Einleitung: Schlaganfall aus medizinischer Sicht
Der Begriff Schlaganfall bezeichnet einen „schlagartig“ auftretenden Ausfall von Gehirnfunktionen. „Schlaganfall“ ist der Oberbegriff für die akute Schädigung von Hirnarealen, die entweder infolge eines Gefäßverschlusses (Hirninfarkt, ischämischer Infarkt) oder durch eine Hirnblutung (hämorrhagischer Infarkt) verursacht wird 1 2. Für Studienzwecke (vor allem die sogenannten MONICA-Projekte) definiert die WHO den Terminus Schlaganfall als ein Ereignis mit rasch sich entwickelnden klinischen Symptomen für eine fokale (oder globale) Funktionsbeeinträchtigung des Gehirns, die mindestens 24 Stunden andauern oder zum Tod führen kann, und für das es keine anderen als vaskuläre Ursachen gibt 3.
Ein Gefäßverschluss im Gehirn entsteht entweder durch einen Blutpfropf, der sich im Herzen oder an Ablagerungen in den großen hirnversorgenden Gefäßen wie der Halsschlagader gebildet hat und mit dem Blutstrom ins Gehirn verschleppt wurde (Thrombembolie), oder durch die Zunahme von Ablagerungen an den Gefäßinnenwänden der größeren oder kleineren Hirngefäße (Arteriosklerose). Die Ablagerungen in den Gefäßen bestehen meist aus Cholesterin und Kalk. Blutgerinnsel können sich auflagern und dann das Gefäß verschließen. Wenn das Gefäßinnere nur eingeengt ist, aber die Herztätigkeit oder der Blutkreislauf gestört sind, kann die Blutversorgung in den Hirnabschnitten nach der Gefäßengstelle gestört sein oder sogar zum Erliegen kommen (Endstrominfarkt). Je nachdem, ob ein Hauptstamm der hirnversorgenden Schlagadern (vordere, mittlere oder hintere Carotis-Arterie) oder nur eine kleine Endaufzweigung verschlossen wurde, unterscheidet man zwischen Territorialinfarkt und lakunärem Infarkt:
- Bei territorialen Infarkten sind die neurologischen Ausfälle größer und i. d. R. länger anhaltend, wenn sie nicht durch eine erfolgreiche Therapie innerhalb der ersten Stunden in einer Schlaganfallspezialeinheit („Stroke Unit“) beseitigt werden können.
- Lakunäre Infarkte müssen nicht einmal klinische Symptome verursachen – sie werden oft erst zufällig entdeckt, wenn aus anderen Gründen ein CT oder ein MRT des Gehirns angefertigt wird. Summieren sich lakunäre Infarkte, begünstigen sie Erkrankungen wie Parkinson-Syndrome oder Demenz.
Die unterschiedlichen Arten von Hirninfarkten machen ca. 80 bis 85 % aller Schlaganfälle weltweit aus 4. Bei Hirnblutungen unterscheidet man direkte Einblutungen ins Hirngewebe (primäre Hirnblutung) oder in den Raum zwischen Schädelknochen und Gehirn, der mit Liquor gefüllt ist (Subarachnoidalblutung, SAB). Das Blut kann zusätzlich auch in liquorgefüllte Hirnkammern einbrechen (Ventrikeleinbruch). Ursache für eine SAB ist oft eine Aussackung (Aneurysma) oder eine Missbildung (Malformation) an den Hirngefäßen. Hirnblutungen und SAB machen ca. 10 bis 15 % aller Schlaganfälle aus 4. Der Rest ist durch seltene Ursachen bedingt. Die Feststellung der (wahrscheinlichsten) Schlaganfallursache ist wesentliche Grundlage für die (Akut-)Behandlung und die Wahl der Strategie zur Verminderung/Vermeidung des Wiederholungsrisikos (Rezidivprophylaxe, Sekundärprävention) 5.
Epidemiologische Daten zum Schlaganfall
Der Schlaganfall spielt mit ca. 270.000 Ereignissen pro Jahr in Deutschland im neurologischen Krankheitsgeschehen eine große Rolle; davon sind ca. 75 % Erst- und ca. 25 % Wiederholungsereignisse 6. In einer Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland (DEGS1) 7 wurden zwischen 2008 und 2011 in einer bevölkerungsbezogenen Stichprobe mit Probanden im Alter von 40 bis 79 Jahren Daten zur Prävalenz (also dem Vorhandensein) eines (erlittenen) Schlaganfalls erhoben. Die Lebenszeitprävalenz in dieser Altersgruppe beträgt insgesamt 2,9 % (Frauen 2,5 %, Männer 3,3 %). Gegenüber einer vergleichbaren Untersuchung aus dem Jahr 1998 (BGS98) nahm die Prävalenz insgesamt um + 0,5 Prozentpunkte (Frauen + 0,2, Männer + 0,9) zu. Diese Zunahme kann allerdings auch durch verbesserte Diagnostik und Erfassung bedingt sein. In den letzten Jahren scheinen weltweit Inzidenzen und Akutkrankenhausbehandlungen aufgrund eines Schlaganfalls in den Industrieländern leicht rückläufig zu sein 7 8.
Wie Tabelle 1 zeigt, nimmt die Prävalenz mit dem Alter zu 9; der Anstieg beginnt etwa ab 60 Jahren deutlich zu werden. Ein Schlaganfall kann aber bereits im Kindesalter auftreten. Die Altersabhängigkeit hat sich bereits in großen deutschen Bevölkerungsregistern wie dem „Erlanger Schlaganfall Projekt“ (ESPro; publiziert 2006 10) gezeigt: Die Inzidenz (also das Auftreten) von Schlaganfällen betrug demnach 174 Ereignisse pro 100.000 Einwohner pro Jahr; sie stieg von 4 pro 100.000 pro Jahr in der Altersgruppe „25 bis 34 Jahre“ auf 2.117 pro 100.000 pro Jahr in der Altersgruppe „85 Jahre und älter“ an. Schlaganfälle bei Kindern und Jugendlichen wurden nicht erfasst, obwohl sie durchaus vorkommen. In den letzten Jahren ist die Inzidenz allerdings trotz alternder Bevölkerung rückläufig, wie sich auch anhand der Zahl der Krankenhausbehandlungen wegen Schlaganfalls erkennen lässt 7 11. Da mehr Betroffene überleben, bleibt die Zahl der Menschen, die mit einem erlittenen Schlaganfall leben (Prävalenz), in den jeweiligen Altersgruppen in etwa gleich. Bei der insgesamt alternden Bevölkerung nimmt jedoch die Gesamtzahl der Menschen zu, die einen Schlaganfall erlitten und überlebt haben. Wie sich in Tabelle 1 zeigt, ergab die Studie DGES1 7, dass Schlaganfallinzidenz und ‑prävalenz nicht nur alters‑, sondern auch geschlechtsabhängig sind: Bei jüngeren Frauen (< 50 Jahre) liegt beides zwar etwas höher als bei gleichaltrigen Männern – danach kehrt sich das Verhältnis jedoch um und verbleibt so bis ins hohe Lebensalter.
Außerdem zeigt sich in der DEGS1-Studie 7 eine Abhängigkeit zwischen Inzidenz und Prävalenz einerseits und dem Sozialstatus andererseits: Vor allem bei Frauen gibt es ein starkes Gefälle der Lebenszeitprävalenz vom Sozialstatus „niedrig“ (Frauen 4,9 %; Männer 4,6 %) über „mittel“ (Frauen 2,1 %, Männer 3,3 %) zu „hoch“ (Frauen 0,3 %, Männer 2,0 %). Ähnliches zeigt sich auch in einer nationalen Studie zur Schlaganfallprävalenz in China (n = 207.323) 12: Dort war die Prävalenz in den ärmeren, ländlich strukturierten Regionen signifikant höher als in den prosperierenden Industriestädten (2,3 % versus 1,9 %). Ebenso zeigte dort die Prävalenz ein Gefälle gemäß dem Bildungsniveau: Ein niedriges Bildungsniveau bedingte eine Prävalenz von 2,5 %, ein mittleres eine von 2,2 % und ein hohes eine von 1,9 %.
Durch die Akutversorgung, vor allem in den „Stroke Units“, überleben ca. 80 % der Patienten 13. Diese Quote entspricht etwa den ersten ESPro-Daten: In den ersten vier Wochen nach dem Ereignis verstarben 19,4 % der Betroffenen, innerhalb der ersten drei Monate 28,5 %, im ersten Jahr 37,3 % 8 10. Die Behandlung in einer zertifizierten Stroke Unit verbessert zwar signifikant die Überlebensquote – nach wie vor erreichen aber nicht alle Patienten schnell genug eine solche auf Schlaganfälle spezialisierte Einrichtung. Noch zu oft werden typische Symptome nicht zum Anlass genommen, sofort einen Notarzt zu rufen und die Einweisung in eine Stroke Unit zu veranlassen. Die verstreichende Zeit vor Erreichen einer Stroke Unit ist mitverantwortlich für die fortbestehende hohe Sterblichkeit in der Akutphase. Daher lautet der Slogan zur Aufklärung über den Schlaganfall: „Time is brain“ („Zeit ist Gehirn“) 4 6.
Der Schlaganfall ist und bleibt die dritthäufigste Todesursache sowohl in Deutschland als auch in vielen anderen industrialisierten Staaten 14. In Schwellenländern tritt der Schlaganfall oft noch häufiger über alle Altersgruppen hinweg und altersmäßig früher auf; die Todesrate ist z. T. deutlich höher 12 15. Für Entwicklungsländer gibt es bisher nur wenige zuverlässige Studien, jedoch wird über höhere Inzidenzen und ein Auftreten in noch früherem Lebensalter berichtet 15 16. Der Schlaganfall ist zudem die häufigste Ursache für neu entstandene Behinderung und Pflegebedürftigkeit ab dem mittleren Lebensalter 12 15 16, zumindest in Industriestaaten und Schwellenländern.
Risikofaktoren und Primärprävention
Der mit Abstand wichtigste Risikofaktor ist Bluthochdruck (arterielle Hypertonie). Die davon Betroffenen haben ein dreifach erhöhtes Risiko, einen Schlaganfall zu erleiden (Odds Ratio 2,98). Fast die Hälfte aller Schlaganfälle ist die Folge eines über Jahre zu hohen Blutdrucks. Eine konsequente, vorwiegend medikamentöse Behandlung der arteriellen Hyper tonie gemäß Leitlinien ist daher dringend notwendig. Dies wird in Staaten mit guter medizinischer Versorgung auch umgesetzt und trägt zum beobachteten Rückgang der Schlaganfall-Inzidenz bei 5 15 16. An zweiter Stelle der Risikofaktoren steht bereits der Bewegungsmangel: Wer vier Stunden in der Woche Sport treibt oder anderweitig körperlich aktiv ist, kann sein Schlaganfallrisiko um 40 % senken (Odds Ratio 0,60). Tabelle 2 zeigt einen Auszug aus den nationalen Bewegungsempfehlungen für Schlaganfallbetroffene 17. Die Empfehlungen für Gesunde weichen davon nicht sehr stark ab, insbesondere im Hinblick auf die Schlaganfallvorbeugung. In den westlichen Ländern sind Übergewicht und Adipositas ein weiterer wichtiger Risikofaktor: Ein Taille-Hüfte-Verhältnis im oberen Drittel ist hier für 36,7 % der Schlaganfälle verantwortlich (Odds Ratio 1,44). Übergewicht und Adipositas begünstigen auch medizinische Risikofaktoren wie erhöhte Blutfette (Cholesterin, Triglyzeride) und Diabetes mellitus Typ 2 („Alterszucker“). Wenn diese über Laborwerte nachgewiesen sind, steigt das Schlaganfallrisiko (Odds Ratio 1,84 für hohe Blutfette bzw. 1,16 für Diabetes). „Ungesunde“ Ernährung wird neben Bewegungsmangel für diese Risikofaktoren verantwortlich gemacht; stattdessen wird gesunde „Mittelmeerkost“ empfohlen 15. Der wichtigste kardiale Risikofaktor ist zeitweises Auftreten oder ständiges Vorhandensein von Vorhofflimmern oder ‑flattern (VHF) (Odds Ratio 3,17). Daher sollte in gewissen zeitlichen Abständen mittels eines Langzeit-EKGs danach gesucht werden. Falls VHF nachgewiesen wird, muss eine spezifische medikamentöse Therapie zur Blutverdünnung (orale Antikoagulation) eingeleitet werden, um das dadurch gegebene Schlaganfallrisiko zu minimieren 5 15 18. Auch hilft der Verzicht auf Rauchen (Odds Ratio 1,67) oder auf übermäßigen Alkoholkonsum (Odds Ratio 2,09), das persönliche Schlaganfallrisiko zu senken 5 15 16. Psychosozialer Stress gilt als weiterer Risikofaktor (Odds Ratio 2,2). Was alles für einen Menschen psychosozialer Stress sein kann, ist in den genannten Studien jedoch nicht genauer definiert. Psychosozialer Stress verschlimmert auch Bluthochdruck, die Blutfettwerte und den Blutzucker-Stoffwechsel, begünstigt Rauchen und Alkoholkonsum; ein Teufelskreis entsteht 5.
Sekundärpräventionund Langzeitverlauf
Rehabilitation und Nachsorge
Von den Schlaganfall-Überlebenden tragen 60 % anhaltende neurologische Symptome und Defizite davon (Tab. 3); 25 % der Betroffenen bleiben in erheblichem Umfang pflegebedürftig 19. Nur ein gewisser Teil der Schlaganfallpatienten erhält in Deutschland eine Anschlussrehabilitation 20, entweder zu Lasten der GKV (ca. 50 % der akut im KH behandelten Versicherten 19) oder im Rahmen des AHB-Verfahrens der DRV (2018: ca. 20.000 stationäre und 3.500 ganztägig ambulante Maßnahmen 21). Wiederholungsmaßnahmen sind bei beiden Leistungsträgern eher selten. In der vertragsärztlichen Versorgung spielt zwar die an Akutbeandlung und/oder Anschlussrehabilitation anschließende Heilmittelversorgung 18 22 noch eine gewisse Rolle (ca. 40 % 19), sie verliert im Langzeitverlauf jedoch an Bedeutung 23 24 22. Die Sekundärprävention weicht, was die festgestellten Risikofaktoren betrifft, nicht von der Primärprävention ab: Blutdruck, Blutfette und Blutzucker müssen in den Normalbereich gebracht und dort gehalten werden; meist ist dies ohne Medikamente nicht möglich. Bei Hirninfarkten sind zusätzlich spezifische Medikamente notwendig, sogenannte Thrombozytenaggregationshemmer (TAH) wie z. B. ASS oder orale Antikoagulanzien (OAK) wie z. B. Marcumar® oder neuere gleichartig wirkende Substanzen (NOAKs) 5 18. Mit diesen Medikamenten sollen die Blutgerinnung und die Bildung von Blutpfropfen in den hirnversorgenden Gefäßen oder im Herzen verhindert werden. Diese Medikamente müssen dann meist lebenslang eingenommen werden. Regelmäßige körperliche Aktivität und Sport (siehe Empfehlungen in Tab. 2), Nikotinkarenz, Verringerung des Alkoholkonsums, Ernährungsumstellung auf Mittelmeerkost und Aneig nen von Strategien zum Umgang mit (psychosozialem) Stress sind die zur Sekundärprävention beitragenden Lebensstiländerungen 5 15 18.
Langzeitverlauf – Daten aus Studien des Autors
Die in eine Studie des Autors zum Vergleich der Schlaganfallrehabilitation und ‑nachsorge in vier europäischen Ländern („CERISE“) eingeschlossenen Patienten (n = 532) konnten fünf Jahre danach an ihrem aktuellen Aufenthaltsort mit denselben Instrumenten nachuntersucht werden 25. 183 Patienten (34 %) waren inzwischen verstorben; 72 konnten aus anderen Gründen nicht mehr erfasst werden. Die Mortalität war in folgenden Fällen erhöht:
- bei höherem Alter (Hazard Ratio [HR] 1.06),
- bei Vorliegen von kognitiven Störungen (HR 1.77),
- bei Diabetes mellitus (HR 1.68) und
- bei Vorhofflimmern (HR 1.52).
Sie hing aber auch sehr stark von der Selbstständigkeit im Alltag (gemessen mit Barthel-Index, BI) sechs Monate nach dem Ereignis ab:
- vollkommen selbstständig (BI 95–100): Mortalität in diesem Zeitraum 15 %,
- mäßig eingeschränkt (BI 65–90): Mortalität 28 %,
- stark eingeschränkt (BI 0–60): Mortalität 50%.
Der BI nahm in der Gesamtgruppe von 97,5 Punkten im Median auf 90 Punkte leicht ab; die Abnahme war deutlich stärker ausgeprägt für die im BI postakut stärker beeinträchtigten Patienten, obwohl diese – meist ambulant – weiterhin Physiotherapie erhielten 25. Die ärztliche Betreuung der deutschen Klientel erfolgte überwiegend (96 %) durch Hausärzte; Kontakt zu Neurologen hatten im Jahr vor der Nachuntersuchung nur 24 % 23.
Die Selbstständigkeit im Alltag (BI 95–100) blieb über fünf Jahre mit einer Chance von 74 % bestehen, wenn sich die Patienten nach der Anschlussrehabilitation laut BI-Items wieder selbst an- bzw. auskleiden und duschen bzw. baden konnten. War die Selbstständigkeit dagegen nur in einem Item gegeben, so reduzierte sich die Chance auf 35 % bzw. 26 %. Benötigten die Patienten bei beiden Tätigkeiten Hilfe, hatten sie nur eine 6‑prozentige Chance auf Selbstständigkeit im Alltag fünf Jahre danach 26. Die gesundheitsbezogene Lebensqualität (HRQoL, gemessen mit EQ-5D) lag fünf Jahre danach mit einer halben Standardabweichung unter dem Niveau Gleichaltriger. Hauptdeterminanten dafür waren in der multiplen Regression erweiterte (gemessen mit NEADL) und mehr als basale (gemessen mit BI) Alltagsaktivitäten und psychische Komorbiditäten wie Angst und Depression (gemessen mit HADS) 27. Letztere nahmen in ihrer Häufigkeit zwischen sechs Monaten und fünf Jahren nach dem Schlaganfall zu: Angst von 17 % auf 29 % der Betroffenen und Depression von 20 % auf 33 %. Dabei gab es jedoch große Unterschiede zwischen den untersuchten Staaten: im Vereinigten Königreich (UK) waren die Quoten jeweils am höchsten, in Deutschland (DE) am geringsten. Auch der Schweregrad von Angst und Depression im HADS nimmt gleichermaßen zu 28.
Für eine andere Patientenkohorte aus der eigenen Klinik wurden Daten zum Verlauf nach 2,5, nach 5 und nach 7,5 Jahren nach stationärer Schlaganfallrehabilitation publiziert 24 29 30: Nach 2,5 Jahren lebten 75 % der Schlaganfallbetroffenen mit anfangs schweren Defiziten noch zu Hause, nach 5 Jahren waren es 61 % und nach 7,5 Jahren 50 %. Die Mortalität war in ersten 2,5 Jahren nach der Schlaganfallrehabilitation mit 17 % deutlich niedriger, als nach dem Charlson-Index (Mortalitätsrisiko gemäß gewichteter Multimorbidität) zu erwarten gewesen wäre; danach wurde dies nicht mehr berechnet 24. Für ein Leben zu Hause zu den Nachuntersuchungszeiträumen 2,5 Jahre, 5 Jahre und 7,5 Jahre erwiesen sich in der multivariaten Analyse die folgenden Aspekte als relevant:
- ein niedrigeres Lebensalter (p < .001),
- weniger Komorbiditäten (p < .001) sowie
- ein niedriges Sturzrisiko bei Entlassung (p < .01) 24 29 30.
In den ersten 5 Jahren waren zudem folgende Aspekte relevant:
- eine höhere basale Alltagskompetenz – motorisch (BI) wie kognitiv (EBI) – bei Entlassung (p < .001),
- eine höhere gesundheitsbezogene Lebensqualität (SF36 bzw. EQ5D) bei Entlassung (p < .001) sowie
- ein besserer Ernährungsstatus (NRI) bei Entlassung (p < .01) 24 29.
Fazit
Schlaganfälle treten in verschiedenen Formen auf; am häufigsten ist der Hirninfarkt. Er ist im Erwachsenenalter die zweit- bis dritthäufigste Todesursache weltweit und die häufigste Ursache für bleibende Behinderung bzw. Pflegebedürftigkeit. Wie die Auswertung einschlägiger Studien gezeigt hat, bestehen sowohl bei der Inzidenz als auch bei der Prävalenz eine deutliche Alters- und eine gewisse Geschlechtsabhängigkeit. Wie zu sehen war, ist auch die sozioökonomische Komponente weltweit stark ausgeprägt – arme und weniger gebildete Menschen sind demnach mehr und früher betroffen. Primär- und Sekundärprävention sind durch wesentliche Risikofaktoren wie Bluthochdruck, erhöhte Blutfettwerte, Altersdiabetes sowie Vorhofflimmern bzw. ‑flattern (VHF) bestimmt. Die durch den Lebensstil bedingten Komponenten und Einflussmöglichkeiten sind bei Bewegungsmangel, schlechter Ernährung, Rauchen, Alkoholkonsum und psychosozialem Stress stark ausgeprägt. Bei der Sekundärprävention spielen spezifische Medikamente zur Beeinflussung der Blutgerinnung eine wichtige zusätzliche Rolle.
Eigene Studien des Autors zeigen, dass die Langzeitperspektive neben dem Lebensalter durch möglichst gut erhaltene oder wiederhergestellte motorische und kognitive Alltagskompetenz, gesundheitsbezogene Lebensqualität, niedriges Sturzrisiko, guten Ernährungszustand und (anhaltend) gute psychische Verfassung bestimmt wird. Möglich sind solche Ergebnisse aber nur, wenn Betroffene den Schlaganfall überhaupt überleben – immer noch werden zu wenige Betroffene rechtzeitig in eine Stroke Unit eingeliefert, was ihre Überlebenschance signifikant verringert. Insofern besteht weiterhin Aufklärungsbedarf, damit typische Symptome zum Anlass genommen werden, sofort einen Notarzt zu rufen und die Einweisung in eine Stroke Unit zu veranlassen.
Der Autor:
Dr. med. Wilfried Schupp
Abt. Neurologie/Neuropsychologie und Abt. Geriatrie
Fachklinik Herzogenaurach
In der Reuth 1
91074 Herzogenaurach
wilfried.schupp@fachklinik-herzogenaurach.de
Begutachteter Beitrag/reviewed paper
Schupp W. Schlaganfall – eine neue Zivilisationskrankheit und lebenslange Beeinträchtigung? Orthopädie Technik. 2020, 71 (3): 22–27
Verzeichnis der angeführten Akronyme, Indices und Messinstrumente
AHB-Verfahren: Die Anschlussrehabilitation (AHB) ist eine ganztägig ambulante oder stationäre Leistung zur medizinischen Reha.
BI: Barthel-Index (Maß für Selbstständigkeit in basalen Alltagsaktivitäten)
BGS98 – DEGS: erste repräsentative gesamtdeutsche Untersuchung zum Gesundheitszustand der Erwachsenenbevölkerung
CERISE-Studie: Die Studie verglich ICF-orientiert Patienten in vier stationären Schlaganfall-Rehabilitationszentren in vier europäischen Ländern (B, CH, D, GB) bezüglich Reha-Verlauf, Kurz- und Langzeitergebnissen.
Charlson-Index: Index zur Abschätzung des statistischen Mortalitätsrisikos von Patienten auf der Basis bestehender Krankheiten (Morbidität)
DEGS1: Mit dem Studienprogramm DEGS1 hat das Robert Koch-Institut von 2008 bis 2011 umfassende Gesundheitsdaten zur in Deutschland lebenden Erwachsenenbevölkerung gesammelt.
EBI: Erweiterter Barthel-Index (Maß für kognitive Alltagskompetenz)
EQ-5D: generisches Messinstrument, das durch ein standardisiertes, präferenzbasiertes Verfahren die gesundheitsbezogene Lebensqualität (engl. „HRQoL“; s. dort) misst
ESPro: Erlanger Schlaganfall Projekt (bevölkerungsbezogenes Register)
HADS: Hospital Anxiety and Depression Scale (Fragebogen zur Selbstbeurteilung von depressiven Symptomen und Angstsymptomen)
HR: Hazard Ratio (deskriptives Maß für den Unterschied von Überlebenszeiten)
HRQoL: Health-Related Quality of Life (gesundheitsbezogene Lebensqualität)
MONICA: Akronym für „MONItoring CArdiovascular disease“. In der MONICA-Studie der WHO, einer der größten medizinischen epidemiologischen Studien weltweit, werden Ursachen und Trends für Unterschiede in der Mortalität von Herz-Kreislauf-Erkrankungen in verschiedenen Ländern untersucht.
NEADL: Nottingham List for Extended Activities of Daily Living (Maß für Selbstständigkeit in erweiterten Alltagsaktivitäten)
NOAK: Neue (oder nicht-Vitamin-K-abhängige) orale Antikoagulanzien (Begriff für eine Gruppe von Arzneimitteln zur Hemmung der Blutgerinnung, seit ca. 10 Jahren auf dem Markt)
NRI: Nutrition Risk Index (Ernährungszustand)
OAK: orale Antikoagulanzien Odds Ratio: statistische Maßzahl, die etwas über die Stärke eines Zusammenhangs zweier Merkmale aussagt
SAB: Subarachnoidalblutung
SF-36: Short-Form-Gesundheitsfragebogen (krankheitsunspezifisches Messinstrument zur Erhebung der gesundheitsbezogenen Lebensqualität)
TAH: Thrombozytenaggregationshemmer
VHF: Vorhofflattern/-flimmern
40–49 Jahre | 50–59 Jahre | 60–69 Jahre | 70–79 Jahre | Gesamt | |
---|---|---|---|---|---|
Frauen | 1,1 % | 0,8 % | 3,1 % | 6,3 % | 2,5 % |
Männer | 0,7 % | 1,8 % | 5,4 % | 8,1 % | 3,3 % |
Gesamt | 0,9 % | 1,3 % | 4,2 % | 7,1 % | 2,9 % |
Trainingsform | Intensität | Frequenz | Dauer der Einheiten | Sonstige Vorgaben |
---|---|---|---|---|
Ausdauertraining | leichte bis mittlere Intensität (55–80 % max. HF; 40–70 % VO2max; Borg-Skala Stufe 11–14) | 3–5 ×/ Woche | 20–60 Minuten am Stück (ggf. Intervalltraining) | |
Krafttraining | 50–80 % des Einer-Wiederholungsmaximums; 1–3 Sätze mit je 10–15 Wiederholungen | 2–3 ×/ Woche | 30–60 Minuten | 8–10 Übungen für die großen Muskelgruppen |
Gangtraining | mittleres machbares Tempo | 2–3 ×/ Woche | mind. 10 Minuten am Stück (evtl. zusammen mit Ausdauertraining) | |
Koordinations- und Beweglichkeitstraining | keine spezifischeren Angaben möglich | 2–3 ×/ Woche | mind. 5–10 Minuten |
Symptome und Beeinträchtigungen bei/nach Schlaganfall | |
---|---|
sensomotorisch |
|
koordinativ |
|
Ernährung und autonom/vegetativ |
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kommunikativ |
|
kognitiv |
|
psychisch (emotional und verhaltensbezogen) |
|
- Kinder mit Trisomie 21: Einsatz der Ganganalyse zur adäquaten Schuh- und Orthesenversorgung — 5. November 2024
- Rehabilitation aus orthopädietechnischer und physiotherapeutischer Sicht – Osseointegration und Schaftprothesen der unteren Extremität im Vergleich — 5. November 2024
- Belastungsprofile von knochenverankerten Oberschenkelimplantaten verbunden mit modernen Prothesenpassteilen — 5. November 2024
- Robert Koch-Institut (RKI). Schlaganfall. https://www.rki.de/DE/Content/Gesundheitsmonitoring/Gesundheitsberichterstattung/GesundAZ/Content/S/Schlaganfall/Schlaganfall.html (Zugriff am 04.02.2020)
- Stiftung Deutsche Schlaganfallhilfe. Wir fassen zusammen – Was ist ein Schlaganfall? https://www.schlaganfall-hilfe.de/de/verstehen-vermeiden/was-ist-ein-schlaganfall/ (Zugriff am 04.02.2020)
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- Deutsche Gesellschaft für Neurologie e.V. (DGN). S1-Leitlinie „Diagnostik akuter zerebrovaskulärer Erkrankungen“ (AWMF-Leitlinienregister Nr. 030–117). Stand: 31.12.2016, gültig bis 30.12.2021. https://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/030–117l_S1_Zerebrovaskulaere_Erkrankungen_2017-07.pdf (Zugriff am 04.02.2020)
- Deutsche Gesellschaft für Neurologie e.V. (DGN), Deutsche Schlaganfall-Gesellschaft (DSG). S3-Leitlinie „Schlaganfall: Sekundärprophylaxe ischämischer Schlaganfall und transitorische ischämische Attacke“ (AWMF-Leitlinienregister Nr. 030–133). Stand: 31.01.2015 (in Überarbeitung), gültig bis 30.01.2020. https://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/030–133k_S3_Sekunärprophylaxe_ischämischer_Schlaganfall_2015-02-abgelaufen.pdf (Zugriff am 04.02.2020)
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- Deutsche Gesellschaft für Neurologie. Schlaganfall: Weltweit erkranken immer mehr jüngere Menschen. Die Behandlung von Bluthochdruck und Diabetes kann Schlaganfälle verhindern. Gemeinsame Presseinformation der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) und der Deutschen Schlaganfall-Gesellschaft (DSG). https://www.dgn.org/presse/pressemitteilungen/2704 (Zugriff am 04.02.2020)
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