Einleitung
Mittlerweile wird die Behandlung der idiopathischen Skoliose mit einem Korsett als wirksam angesehen. Durch ein Cochrane Review 1 konnte dessen Wirksamkeit schon 2010 bestätigt werden. Ganz aktuell ist eine randomisierte kontrollierte Untersuchung (RCT) aus Nordamerika 2. Dieser Studie lagen die von der Scoliosis Research Society (SRS) empfohlenen Einschlusskriterien zugrunde 3. Die Erfolgsrate (keine Krümmungszunahme von mehr als 5° Cobb) lag in dieser Untersuchung mit eher symmetrischen Korsetten aus den USA und Kanada (TLSO) bei ca. 72 %.
In zwei retrospektiven Untersuchungen aus Deutschland 4 und aus Italien 5 (beide ebenfalls mit den SRS-Einschlusskriterien) mit Korsetten asymmetrischer Bauweise lag die Erfolgsrate bei über 95 %. Den beiden zuletzt genannten Untersuchungen lag die Anwendung der Korrekturprinzipien nach Chêneau zugrunde. Zwar sind die zitierten Studien nicht vollumfänglich vergleichbar, da sie nicht das gleiche Studiendesign aufweisen, dennoch ist der Unterschied in der Erfolgsrate bei gleichen Einschlusskriterien sicherlich bedeutsam. Asymmetrische (mustergenaue) Korsette sind offenbar symmetrischen (oder unspezifischen) Korsetten hinsichtlich der Ergebnisse überlegen. Es stellt sich daher die Frage, wie man für die Betroffenen den bestmöglichen Behandlungserfolg garantieren kann, opfern diese doch einen erheblichen Teil ihrer Lebensqualität der Korsettbehandlung.
Das Chêneau-Korsett kann als ursprünglicher Vertreter der asymmetrischen Baureihen angesehen werden. Es kann entweder individuell nach Gipsabdruck modelliert und tiefgezogen werden oder nach den individuellen Maßen bzw. Scandaten als CAD/CAM-Modell (Computer Aided Design/Computer Aided Manufacturing) gefräst und tiefgezogen werden.
Derzeit gibt es mehrere CAD-Baureihen, welche auf die ursprünglich von Dr. Jacques Chêneau entwickelten Korrekturprinzipien zurückgehen. Bevor wir uns den Chancen und Risiken der CAD-basierten Chêneau-Korsette widmen, soll zunächst die Entwicklung des Chêneau-Korsetts kurz umrissen werden.
Die Entwicklung der Chêneau-Korsettversorgung beginnt in den 70er Jahren in Münster/Westfalen. An der dortigen Universitätsklinik wurde aus den Gießharzversorgungen Chêneaus das Chêneau-Toulouse-Münster-(CTM-)Korsett aus Polyethylen entwickelt 6. Die Entwicklung des Chêneau-Korsetts ist allerdings auch eng mit der Dreidimensionalen Skoliosebehandlung nach Katharina Schroth verwoben. Schon in den 70er Jahren besuchte Dr. Chêneau Katharina Schroth und ihre Tochter, Christa Lehnert-Schroth, in deren Sanatorium in Sobernheim. Während dieser Zeit lernte Chêneau viel über das skoliotische Atemmuster und dessen Korrektur durch Physiotherapie (Dreh-Winkel-Atmung).
Mit diesen Erkenntnissen wurden die Freiräume der damaligen Chêneau-Orthese verbessert. Chêneau lernte auch die Musterklassifikation nach Lehnert-Schroth kennen, die er sich zu eigen machte und bei den regelmäßigen Kursen in den 90er Jahren als Standard verwendete 7 8 9 10. Diese Musterklassifikation wird auch heute noch verwendet. Der Autor hat diese allerdings 2010 ausgeweitet, um die CAD/CAM-Versorgung weiter differenzieren und verbessern zu können 11.
Vorläufer der heute vom Autor angewendeten CAD-/CAM-Versorgungen waren eigene Modifikationen, nachdem das von Chêneau empfohlene Modell 2000 nicht die gewohnten Korrekturen ermöglichte. Es war immer ein Anliegen des Autors, die Korsette für die Patienten kleiner und angenehmer zu machen. Somit wurde ab 2001 bei der eigenen Weiterentwicklung zunächst – entgegen der Meinung Chêneaus – grundsätzlich eine Beckenhälfte weggelassen (Abb. 1) 12. Später folgte die Entwicklung der Chêneau-light-Modelle 13. Im Jahr 2009 schließlich begann die Entwicklung einer eigenen CAD-Serie (Gensingen Brace nach Dr. Weiss® – GBW) mit nochmals optimierter Sagittalkorrektur 14. Mit der eigenen Bibliothek ist es dem Autor nun möglich, seine Erfahrungen aus mehr als 30.000 Versorgungen einfließen zu lassen und weitere Entwicklungsschritte in Richtung eines kleineren und bei bestmöglicher Korrektur angenehmeren Korsetts zu machen (Abb. 2).
Die wissenschaftlichen Grundlagen der Chêneau-Korsettversorgung
Im Jahr 1985 wurde die erste Studie zum Chêneau-Korsett mit den Endergebnissen nach Korsettabschulung von Hopf und Heine veröffentlicht 15. Diese Studie hatte keine Kontrollgruppe; allerdings wurden die Korrektureffekte der damaligen Chêneau-Versorgungen angegeben. Diese können mit den heute erzielten verglichen werden. Später gab es noch eine Reihe von Veröffentlichungen zum Chêneau-Korsett mit vergleichbaren Korrekturergebnissen 16. Schon damals waren die Korrektureffekte beim Chêneau-Korsett denen beim eher symmetrisch gebauten Boston Brace klar überlegen 17.
In letzter Zeit haben sich die Korrekturergebnisse beim Chêneau-Korsett unterschiedlicher Baureihen noch steigern lassen (Tab. 1 aus 18). Interessant sind auch die Endergebnisse der zuletzt veröffentlichten Untersuchungen: Lag die Erfolgsquote (keine nachgewiesene Progression) beim Standard 1999/2000 in einer prospektiven Studie noch bei ca. 80 % 19; so können wir heute mit modifizierten Chêneau-Korsetten aktuellen Standards nach zwei unabhängigen Untersuchungen davon ausgehen, dass die Erfolgsquote bei über 95 % liegt 20 21.
Die beiden letztgenannten Studien sind zwar retrospektiv, berücksichtigen jedoch die von der Scoliosis Research Society (SRS) empfohlenen Einschlusskriterien 22. Dennoch liegen die Endergebnisse weit über denen der randomisierten Studie aus Nordamerika mit einer Erfolgsrate von 72 %, die dort bereits als Nachweis für die Wirksamkeit von Skoliose-Orthesen gefeiert wird 23.
Die Wirkungsweise der modernen Chêneau-Versorgung geht jedoch über die Beherrschung der Krümmungszunahme oder über mögliche Krümmungskorrekturen im Wachstumsalter (Abb. 3) hinaus 24. Mittlerweile ist belegt, dass auch bei Krümmungen jenseits der 50°-Grenze bedeutsame kosmetische Korrekturen der Rumpfasymmetrie möglich sind (Abb. 4) 25.
Chancen der CAD-basierten Chêneau-Versorgung
Die Fertigung nach Gipsabdruck ist auch heute noch weit verbreitet. Sie ist kaum standardisierbar, weil jedes Korsett von Neuem modelliert und aufgebaut wird. Die Variabilität ist dementsprechend groß und kann bei guten Technikern zwischen „befriedigend” und „sehr gut” liegen; bei Technikern ohne entsprechende Erfahrung wird das Ergebnis die Note „befriedigend” selten erreichen. Dabei ist es für die Betroffenen wichtig, einen optimalen Korrektureffekt und gleichzeitig ein Höchstmaß an Komfort zu erzielen. Nur bei gutem Korrekturergebnis in Verbindung mit einer optimalen Tragezeit ist bekanntlich das bestmögliche Behandlungsergebnis zu erwarten 26.
Die Fertigung von Chêneau-Orthesen nach den individuellen Maßen bzw. Scan-Daten als CAD/CAM-Versorgung kann hingegen unter bestimmten Bedingungen eine hohe Versorgungssicherheit bieten. Voraussetzung hierfür ist erstens eine evaluierte Korsettbibliothek, zweitens die Supervision durch einen Spezialisten und drittens ein verzerrungsfreies Programm zur Größenanpassung.
Der Korrektureffekt in der Orthese und die Compliance der Patienten bestimmen maßgeblich das Endresultat 27. Eine nach den neuesten Erkenntnissen gearbeitete mustergenaue Orthese sorgt für den (dreidimensionalen) Korrektureffekt. Bequemlichkeit und Unauffälligkeit einer Orthese tragen neben einer psychologisch geschickten Patientenführung zu einer bestmöglichen Compliance bei. Bequem kann eine Orthese nur sein, wenn Kompressionseffekte ausgeschlossen werden. Dies lässt sich mit der steten Produktentwicklung CAD-basierter Orthesen durch Verbesserungen der CAD-Bibliothek gewährleisten. Auch die Verkleinerung der Orthese, eine Reduktion auf das absolut Notwendige, lässt sich während der Entwicklungsphase verwirklichen.
Die Musterbibliothek des Gensingen Brace nach Dr. Weiss® (GBW) besteht aus 7 Grundmustern (Abb. 5). Diese wurden aus der Augmentierten Lehnert-Schroth-(ALS-)Klassifikation abgeleitet 28. Weniger häufig wiederkehrende Sonderformen sind zusätzlich hinterlegt. Hierdurch ist die Mehrzahl der möglichen Krümmungsmuster abgedeckt (ca. 90 %).
Für die restlichen ca. 10 % kann nach Modellauswahl und Größenanpassung eines (dem Muster des Patienten nahekommenden) Grundmodells eine Nachbearbeitung und Optimierung mit einem Spezialprogramm am Computer erfolgen. Dadurch kann man auch bei seltenen Krümmungsmustern einen optimalen Korrektureffekt erzielen. Dieser steht in Abhängigkeit von den beschriebenen Faktoren, die das Korrekturergebnis beeinflussen 29. Somit ist eine höchst individuelle Korsettversorgung auch mit wenigen Grundmustern möglich.
Mit der CAD-basierten Orthesenversorgung ist bei Verwendung einer geeigneten Bibliothek gesammeltes und bewährtes Wissen jederzeit und allerorten verfügbar. Eine solche Versorgung ist nicht von der Tagesform oder der Lernkurve des Technikers abhängig. Wenig spezialisierte Sanitätshäuser haben auf diese Weise Zugriff auf standardisierte und in der Praxis erprobte Modelle.
Ein weiterer Vorteil der modernen CAD/CAM-Technik liegt in der Versorgungsgeschwindigkeit. In der Praxis des Autors werden regelmäßig Patienten aus dem Ausland versorgt (Italien, England, Niederlande, Russland, USA, Neuseeland). Diesen Patienten können wir mit der CAD/CAM-Technik einen Over-Night-Service anbieten. Am Tag nach der Untersuchung wird das Korsett angepasst. Auch in den USA in der Praxis von Dr. Marc Moramarco wird das GBW über Nacht angepasst, manchmal sogar am selben Tag. Auch dort reisen die Patienten aus allen Bundesstaaten an.
Risiken der CAD-basierten Chêneau-Versorgung
Trotz aller Vorteile bleiben auch bei der CAD/CAM-Versorgung Fehlerquellen. Diese sind in der Regel auf ein falsches Design (z. B. „Flatback Design”), auf mangelhafte Formgebung oder auch einfach auf eine falsche Musterauswahl zurückzuführen.
Die Bedeutung des Sagittalprofils in der Versorgung idiopathischer Skoliosen – was spricht gegen ein „Flatback Design”?
Es gibt in Deutschland CAD-Baureihen, welche die Korrektur des Sagittalprofils vernachlässigen bzw. dieses gar noch in Richtung Flachrücken und LWS-Kyphose verstärken („Flatback Design”). Daher kann man solche Orthesen eigentlich nur für thorakale Kyphoskoliosen empfehlen (Abb. 6).
Die Mehrheit der Skoliosen ist idiopathisch (80 bis 90 %). Diese sind dadurch gekennzeichnet, dass sich bei Thorakalkrümmungen ein Flachrücken entwickelt. Lumbalkrümmungen führen zu einer Reduzierung der lumbalen Lordose bis hin zu einer lumbalen Kyphose. Der Abflachung des Sagittalprofils muss man daher in der Orthese mit einer Akzentuierung des Sagittalprofils begegnen, wenn man die Deformität in allen drei Ebenen folgerichtig korrigieren will.
Durch mehrere Studien wurde belegt, dass alleine die Relordosierung der oberen LWS auch zu einer Korrektur der Seitverbiegung beiträgt. In einer Fallstudie 30 und einer Studie mit einer Kleinserie 31 konnte belegt werden, dass Skoliosen durch einfache Relordosierung der oberen LWS korrigiert werden können. Zuletzt haben van Loon und Mitarbeiter 32 diese Erkenntnisse mit einer umfassenderen Röntgenstudie bestätigt. Schon deshalb verbietet sich heutzutage die Anwendung lumbal entlordosierender Orthesen bei der Behandlung der idiopathischen Skoliose. Erschwerend kommt hinzu, dass eine Reduktion der lumbalen Lordose eng mit dem Auftreten chronifizierter Rückenschmerzen im Erwachsenenalter korreliert 33 34.
Mangelhafte Formgebung
Die Formgebung eines Korsetts bezieht sich auf die Ausprägung einzelner Bereiche eines Korsettmodells. Die Chancen einer Bibliothek bergen hinsichtlich der Formgebung auch Risiken: Nicht erkannte systematische Fehler werden von Korsett zu Korsett mitgeschleppt. Ein solcher systematischer Fehler ist dem Autor immer wieder begegnet: die mangelhafte Rotationsstabilität der Korsette einer CAD-Serie.
Eine horizontale Rotationsinstabilität (Korsettverdrehung) entsteht meist durch einen mangelhaft oder gar nicht ausgeprägten Stopp-Punkt (Punkt 37 nach Chêneau) oder durch eine fehlerhafte Balance zwischen anderen Druckzonen. Hierbei dreht sich das Korsett meist auf der Rippenbuckelseite nach hinten. Der Rippenbuckel findet dann in dem einst ventral eingerichteten und nun lateral stehenden Freiraum (s. auch Abb. 5 unten rechts) Platz. Die eingangs noch gute Korrekturwirkung geht dadurch verloren. In manchen Versorgungsreihen tritt dieses Problem regelhaft auf und muss auf eine systematisch fehlerhafte Formgebung zurückgeführt werden (Abb. 7).
Ein fehlender oder zu geringer „Side Shift” oder auch zu wenig gebogene, zu wenig „gespiegelte” Formen führen zu einem geringen Korrektureffekt. Auch wenn alle Druckzonen auf der richtigen Höhe sind, muss man eine solche Orthese erneuern oder wenigstens umfassend ändern. Dann sind mitunter auch Ideen des spezialisierten Arztes gefragt, um eine bestehende Versorgung zu optimieren (Abb. 8).
Krümmungsmuster und Korsettauswahl
Die ursprüngliche Chêneau-Versorgung basierte auf der einfachen Klassifizierung nach Lehnert-Schroth 35 36. Chêneau propagierte ursprünglich einen Korsett-Typ für Krümmungen mit einem thorakalen Hauptbogen (3‑bogig) und einen weiteren für doppelbogige Krümmungen oder lumbal dominierte Krümmungen (4‑bogig). Diese einfache Klassifizierung nach Lehnert-Schroth ist auch heute noch für die befundgerechte Physiotherapie ausreichend. Für eine mustergenaue Versorgung mit korrigierenden Rumpforthesen dagegen ist eine weitere Ausdifferenzierung dieser Klassifikation notwendig.
Je mehr Wachstumserwartung ein Patient hat, desto mustergenauer muss man versorgen, um nicht zu einer Progression von Nebenkrümmungen beizutragen. Das Korsettmodell muss bei starker Wachstumserwartung das Krümmungsmuster exakt spiegeln, um eine Progredienz von Nebenkrümmungen sicher zu vermeiden (Abb. 9). Abbildung 10 gibt einen ursprünglich guten Behandlungsverlauf wieder, der durch eine unsachgemäße Weiterversorgung zunichte gemacht worden ist.
Je reifer ein Patient ist, desto mehr sollte man sich auf eine bestmögliche Korrektur der Hauptkrümmung konzentrieren. In manchen Fällen wird die Nebenkrümmung bewusst vernachlässigt. Eine solche Behandlungssteuerung verlangt große Behandlungserfahrung und kann nur von einem spezialisierten Facharzt gewährleistet werden. Gegen Ende des Wachstums muss vordringlich die statische Fehlausrichtung des Rumpfes (Dekompensation) gespiegelt werden. Nur so erreicht man ein ausbalanciertes Endresultat. Ein solches ist erstens kosmetisch am schönsten, hat zweitens das geringste Risiko einer Krümmungszunahme nach Wachstumsabschluss und nach Erfahrung des Autors drittens auch ein geringeres Schmerzrisiko im Erwachsenenalter 37 38.
Bei Verwendung des CAD-Verfahrens zur Individualanwendung ohne ausgereifte Bibliothek entstehen für die Patienten keine Vorteile gegenüber einer Versorgung nach Gipsabdruck – bis auf den Wegfall des für den Patienten unangenehmen Gipsabdrucks. Weder Design noch Formgebung oder Musterauswahl sind standardisiert. Erst nach einer mehrjährigen Lernkurve sind überdurchschnittliche Korsette möglich.
Mit jedweder durchschnittlichen oder unterdurchschnittlichen Individualanwendung enthält man seinen Patienten die aktuell bestmögliche Versorgung vor – mit für den Patienten meist unangenehmen Folgen. Entsprechende Erlebnisberichte sind im Skoliose-Ratgeber des Autors wiedergegeben 39 40. Regelhaft unterdurchschnittliche Ergebnisse, Schmerzen in der Orthese, eine unnötig lange Tragezeit, mangelnder Komfort und unnötige Behinderungen im Alltag können heute leicht vermieden werden.
Der Autor:
Dr. med. Hans-Rudolf Weiß
Orthopädie, Physikalische und Rehabilitative Medizin,
Chirotherapie, Physikalische Therapie
Gesundheitsforum Nahetal
Alzeyer Straße 23
55457 Gensingen
hr.weiss@skoliose-dr-weiss.com
Begutachteter Beitrag/Reviewed paper
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