rückenwinkel, um nicht das Gefühl zu haben, das Gleichgewicht zu verlieren und nach vorne zu fallen. Mit der Gewöhnung an den Rollstuhl verliert sich dieses Gefühl, und die Akzeptanz, steiler und aufrechter zu sitzen, nimmt zu. Der Rollstuhl sollte diese Veränderung der ersten Jahre unbedingt mitvollziehen können. Das bedeutet, dass der Rückenwinkel, wie auch alle anderen in diesem Artikel beschriebenen Parameter, einstellbar sein muss. Die Sitzposition sollte in den ersten 3 bis 5 Jahren nach Unfall oder Erkrankung ständig hinterfragt, überprüft und optimiert werden.
Auch nach 20 bis 25 Jahren Rollstuhlleben ist es sinnvoll, die Rollstuhleinstellung an die körperlichen Veränderungen anzupassen. Nur so können Folgeerkrankungen vermieden werden.
Anpassbarer Klett-Rückenbezug
Bei der Einstellung des Klettrückens muss zunächst im untersten Bereich der Rückenlehne genug Platz gelassen werden, um mit dem Gesäß ganz nach hinten in den Rollstuhl zu rutschen 1. So erhält man eine maximale Sitztiefe und eine feste Grundlage für die weitere Anpassung der Rückenlehne. Sodann sollte der obere Beckenkamm gut unterstützt werden, um die Wirbelsäule aufzurichten. Im Lendenbereich müssen, der Form der Wirbelsäule folgend, die Klettverschlüsse eng an den Rücken angepasst werden. Im Bereich des Brustkorbs sollte der Klett-Rückenbezug genug Platz lassen, um „in der Rückenlehne” zu sitzen und nicht davor (siehe Abb. 4).
Es ist wichtig, „in der Rückenlehne” zu sitzen, um möglichst viel Stabilität und Halt von der Rückenlehne zu bekommen. Der Kontakt des Brustkorbs mit den Rückenrohren rechts und links vermittelt vor allem seitlichen Halt. Das ist insbesondere notwendig für Rollstuhlnutzer mit eingeschränkter oder fehlender Bauch- und Rückenmuskulatur (Th 6 bis sub C 4/5). Dieser Kontakt sollte aber auf keinen Fall zu groß oder zu hart ausfallen, da sonst Druckstellen entstehen können. Ausreichend Platz in diesem Bereich kann ein wichtiges Kriterium für die Auswahl der richtigen Sitzbreite des Rollstuhls sein.
Beispiel: Tetraplegie C 5
In den Abbildungen 9a und b ist eine Rollstuhlanpassung einer Tetraplegikerin (sub C 5) dokumentiert. Die zu hohe und zu steile Rückenlehne (Abb. 9a) führte zu einer zu aufrechten, instabilen Sitzposition, die bei fehlender Bauch- und Rückenmuskulatur nicht zu halten war. Die Patientin korrigierte die Unsicherheit durch ein Rutschen nach vorne, das Becken kippte nach hinten, und die Wirbelsäule verlor ihre Aufrichtung. Die Beine fielen nach außen und mussten durch einen Gurt gehalten werden.
Durch eine exakt angepasste Rückenhöhe knapp unterhalb der Schulterblätter und einen genau justierten Rückenwinkel konnte die Rollstuhlfahrerin wesentlich aufrechter sitzen (Abb. 9b). Sie konnte besser atmen, und ihre Nackenmuskulatur entspannte sich, wodurch die Schmerzen im Nackenbereich nachließen. Auch rein optisch war sie mit ihrer neuen Sitzposition zufriedener. Durch die aufrechtere Stellung des Beckens fielen ihre Knie nicht mehr auseinander, und sie konnte den Gurt um die Beine komplett weglassen.
Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist, dass durch das exakte Einstellen des Rollstuhles, insbesondere der Klettverschlüsse der Rückenlehne, so viel Halt erzielt wurde, dass die Rückenlehne 6 cm (!) niedriger als beim Rollstuhl zuvor eingestellt werden konnte.
Fazit
Die Höhe der Rückenlehne, das Sitzgefälle, der Rückenwinkel und die Kontur des Rückenbezuges müssen individuell an den Rollstuhlbenutzer angepasst werden. Alle vier Parameter bedingen sich gegenseitig. Sobald ein Parameter verändert wird, hat das unweigerlich Auswirkungen auf die Einstellung der drei anderen. Dies lässt sich etwa am Beispiel eines Rollstuhlfahrers aufzeigen, dessen Unfall 2 bis 3 Jahre zurückliegt. Er wird sich in dieser Zeit an den Rollstuhl gewöhnt haben, seine körperlichen Funktionen auf die Benutzung des Rollstuhles ausgerichtet haben und in der Regel weniger Unterstützung durch die Rückenlehne benötigen. Wird die Rückenlehne nur um 4 cm gekürzt, um sein größeres Aktivitätspotenzial zu unterstützen, müssen automatisch der Rückenwinkel und die Kontur des Rückenbezuges kontrolliert und angepasst werden.
Nur ein perfekt angepasster Rollstuhl kann die Bewegungseinschränkungen eines Querschnittgelähmten kompensieren, ohne Folgeerkrankungen wie Beckenschiefstände, Dekubiti oder Skoliosen zu verursachen. Die Läsionshöhe des Rollstuhlbenutzers ist ein Anhaltspunkt für den Rollstuhlanpasser, um das Bewegungspotenzial des Rollstuhlfahrers einzuschätzen und den Rollstuhl dementsprechend anzupassen. Die in diesem Artikel genannten Läsionshöhen mit entsprechenden Angaben von konkreten Gradzahlen von Sitzgefälle oder Rückenwinkel können nur eine Orientierungshilfe für eine typische Rollstuhlanpassung bei dieser oder jener Läsionshöhe sein. In der Praxis müssen Einflussfaktoren wie Kreislauf, Gewicht, Zusatzerkrankungen, Alter und einiges mehr mitberücksichtigt werden. Eine individuelle Rollstuhlanpassung muss daher verschiedene Parameter im Dialog mit dem Rollstuhlnutzer ausprobieren.
Es gibt in diesem Zusammenhang keine Patentrezepte, aber einige durchaus allgemeingültige Prinzipien, die in diesem Artikel erläutert wurden. Diese gelten nicht nur für anpassbare Klett-Rückensysteme, sondern auch für feste Rückensysteme wie das „Jay-3-System” oder das Roho „Agility-Back-System” (Abb. 10), die in den letzten Jahren vermehrt eingesetzt wurden. Eine intensive Beratung über die richtige Sitzhaltung des Rollstuhlfahrers wird kurzfristig zu einer Verbesserung seines Wohlbefindens und seines Aktionsradius führen. Langfristig können Folgeerkrankungen vermieden werden, die ursächlich nicht durch das Krankheitsbild Querschnittlähmung, sondern durch eine langjährig schlechte Sitzhaltung verursacht wurden.
Die Abbildungen in diesem Artikel unterliegen dem Copyright der Firma Etac AB Schweden.
Der Autor:
Ralf Kirchhoff
Produktspezialist
Etac GmbH
Bahnhofstraße 131
45770 Marl
ralf.kirchhoff@etac.de
Begutachteter Beitrag/reviewed paper
Kirchhoff R. Varianten der Sitzpositionen in Abhängigkeit unterschiedlicher Läsionshöhen. Orthopädie Technik, 2014; 65 (9): 34–41
Weiterführende Literatur:
Mayall JK, Desharnais G. Positioning in a Wheelchair: A Guide for Professional Caregivers of the Disabled Adult. 2nd edition. Thorofare, NJ: Slack Incorporated, 1995 Schreiber N. Rollstuhlversorgung – mehr als ein technischer Vorgang. In: Schriftenreihe Jugendwerk: Physiotherapie. Hrsg. von: Hegau-Jugendwerk GmbH – Neurologisches Rehabilitationszentrum. Gailingen: Jugendwerk, 1999 Trefler E, Hobson DA, Johnson Taylor S, Monahan LC, Shaw CG. Seating and Mobility: For Persons with Physical Disabilities. 1st edition. University of Pittsburgh: Academic Press, 1993 Van Der Woude LHV, Meijs PJM. Ergonomics of Manual Wheelchair Propulsion. Amsterdam: IOS Press, 1991 http://www.rollstuhlratgeber.de. Industrieverband SPECTARIS (Deutscher Industrieverband für optische, medizinische und mechatronische Technologien e. V.) (Zugriff am 31.07.2014)
- Kinder mit Trisomie 21: Einsatz der Ganganalyse zur adäquaten Schuh- und Orthesenversorgung — 5. November 2024
- Rehabilitation aus orthopädietechnischer und physiotherapeutischer Sicht – Osseointegration und Schaftprothesen der unteren Extremität im Vergleich — 5. November 2024
- Belastungsprofile von knochenverankerten Oberschenkelimplantaten verbunden mit modernen Prothesenpassteilen — 5. November 2024
- Engström B. Ergonomie – Sitzen im Rollstuhl. Analyse, Verständnis und Eigenerfahrung. Köln: Posturalis Books, 2001
- Bröxkes S, Dirla F, Frantzen S, Herzog U, Naumann J. Rollstuhlversorgung bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen. Köln/Hennef: Eigenverlag DRS (Deutscher Rollstuhl Sportverband), 2004
- Alm M, Gutierrez E, Hultling C, Saraste H. Clinical Evaluation of Seating in Persons with Complete Thoracic Spinal Cord Injury. Spinal Cord, 2003; 41: 563–571 http://www.nature.com/sc/journal/v41/n10/full/3101507a.html (Zugriff am 31.07.2014)