Ein Rollstuhl kann eine Orthese oder auch eine Prothese sein. Er ersetzt zwei Beine und wird für kurze oder längere Zeiten und Strecken eingesetzt. Er sollte fein- und grobmotorische Aktivitäten, aber auch Ruhezeiten erlauben. Er soll entlasten, leicht, abgestimmt auf das Individuum und mit wenig Aufwand transportierbar sein. Zudem sollte er mit viel Sorgsamkeit und Fachkompetenz ausgesucht und angepasst werden, um Komplikationen wie Schmerzen, Druckstellen, einseitige Belastungen und somit Folgeschäden zu vermeiden. Er soll nicht nur ein Transportmittel sein, sondern Selbstständigkeit und Funktionalität maximieren, physiologische Funktionen unterstützen, den Kundenbedürfnissen entsprechen und auch noch günstig sein.
Rollstuhlversorgung
Wenn davon ausgegangen wird, dass ein Rollstuhl zur Fortbewegung dient und die Beine ersetzt, ist er mit einer Orthese oder Prothese zu vergleichen. Der Rollstuhl wird wie eine Orthese oder Prothese zur Überwindung kurzer und längerer Strecken eingesetzt. Rollstühle bieten beeinträchtigten Personen ein selbstständiges und freies Leben, jedoch wird dazu eine adäquate Sitzqualität und eine hohe Stabilität benötigt. Ist die Sitztiefe zu lang, der Rollstuhl zu kippelig oder ist die Unterschenkellänge zu lang eingestellt, entsteht meist eine kyphotische Sitzhaltung. Ist die Sitzbespannung uneben oder ist der Rollstuhl zu schmal, kann ein Beckentiefstand mit einer daraus resultierenden skoliotischen Sitzhaltung entstehen. Deshalb kann ein nicht ausreichend angepasster Rollstuhl wie eine Orthese oder Prothese zu Schmerzen, Fehlhaltungen und Druckstellen führen und ist somit mit einer reduzierten Lebensqualität verbunden. Eine individuelle und angepasste Rollstuhlversorgung erlangt daher eine hohe Wichtigkeit.
Sitzsystem
Ein Sitzsystem im Rollstuhl besteht immer aus einem Sitzkissen oder einer individuell angepassten Sitzschale sowie einem Rücken aus Stoff, einer symmetrischen Rückenstütze oder einer individuell angepassten asymmetrischen Rückenschale. Das Sitzsystem soll stabil sein, Fehlhaltungen vorbeugen und mögliche Schmerzen oder Druckstellen vermeiden. Der Rücken sollte so ausgewählt werden, dass die Rückenhöhe dem Patienten größtmögliche Funktionalität und genügend Halt bietet, um Aktivitäten des täglichen Lebens ausführen zu können. Bei einer Sitzversorgung spielen viele weitere wichtige Aspekte eine Rolle. Um Druckstellen bei einer veränderten oder fehlenden Sensibilität zu vermeiden, ist eine komplett andere Sitzversorgung notwendig als bei intakter Sensibilität. Dies bedingt, dass bei einer Rollstuhlversorgung auch eine individuelle Sitzversorgung abgeklärt werden muss.
International Classification of Functioning, Disability and Health
Bei einer individuellen Rollstuhlberatung im Schweizer Paraplegiker-Zentrum Nottwil dient die International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF) als Grundlage 1. Die ICF ist in folgende Kategorien unterteilt:
- Patientendaten,
- Körperfunktion und ‑struktur,
- Aktivität und Partizipation sowie
- Kontext.
Vom Therapieteam des SPZ Nottwil wurden zusätzlich die Zielsetzungen des Patienten und des Therapeuten zur Erfassung hinzugefügt (Abb. 1). Zu den genannten Aspekten im Einzelnen:
Patientendaten
Alle Patientendaten wie Diagnose, Alter, Gewicht, Größe, Ausbildung, Beruf, Rente und Gesundheitszustand werden im Rahmen einer Standortbestimmung erfasst. Sie geben Auskunft über die personbezogenen Faktoren. Beispiele: Bei Patienten im Wachstum ist es wichtig, dass der Rollstuhl in der Sitzbreite sowie der Sitztiefe mitwachsen kann. Bei großen Patienten stehen die Überfahrhöhen von Hindernissen mit der Fußauflage und die Unterschenkellänge in Konkurrenz mit der Unterfahrbarkeit von Tischen im Fokus. Gemeinsam mit dem Patienten werden bei solchen Zusammenhängen Kompromisse gesucht und umgesetzt.
Körperfunktion und ‑struktur
Im Bereich der Körperfunktion und ‑struktur werden globale und mentale Funktionen, Sinnesfunktionen und Schmerz, Atmung sowie Stimm- und Sprechfunktion, neuromuskuloskelettale und bewegungsbezogene Funktionen sowie die momentane Sitzposition erfasst. Beispiele: Bei Patienten mit Spina bifida oder einer Muskeldystrophie führt die Verkürzung des M. iliopsoas oftmals zu einer Beckenkippung nach anterior und einer hyperlordotischen Haltung. Bei Hemiplegikern können einseitiger Tonus, Spastizität und die Innervation des M. quadratus lumborum zu einem Beckentiefstand mit einer daraus resultierenden skoliotischen Sitzhaltung führen. Bei zerebralgelähmten Patienten gibt es oft Kontrakturen der Mm. ischiocrurales, die zu einer eingeschränkten Knieextension führen und im Sitzen das Becken nach dorsal kippen lassen, was wiederum zu einer kyphotischen Sitzhaltung führen kann.
Aktivitäten und Partizipation
Dieser Bereich vermittelt Informationen zum gemeinschaftlichen, sozialen und staatsbürgerlichen Leben. Beispiel: Der Rollstuhl ist nicht nur ein Transportmittel – er sollte vielmehr für den täglichen Einsatz im Alltag des Patienten angepasst und einsetzbar sein. Er soll grobmotorische Aktivitäten wie das Rollstuhlfahren im Innen- und Außenbereich sowie in unebenem Gelände ermöglichen. Er soll feinmotorische Aktivitäten wie Essen, Trinken, Schreiben sowie das Bedienen einer PC-Tastatur erlauben. Für die Ruhezeiten soll er entlastend wirken.
Kontext
Kontextfaktoren sind unterteilt in personbezogene (Patientendaten) und umweltbezogene Faktoren. Sie geben Auskunft über vorhandene Hilfsmittel zur Mobilität und Selbstsorge, zur aktuellen Sitzversorgung, zur Umfeldkontrolle, zum Transport, zur Wohnsituation sowie zur sozialen Situation und Unterstützung. Beispiele: Ein sportlich, also sehr kippelig eingestellter Rollstuhl nützt nur dem Patienten, der über eine gute Rollstuhlhandhabung verfügt. Beim Einsatz eines Elektrorollstuhls, in dem der Patient sitzend im Auto transportiert wird, sind die Fahrzeughöhe, die maximale Innenhöhe von meist 140 cm und die Kopfhöhe des im Elektrorollstuhl sitzenden Patienten zu beachten. Das Gewicht des Patienten mit Elektrorollstuhl und das maximale Ladegewicht müssen eingehalten werden. Der Patient muss aus den Fenstern sehen können, damit er sich orientieren kann.
Zielsetzung des Patienten und der Therapeuten
Die Zielsetzung der Therapeuten stimmt nicht immer mit der des Patienten überein, daher müssen hier Kompromisse, meist auf beiden Seiten, eingegangen werden. Die Zielsetzung des Patienten sollte immer in die Entscheidungen mit einfließen. Wenn die Bedürfnisse des Patienten und seiner Angehörigen nicht ausreichend gewichtet werden, kann dies dazu führen, dass das Hilfsmittel im Alltag nicht eingesetzt wird.
Hilfsmittel
Wenn alle oben aufgeführten Aspekte gemeinsam mit dem Patienten sowie dem interdisziplinären Team diskutiert worden sind, folgt die Hilfsmittelabklärung. Gemeinsam mit dem Patienten und gegebenenfalls seinen Angehörigen oder dem Betreuungspersonal wird entschieden, welches Hilfsmittel benötigt wird und für die momentane Situation geeignet ist. Es ist von Vorteil, wenn bei der Rollstuhlauswahl das Fachwissen eines gut ausgebildeten Rollstuhlberaters mit einfließt. Nur er kennt die zum Teil sehr kleinen, feinen und doch wichtigen Unterschiede der verschiedenen Produkte und des Zubehörs.
Fehlhaltungen
Zeigen sich bei Patienten schwerwiegende Fehlhaltungen mit Kontrakturen und/oder hohem Tonus bzw. einer Spastik, ist ein detaillierter Rollstuhl-Sitz-Befund notwendig. Dieser ist ebenfalls nach den Kriterien des ICF aufgebaut. Der Rollstuhl-Sitz-Befund beinhaltet detailliertere Angaben und Abklärungen zu den Körperfunktionen und ‑strukturen und wird von einem interdisziplinären Team, bestehend aus dem Paraplegiologen/Rehabilitationsmediziner, einem Orthopäden und einem Ergo- und Physiotherapeuten erhoben. Ferner werden ein Orthopädie-Techniker sowie ein Rollstuhlmechaniker mit ins Team einbezogen, sodass möglichst viele Ideen in das geeignete Versorgungskonzept einfließen können 2.
Assessment
Die bildgebende Diagnostik wird bei schweren Fehlhaltungen in Betracht gezogen und mittels EOS-Röntgenbild der Wirbelsäule mit Becken und Kopf in der frontalen und sagittalen Ebene durchgeführt (Abb. 2). Die Physiotherapeuten erfassen den Muskel- und Gelenkstatus der unteren Extremitäten und die Beweglichkeit des Rumpfes und des Beckens. Gemeinsam mit den Ergotherapeuten werden die Schmerzen und die Spastizität untersucht, zudem werden Gelenkseinschränkungen und Kontrakturen gemessen.
Die anatomischen Maße des Körpers des Patienten werden bei jedem Rollstuhl-Sitz-Befund gemessen. Dies erleichtert es, Material zu Demozwecken zu bestellen und anzupassen oder einen Rollstuhl mit Sitzsystem für den nächsten Termin optimal vorzubereiten. Vorlage für die Messungen sind die Richtlinien der Paralyzed Veterans of America (PVA) 3 .
Zur Ergänzung des Rollstuhl-Sitz-Befunds wird im SPZ Nottwil das sogenannte Matt-Assessment durchgeführt. Hierbei transferiert der Patient aus dem Rollstuhl auf die Behandlungsbank, und die Sitzposition wird nochmals von den Ergo- und Physiotherapeuten analysiert. Es ist wichtig, dass dabei die Schwerkraft ausgeschaltet ist und der Patient in Rücken- oder gegebenenfalls Seitenlage untersucht werden kann. Mit und ohne Schwerkraft werden große Unterschiede in der Ausprägung der Fehlhaltung festgestellt, was sich in der Folge erheblich auf das Behandlungs- und Versorgungskonzept auswirken kann.
Im SPZ Nottwil wird vor und nachder Neuversorgung eine Fotodokumentation erstellt. Hierbei werden in einer standardisierten Form die Patientender frontalen, der sagittalen und der transversalen Ebene fotografiert.
Schlussfolgerung
Das Vorgehen nach ICF erhöht die Präzision bei der Abklärung und Beratung. Es gewährleistet die Kompatibilität der Hilfsmittel mit dem Leben des Patienten und reduziert Anpassungszeiten sowie Nachbesserungen. Ein interdisziplinär abgestütztes Vorgehen garantiert ein besseres Outcome der Rollstuhl- und Sitzversorgung und langfristig zufriedenere Patienten.
Für die Autoren:
Stephan Mausen
Ergotherapeut BSc., Fachlicher Leiter Rollstuhl-Sitz-Zentrum,
Schweizer Paraplegiker-Zentrum
CH-6207 Nottwil
stephan.mausen@paraplegie.ch
Begutachteter Beitrag/reviewed paper
- Neue Risikogruppeneinteilung beim diabetischen Fußsyndrom (DFS) und bei den analogen Neuro-Angio-Arthropathien — 25. Oktober 2024
- 2‑Schalen-Orthese mit Kondylenabstützung in Carbontechnik zur orthopädischen Schuhversorgung — 4. Oktober 2024
- Orthopädische Versorgung der neuromuskulären Skoliose: Vorteile von biomechanisch optimierten Rumpforthesen am Beispiel des „neuroBrace“-Systems — 4. Oktober 2024
- World Health Organization (WHO). ICF. Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit. Herausgegeben vom Deutschen Institut für Medizinische Dokumentation und Information, DIMDI, WHO-Kooperationszentrum für das System Internationaler Klassifikationen. Stand Oktober 2005. Genf: World Health Organization, 2005 (deutsche Ausgabe der englischsprachigen Originalausgabe 2001). http://www.dimdi.de/dynamic/de/klassi/downloadcenter/icf/endfassung/icf_endfassung-2005–10-01.pdf (Zugriff am 27.02.2016)
- Mausen S. The ICF: As Effective as a Swiss-made Watch When Used in Seating and Mobility? Presentation at the International Seating Symposium, Nashville, Tennessee (USA), 2014
- Waugh K, Crane B. A Clinical Application Guide to Standardized Wheelchair Seating Measures of the Body and Seating Support Surfaces. Funded by the Paralyzed Veterans of America Education Foundation Grant # 668. Revised Edition. Denver, Colorado (USA): University of Colorado/ Assistive Technology Partners, 2013