Unter­schen­kel­or­the­sen und ihre kli­ni­sche Anwen­dung bei Pati­en­ten mit dia­be­tisch-neu­ro­pa­thi­scher Osteoarthropathie

F. Schulz
Versorgungen des Fußes bei diabetisch-neuropathischer Osteoarthropathie (DNOAP) sind nach wie vor eine Herausforderung. Seien es Mediziner, Therapeuten oder Orthopädie-Techniker: Die Versorgung einer DNOAP mit einem Hilfsmittel – in diesem Beispiel mit Unterschenkelorthesen (US-Orthesen) – stellt an die jeweilige Disziplin hohe Ansprüche. Dieser Beitrag soll eine Hilfestellung insbesondere für Orthopädie-Techniker sein, um bei der Planung und Herstellung einer US-Orthese bei DNOAP auf einen Leitfaden zurückgreifen zu können, der die verschiedenen Aspekte beleuchtet, die berücksichtigt werden müssen, um eine optimale Versorgung zu gewährleisten.

Ein­lei­tung

Die Ver­sor­gung des dia­be­ti­schen Fußes mit Unter­schen­kel­or­the­sen (US- Orthe­sen) ist seit Jahr­zehn­ten ein die Ortho­pä­die-Tech­nik beschäf­ti­gen­des The­ma 1. In die­sem Bericht aus der Pra­xis soll nicht dog­ma­tisch die „ein­zig rich­ti­ge“ US-Orthe­se vor­ge­stellt wer­den, son­dern es sol­len Grund­prin­zi­pi­en und Über­le­gun­gen ver­deut­licht wer­den, die zur Pla­nung und Durch­füh­rung einer US-Orthe­sen­ver­sor­gung beim Dia­be­ti­schen Fuß­syn­drom not­wen­dig sind. Aus jahr­zehn­te­lan­ger Erfah­rung in Pla­nung und Bau sol­cher Orthe­sen in einem inter­dis­zi­pli­nä­ren Team haben sich die im fol­gen­den Bericht auf­ge­zeig­ten Punk­te als hilf­reich oder sogar not­wen­dig herausgestellt.

Anzei­ge

Lei­der ste­hen dem Ortho­pä­die-Tech­ni­ker nicht immer alle Fak­ten zu dem zu ver­sor­gen­den Fuß (Krank­heits­ver­lauf, The­ra­pie­ver­lauf inklu­si­ve OPs, Rönt­gen­bil­der, All­ge­mein­zu­stand des Pati­en­ten) zur Ver­fü­gung, die aber letzt­lich not­wen­dig sind, um das indi­vi­du­ell im Vor­der­grund ste­hen­de Ver­sor­gungs­ziel zu defi­nie­ren. Es ist somit uner­läss­lich, die wich­tigs­ten Para­me­ter in Erfah­rung zu brin­gen, um eine adäqua­te Ent­schei­dung für die Ver­sor­gung tref­fen zu kön­nen. Kennt­nis­se über die Mor­pho­lo­gie und den Ver­lauf des Dia­be­ti­schen Fuß­syn­droms und des­sen Beson­der­hei­ten – wie Klas­si­fi­ka­tio­nen und Sta­di­en (z. B. nach Wag­ner, Wag­ner-Arm­strong, Levin oder Eichen­holz) – sowie Anga­ben zur Loka­li­sa­ti­on (z. B. nach San­ders und Fryk­berg) sind für die Ver­sor­gung uner­läss­lich 23.

Defi­ni­ti­on des Versorgungsziels

Wie bei jeder ortho­pä­die­tech­ni­schen Ver­sor­gung soll­te auch bei der US-Orthe­se für den dia­be­ti­schen Fuß die Defi­ni­ti­on des Ver­sor­gungs­ziels am Anfang ste­hen. Als über­ge­ord­ne­tes Ziel ist hier­bei sicher­lich die Mobi­li­sie­rung des Pati­en­ten bei gleich­zei­ti­gem Schutz des Fußes zu defi­nie­ren. Eine Total­ent­las­tung des Fußes durch Anstüt­zung an die Tibi­a­kon­dylen ist dafür nur in den sel­tens­ten Fäl­len indi­ziert – in der Regel erfolgt die Ver­sor­gung unter vol­ler axia­ler Belas­tung bei gleich­zei­ti­ger Druckum­ver­tei­lung im Fuß­soh­len­be­reich und Unter­stüt­zung gegen defor­mie­ren­de Achsabweichungen.

In den meis­ten Fäl­len ste­hen zwei unter­schied­li­che Auf­ga­ben der Orthe­se im Vor­der­grund der Versorgung:

  • Zum einen soll sie für die Ruhig­stel­lung des OSG und des USG in Ver bin­dung mit einer geführ­ten axia­len Belas­tung sor­gen, um ein mög­li­ches Eins­in­tern gezielt zuzu­las­sen (Levin II) und den Ver­knö­che­rungs­pro­zess in opti­mier­ter Posi­ti­on zu unter­stüt­zen (Levin III). Eine sol­che Ruhig­stel­lung kommt aber auch nach ope­ra­ti­ven Stel­lungs­kor­rek­tu­ren mit oder ohne Fix­a­teur in Betracht.
  • Zwei­te mög­li­che Haupt­auf­ga­be der Orthe­se ist es, ent­spre­chend der ver­än­der­ten Fuß­ana­to­mie, ins­be­son­de­re aber bei schon vor­han­de­nen Ulzer­a­tio­nen, bestimm­te Area­le des Fußes, beson­ders der Fuß­soh­le, zu ent­las­ten. Ein Pal­pie­ren des gesam­ten Fußes ist dabei vor der Ver­sor­gung uner­läss­lich, um ver­än­der­te knö­cher­ne Struk­tu­ren zu erfas­sen. Nicht sel­ten kommt es durch den Umbau­pro­zess zu Kno­chen­spit­zen, die dann sehr genau aus­ge­ar­bei­tet wer­den müs­sen. Sobald sich Ver­dachts­mo­men­te für knö­cher­ne Umbau­pro­zes­se erge­ben, ist ein Rönt­gen­bild zur Beur­tei­lung der Situa­ti­on drin­gend erfor­der­lich. Um eine mög­lichst aus­ge­gli­che­ne Druck­ver­tei­lung her­bei­zu­füh­ren, müs­sen bis­lang weni­ger belas­te­te Area­le unter Berück­sich­ti­gung ihrer Belas­tungs­fä­hig­keit stär­ker in die Belas­tung ein­be­zo­gen wer­den. Dabei darf durch­aus eine kon­trol­lier­te Kor­rek­tur­kraft im Sin­ne einer gewalt­los erreich­ba­ren Stel­lungs­op­ti­mie­rung auf den Fuß aus­ge­übt wer­den. Dies ist vor allem vor dem Hin­ter­grund der Umbau­pro­zes­se am Fuß­ske­lett 4 ent­we­der zur OP-Ver­mei­dung, zur OP-Vor­be­rei­tung oder zur Siche­rung des OP-Ergeb­nis­ses bei jeder Ver­sor­gung zu berücksichtigen.

Aus­füh­rungs­de­tails

Um die im Vor­feld beschrie­be­nen Auf­ga­ben erfül­len zu kön­nen, muss die US-Orthe­se eini­ge grund­le­gen­de Merk­ma­le auf­wei­sen. Hier­zu gehört für die gefor­der­te Ruhig­stel­lung auch bei beweg­li­chem ana­to­mi­schem Sprung­ge­lenk ins­be­son­de­re der Ver­zicht auf eine gelen­ki­ge Ver­bin­dung zwi­schen Unter­schen­kel- und Fuß­teil. Eben­so erfor­der­lich ist eine ver­span­nen­de Bau­wei­se, also eine fron­ta­le, pro­xi­mal fes­te Anla­ge am Unter­schen­kel und eine dista­le, hin­te­re Anla­ge inklu­si­ve Fuß­bet­tung. Der Fuß soll­te über eine den gesam­ten Fuß­rü­cken bede­cken­de Lasche gehal­ten wer­den. An der Wade ist erfah­rungs­ge­mäß ein Gurt­ver­schluss aus­rei­chend (Abb. 1a–c). Durch die­se Kon­struk­ti­on wird eine adäqua­te Fuß­füh­rung gewähr­leis­tet; der Fuß ver­bleibt in sei­ner defi­nier­ten Stel­lung und kann auch bei unsach­ge­mä­ßem Hand­ling der Ver­schlüs­se sei­ne Posi­ti­on nur wenig ver­än­dern. Durch die Drei­ecks­form und die Tibi­a­kon­dylen­an­stüt­zung der fron­ta­len Anla­ge ist außer­dem eine Rota­ti­ons­kon­trol­le mög­lich, die wäh­rend der Abrol­lung das defor­mier­te Fuß­ske­lett vor Scher­kräf­ten schützt (Abb. 2). Die Ruhig­stel­lung des Sprung­ge­lenk­kom­ple­xes ermög­licht aber nicht nur eine stär­ke­re Unter­stüt­zung durch die Fuß­bet­tung, weil weni­ger Fuß­ver­for­mun­gen in der Dyna­mik zu erwar­ten sind, son­dern auch eine Reduk­ti­on der Scher­kräf­te, die sich durch eine Bewe­gung des Bei­nes in der Orthe­se zwangs­läu­fig erge­ben würden.

Eine dia­be­tes­ad­ap­tier­te Fuß­bet­tung mit groß­flä­chi­ger Unter­stüt­zung des Fußes in der Orthe­se sowie eine gro­ße Auf­tritts­flä­che unter der Orthe­se geben Trä­gern mit ver­min­der­ter bis auf­ge­ho­be­ner Sen­so­rik die nöti­ge Stand­si­cher­heit. Gleich­zei­tig muss aber durch die Ein­ar­bei­tung einer Absatz- und einer Vor­fuß­rol­le die nöti­ge Dyna­mik bei ruhig­ge­stell­tem Sprung­ge­lenk ermög­licht wer­den. Hier gilt es in der Anpro­be­si­tua­ti­on den opti­ma­len Kom­pro­miss aus Sta­bi­li­tät und Mobi­li­tät zu finden.

Neben der Rea­li­sie­rung der Haupt­auf­ga­be (Ruhig­stel­lung und/oder Druckum­ver­tei­lung) müs­sen noch wei­te­re Aspek­te berück­sich­tigt wer­den. Dies betrifft vor allem die Sicher­stel­lung der Pass­form über die Nut­zungs­dau­er der Orthe­se. Denn zum einen kön­nen sich aus der Grund­er­kran­kung star­ke Umfangs­schwan­kun­gen erge­ben, zum ande­ren kön­nen aber auch die Ruhig­stel­lung als sol­che oder die Umbau­pro­zes­se in der flo­ri­den Pha­se für Volu­men­schwan­kun­gen des Bei­nes ver­ant­wort­lich sein. Hier soll­te über ent­spre­chen­de Adap­ti­ons­mög­lich­kei­ten oder auch über die Nut­zung eines Kom­pres­si­ons­strump­fes nach­ge­dacht wer­den. Da der Trä­ger in der Regel ein ver­min­der­tes oder auf­ge­ho­be­nes Emp­fin­den hat, ist die regel­mä­ßi­ge genaue Kon­trol­le der Pass­form durch den Tech­ni­ker von beson­de­rer Bedeutung.

Fazit

Als Vor­aus­set­zung für eine adäqua­te Ver­sor­gung mit einer US-Orthe­se bei dia­be­tisch-neu­ro­pa­thi­scher Osteo­ar­th­ro­pa­thie ist eine sorg­sa­me, indi­ve­du­el­le Hilfs­mit­tel­pla­nung erfor­der­lich, die auf die spe­zi­el­len Bedürf­nis­se des Pati­en­ten ein­geht. Beein­flus­sen­de Fak­to­ren sind das kli­ni­sche Erschei­nungs­bild, das Sich-Bewusst­ma­chen der indi­vi­du­el­len Anfor­de­rung, das Hin­zu­zie­hen von Rönt­gen­bil­dern, eine auf­merk­sa­me Weich­teil­ana­ly­se und das Erken­nen even­tu­el­ler Achs­ab­wei­chun­gen und ihrer Kor­rek­tur­mög­lich­kei­ten. Die US-Orthe­se muss rigi­de im Auf­bau, ohne Knö­chel­ge­len­ke sowie mit guter Weich­bet­tung innen und phy­sio­lo­gi­scher Abrol­lung außen gefer­tigt werden.

Die oben auf­ge­führ­ten Aspek­te sol­len dem Tech­ni­ker hel­fen, wich­ti­ge Aspek­te zu hin­ter­fra­gen und – auf die­se Wei­se sen­si­bi­li­siert – eine bes­se­re Ein­schät­zung der Ver­sor­gungs­pro­ble­ma­tik vor­neh­men zu können.

Aller­dings soll­te deut­lich gewor­den sein, dass es sich bei dem hier vor­ge­stell­ten Ver­fah­ren nicht um eine schnel­le Ver­sor­gung han­deln kann, da die US-Orthe­se beson­ders in der Anpas­sungs­pha­se, aber auch über die gesam­te Tra­ge­dau­er in regel­mä­ßi­gen Abstän­den kon­trol­liert und nach­ge­passt wer­den muss.

Der Autor:
Frank Schulz
UKM Pro­Tec
Ortho­pä­di­sche Werk­stät­ten GmbH
Albert-Schweit­zer-Cam­pus 1, Gebäu­de D5
48149 Müns­ter
frank.schulz@ukmuenster.de

Begut­ach­te­ter Beitrag/reviewed Papier

Zita­ti­on
Schulz F. Unter­schen­kel­or­the­sen und ihre kli­ni­sche Anwen­dung bei Pati­en­ten mit dia­be­tisch-neu­ro­pa­thi­scher Osteo­ar­th­ro­pa­thie. Ortho­pä­die Tech­nik, 2017; 68 (9): 58–60
  1. Haf­ke­mey­er U, Kol­ler A, Schulz F, Fied­ler R, Wetz HH. Die fuß­ent­las­ten­de Unter­schen­kel­or­the­se und ihre kli­ni­sche Anwen­dung bei Pati­en­ten mit dia­be­tisch-neu­ro­pa­thi­scher Osteo­ar­th­ro­pa­thie: Der Ortho­pä­de, 2004; 33 (9): 992–998
  2. Kel­le­rer M, Mat­thaei W (Hrsg.). Pra­xis­emp­feh­lun­gen der Deut­schen Dia­be­tes Gesell­schaft. Dia­be­to­lo­gie und Stoff­wech­sel, 2012; 7 (Sup­ple­ment): S83–S200
  3. Wetz HH. Dia­be­tisch-neu­ro­pa­thi­sche Osteo­ar­th­ro­pa­thie. Behand­lungs­er­geb­nis­se und ortho­pä­disch-chir­ur­gi­sche Aspek­te. Deut­sches Ärz­te­blatt, 1998; 95 (43): A‑2701–A‑2705
  4. Wetz HH. Dia­be­tisch-neu­ro­pa­thi­sche Osteo­ar­th­ro­pa­thie. Behand­lungs­er­geb­nis­se und ortho­pä­disch-chir­ur­gi­sche Aspek­te. Deut­sches Ärz­te­blatt, 1998; 95 (43): A‑2701–A‑2705
Tei­len Sie die­sen Inhalt
Anzeige