Die Angst vor dem Sturz
Die genaue Zahl der amputierten Kinder und Jugendlichen in Deutschland ist nicht bekannt. Auf der Grundlage berufspraktischer Erfahrungen ist zu schätzen, dass etwa nur 1 bis 2 Prozent der Amputierten im Bereich der hohen Mobilitätsgrade (Mob. 3 und 4) heranwachsenden Prothesenträgern zugeordnet werden können. Diese niedrige Rate erklärt das geringe Angebot an geeigneten Passteilen in diesem Segment. Sport lässt sich damit nur bedingt ausüben. Selbst die im Kindesalter normalen Spielarten wie Fangen, Radfahren oder auch Rollschuhlaufen führen sehr schnell zum Verschleiß der aktuellen Passteile für den Nachwuchs.
Grundsätzlich ist es für die Orthopädie-Technik zwar kein Problem, defekte Teile auszutauschen. Es ist jedoch enorm wichtig, im Vorfeld darüber aufzuklären, um spätere Enttäuschungen und Verletzungsrisiken einzudämmen.
Generell befürchten Eltern, dass ihrem Nachwuchs etwas zustößt. Häufig ist diese Angst gesteigert, wenn es sich um Kinder oder Jugendliche mit Handicap handelt. Die meistgestellte Frage in diesem Zusammenhang lautet: „Kann mein Kind stürzen?”
Allerdings ist diese Sorge nur teilweise begründet. Auch gleichaltrige Heranwachsende ohne Handicap können beim Spielen stürzen. Je jünger Kinder sind, umso unbekümmerter gehen sie mit einer solchen Situation um. Sicher ist ein Sturzerlebnis nichts, worüber man sich besonders freut. Dennoch hilft es, Erfahrungen zu sammeln und den Bewegungsapparat besser zu steuern, um zukünftig ein solches Negativerlebnis nicht mehr erleiden zu müssen.
Zwar müssen Eltern in jedem Fall ihrer Fürsorgepflicht nachkommen und dürfen ihre Kinder weder unachtsam noch fahrlässig in Gefahr bringen. Dennoch ist den Erziehungsberechtigten zu empfehlen, ihren amputierten Nachwuchs mit der Alltagsprothese alle Bewegungsarten ausprobieren zu lassen.
Eltern als „Bewegungs-Manager” ihres Nachwuchses
Die besten Ergebnisse können mit Eltern erzielt werden, die es ihrem Kind von Anfang an zugestehen, mit der normalen Alltagsprothese all die Dinge zu versuchen, die auch Gleichaltrige mit zwei Beinen unternehmen. Die Eltern müssen allerdings darauf hingewiesen werden, dass eine regelmäßige Kontrolle und Wartung der Prothesen stattfinden muss.
So kann das Unfallrisiko minimiert und gleichzeitig während der Wartung mit den Eltern besprochen werden, welche Bewegungen bzw. Sportarten dem Kind besonderen Spaß bereiten. Daraus lassen sich wiederum die nächsten sinnvollen prothetischen Schritte ableiten.
Ein Problem in diesem Zusammenhang besteht häufig darin, dass Eltern nicht offen mit der Behinderung ihrer Kinder umgehen. Sie möchten zum Beispiel nicht, dass Dritte die Behinderung des Kindes sehen (z. B. auf einem Sportplatz in kurzer Hose). In solchen Fällen sollte der Orthopädie-Techniker die betroffenen Eltern dazu ermuntern, ihren Kindern mehr Spielraum für ihre normalkindliche Entfaltung zu geben. Hierbei empfiehlt es sich häufig, eine „Politik der kleinen Schritte” anzuwenden.
Andere Eltern wiederum gehen offener mit der Behinderung ihres Kindes um. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie nicht das Schicksal ihres Kindes sich selbst aufbürden. Stattdessen möchten sie, dass ihr Kind möglichst frei und ohne besondere Grenzen aufwachsen kann. Es soll in die Gesellschaft integriert und anerkannt werden. Hier ist der Orthopädie-Techniker aufgerufen, seinen Beitrag dazu zu leisten.
Interdisziplinäre Zusammenarbeit
Um eine erfolgreiche prothetische Sportversorgung bei Heranwachsenden zu gewährleisten, steht die interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Ärzten, Physiotherapeuten und Orthopädie-Technikern an erster Stelle. Selbst wenn kein aktiver Sport mit Prothesen betrieben wird, sollten in regelmäßigen Abständen die behandelnden Ärzte, Therapeuten und Orthopädie-Techniker sich ein Gesamtbild der aktuellen Versorgungssituation machen können. Dabei spielen die muskulären und knöchernen Wachstumsstrukturen die größte Rolle.
Auch hierbei haben die Eltern eine wichtige Funktion, denn die Regeltermine müssen von ihnen organisiert werden. Dabei ist wichtig, dass in kurzen Abständen (mindestens alle 3 bis 6 Monate) das Wachstum des Kindes überwacht wird, um die entsprechende prothesenseitige Anpassung körpergerecht durchführen zu können.
Neben dem Längenwachstum spielt die Entwicklung des Stumpfes eine übergeordnete Rolle. Entsprechend sind Anpassungen im Schaftbereich innerhalb der Wachstumsphasen notwendig. Es ist stets sicherzustellen, dass die Kraftübertragung zwischen Stumpf und Schaft gewährleistet ist.
Welche Schäden eine ungeeignete oder auch übertriebene sportliche Betätigung amputierter Kinder und Jugendlicher langfristig nach sich ziehen kann, ist bisher nicht wissenschaftlich untersucht worden. Der Leistungsgedanke sollte allerdings nicht im Fokus stehen, wenn es um den Sport von heranwachsenden jungen Menschen mit Prothesen geht.
Zuweilen ist es schwierig, einen geeigneten Verein zu finden; hier ist wiederum das Engagement der Eltern gefragt. Nicht selten kommt es vor, dass Vereine oder Trainer aus dem Nichtbehindertensport die Aufnahme von Sportlern mit Prothesen ablehnen. Fälschlicherweise geht man dort von zu hohen Verletzungsrisiken aus. Anfragen werden mit dem Hinweis abgelehnt, sich an einen Behindertensportverein zu wenden. Hier sind die Eltern gefragt, sich für das sportliche Wohl ihres Kindes einzusetzen.
Fallbeispiel Philipp Wassenberg
Im Folgenden wird ein Fall aus der Berufspraxis des Verfassers geschildert, der zeigt, wie mit einer adäquaten Versorgung auch den Ansprüchen im Spitzensport Genüge getan werden kann (Abb. 1 u. 2).
Philipp Wassenberg wurde 1998 geboren. Aufgrund eines Ewing-Sarkoms erfolgte im Alter von neun Jahren eine Knieexartikulation. Dank seiner Eltern musste Philipp seine sportlichen Ambitionen deshalb jedoch nicht aufgeben. Mithilfe des behandelnden Arztes in der Kinder-Uni-Klinik Bonn nahmen sie Kontakt zu dem ebenfalls knieexartikulierten Sportler Heinrich Popow auf, einem erfolgreichen Sprinter, der bei den Paralympics in London 2012 eine Goldmedaille gewann.
Nach einigen intensiven Gesprächen zwischen Popow, Philipp und seinen Eltern war der sportliche Weg für Philipp geebnet.
Nach überstandener Chemotherapie und Interims-Prothesenversorgung wurde Philipp mit einem PU-Liner-System innerhalb eines Carbon-Rahmenschaftes versorgt. Zunächst wurden die Knieprothese Junior-Total Knee und die Fußprothese Flex-Foot-Junior Set (beides Fa. Össur) eingesetzt (Abb. 3 u. 4).
Bereits kurz nach der Eingewöhnungsphase war Philipp kaum mehr zu bremsen, ob beim Klettern, Radfahren oder auch Skateboarden. Dabei blieb der eine oder andere Sturz mit den daraus resultierenden Schürfwunden und kaputten Hosen nicht aus.
Seine damaligen Mitschüler machten ihm dabei das Leben jedoch nicht gerade einfach. Das führte dazu, dass Philipp immer wieder versuchte, trotz seines Handicaps mehr als die Mitschüler zu leisten. Als seine Eltern spürten, dass er sich dabei einem negativen Stress aussetzte, organisierten sie den Wechsel an eine andere Schule, der sich sehr positiv auswirkte und Philipp mehr Lebensfreude verschaffte. Durch Philipps Bewegungsdrang wurden allerdings die Passteile derart überfordert, dass z. B. das Kniegelenk nur eine Haltbarkeitsdauer von maximal drei Monaten hatte.
Philipp schloss sich in der Folge dem Leichtathletik-Nachwuchs-Team der Behindertensportabteilung des TSV Bayer 04 Leverkusen an. Lizenzierte Trainerinnen und Trainer coachen die Nachwuchskräfte dort ein bis zwei Mal pro Woche.
Dies erhöhte den Passteilverschleiß nochmals enorm. Es blieb nur der Weg, Philipp mit Materialien und Passteilen zu versorgen, die im Normalfall im Erwachsenenbereich eingesetzt werden. Dabei ergaben sich zwei Probleme: das verhältnismäßig hohe Gewicht der Passteile und die Bauhöhen-Vorgaben. Somit waren Sportler und Techniker gleichermaßen gefordert.
Innerhalb der ersten zwei Jahre absolvierte Philipp seine Trainings- und auch Wettkampfeinsätze mit einem Total-Knee 2000 (Abb. 5) unter der Verwendung eines Modular-3-Carbon-Fußes (Abb. 6) (beides Fa. Össur). Mit steigender Trainingsintensität stellten die Trainer und Philipp allerdings fest, dass sich sein Laufbild mit steigender Geschwindigkeit kontinuierlich verschlechterte. Seit dem Spätsommer 2012 nutzt Philipp daher das Sport-Kniegelenk 3S80 (Abb. 7), welches in Verbindung mit einem 1E90 Sprintfuß (Abb. 8) (beides Fa. Otto Bock) für ihn die optimale sportliche Lösung darstellt.
Seine sportliche Leistungsfähigkeit dokumentierte Philipp während der Junioren-Weltmeisterschaften 2013 in Puerto Rico. Dort gewann er in den Sprint-Disziplinen über 100 und 200 Meter jeweils die Goldmedaille in seiner Altersklasse. Im Weitsprung erreichte er mit persönlicher Bestweite die Bronzemedaille. Philipp Wassenberg wird bereits als legitimer Nachfolger seines Vereinskameraden Heinrich Popow gehandelt – vorausgesetzt, er verfolgt sein Ziel weiterhin so engagiert.
Fazit
Das Beispiel zeigt, wie mittels einer engen Zusammenarbeit der Beteiligten und der Suche nach der besten Versorgung nicht nur den alterstypischen Anforderungen begegnet werden kann, sondern dass dadurch sogar sportliche Spitzenleistungen erzielt werden können. Es wäre allerdings wünschenswert, wenn die Passteil-Industrie zukünftig verstärkt geeignete Kniegelenke und Fußmodule für die Versorgung heranwachsender Prothesenträger entwickeln und liefern könnte.
Der Autor:
Thomas Kipping
Orthopädie-Techniker-Meister
APT Service GmbH
Im Diehlstein 1
56459 Stockum-Püschen
t.kipping@apt-service.de
Begutachteter Artikel / reviewed paper
Kipping T. Sportprothesen in der Kinder- und Jugendlichenversorgung. Orthopädie Technik, 2014; 65 (2): 42–45
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