Hilfs­mit­tel­ver­zeich­nis: Besin­nung auf Kernaufgaben

Das Hilfsmittelverzeichnis (HMV) bedürfe einer neuen Ausrichtung, sagt Nico Stephan von der Medizinrechtskanzlei Stephan & Hein im Gespräch mit der OT-Redaktion. Der Rechtsanwalt vertritt seit knapp 20 Jahren Verbände der Leistungserbringer wie den Bundesinnungsverband für Orthopädie-Technik (BIV-OT) bei Vertragsverhandlungen und rechtlichen Auseinandersetzungen im Hilfsmittelsektor. Er regt eine Rückbesinnung auf die Kernaufgaben des HMV als Produktverzeichnis an. Bei den zusätzlich zur Bereitstellung eines Hilfsmittels zu erbringenden Leistungen sollte die finale Entscheidungsgewalt nicht wie bisher allein in den Händen des Spitzenverbands Bund der Krankenkassen (GKV-Spitzenverband) liegen. Hier sei deutlich mehr Mitspracherecht von Berufsverbänden und medizinischen Fachgesellschaften nötig, um Qualitätsstandards in den Versorgungsprozessen im Sinne der Patient:innen zu sichern.

Kor­rek­tu­ren erforderlich

OT: Herr Ste­phan, im Früh­jahr leg­te der GKV-Spit­zen­ver­band sei­nen 6. Bericht zur Fort­schrei­bung des Hilfs­mit­tel­ver­zeich­nis­ses vor. Bis Ende 2023 sol­len laut GKV-Spit­zen­ver­band vor­aus­sicht­lich alle 41 bestehen­den Pro­dukt­grup­pen erneut über­ar­bei­tet sein – nach der 2018 abge­schlos­se­nen Gesamt­fort­schrei­bung. Geht die Aktua­li­sie­rung des HMV aus Ihrer Sicht in die rich­ti­ge Richtung?

Nico Ste­phan: Grund­sätz­lich ist zu fra­gen, wel­che Auf­ga­be das HMV in der gesetz­li­chen Kran­ken­ver­si­che­rung über­haupt hat. Ursprüng­lich soll­te der GKV-Spit­zen­ver­band in die­sem Ver­zeich­nis die durch die GKV erstat­tungs­fä­hi­gen Hilfs­mit­tel erfas­sen. Aller­dings war das HMV von Beginn an nicht als abschlie­ßen­de Auf­zäh­lung gedacht, ist also kei­ne ver­bind­li­che Posi­tiv­lis­te, wie auch das Bun­des­so­zi­al­ge­richt betont hat. Des Wei­te­ren wur­den ergän­zend zu den im HMV auf­ge­führ­ten Pro­duk­ten pro­dukt­spe­zi­fi­sche Qua­li­täts­merk­ma­le auf­ge­nom­men. Im Zuge wei­te­rer Umge­stal­tun­gen wur­de die­se Kon­struk­ti­on aus­ge­baut, sodass der GKV-Spit­zen­ver­band nach dem jet­zi­gen Stand der Din­ge wei­te­re Qua­li­täts­kri­te­ri­en ein­be­zie­hen kann – dar­un­ter zusätz­li­che Leis­tun­gen wie Ver­sor­gungs­pro­zes­se bzw. ‑kon­zep­te, die im Zusam­men­hang mit den Hilfs­mit­teln ste­hen. Hier haben sich in der Ver­gan­gen­heit aber vie­le Rei­bungs­punk­te ergeben.

OT: Wes­halb?

Ste­phan: Weil der GKV-Spit­zen­ver­band sehr ein­sei­tig agiert. Ent­schei­dun­gen über die Gestal­tung von Ver­sor­gungs­pro­zes­sen und hier­mit im Zusam­men­hang ste­hen­de Qua­li­täts­vor­ga­ben soll­ten nicht allein in der Hand des Spit­zen­ver­ban­des lie­gen. Berufs­ver­bän­de bzw. Ver­bän­de der Leis­tungs­er­brin­ger als Ver­trags­part­ner der gesetz­li­chen Kran­ken­kas­sen müss­ten hier ein ver­brief­tes Mit­spra­che­recht haben. Es soll­te gemein­sa­me Auf­ga­be der Ver­trags­part­ner sein, not­wen­di­ge Pro­zes­se zu model­lie­ren und Qua­li­täts­si­che­rung zu betrei­ben. Der GKV-Spit­zen­ver­band soll­te wie­der auf sei­nen ori­gi­nä­ren Platz ver­wie­sen wer­den und im HMV vor allem Pro­duk­te lis­ten. Alles Wei­te­re ist Sache der Ver­trags­part­ner und wird in den Ver­hand­lun­gen zwi­schen Leis­tungs­er­brin­gern und Kran­ken­kas­sen gere­gelt sowie dann in den Ver­trä­gen fest­ge­schrie­ben. Nicht zuletzt auf­grund der Kri­tik des Bun­des­amts für Sozia­le Siche­rung, das in sei­nem Son­der­be­richt gro­ße Defi­zi­te bei der Hilfs­mit­tel­ver­sor­gung für gesetz­li­che Ver­si­cher­te bemän­gelt hat, hat das Bun­des­mi­nis­te­ri­um für Gesund­heit nun Reform­pro­zes­se ange­sto­ßen. Im Zuge des­sen regt bei­spiels­wei­se der BIV-OT eine Neu­aus­rich­tung des HMV durch den Gesetz­ge­ber an.

Rück­be­sin­nung auf Kernaufgaben

OT: Wie soll die­se neue Aus­rich­tung kon­kret aussehen?

Ste­phan: Grund­la­ge ist die Rück­be­sin­nung auf die Kern­auf­ga­ben des HMV als Pro­dukt­ver­zeich­nis. Alles, was dar­über hin­aus­geht – zum Bei­spiel die Aus­ge­stal­tung von Ver­sor­gungs­pro­zes­sen oder die Beschrei­bung der Ver­sor­gungs­qua­li­tät – soll­te in die Hän­de der Ver­trags­part­ner ver­la­gert wer­den, damit eine Betei­li­gung der Betrof­fe­nen an ent­spre­chen­den Vor­ga­ben statt­fin­det und nicht in berufs­recht­li­che Belan­ge ein­ge­grif­fen wird.

OT: Wel­che Bedeu­tung hät­te dann das HMV?

Ste­phan: Das HMV wäre dem­nach ein rei­nes Pro­dukt­ver­zeich­nis, das die not­wen­di­ge Pro­dukt­qua­li­tät beschreibt und im Rah­men der Ver­trags­ge­stal­tung eine Ori­en­tie­rungs­funk­ti­on für die Ver­trags­part­ner ein­nimmt. Die Hoheit über wei­te­re Para­me­ter wie die Aus­ge­stal­tung der mit den Hilfs­mit­teln ver­bun­de­nen Ver­sor­gungs­pro­zes­se wäre bei den Ver­trags­part­nern ange­sie­delt. Statt ein­sei­ti­ger Fest­set­zung müss­te dann dar­über auf Augen­hö­he ver­han­delt wer­den. Dies hät­te außer­dem den Vor­teil, dass neue Ver­fah­ren schnel­ler ihren Weg in die Ver­trä­ge und damit zu den Patient:innen fin­den wür­den. The­men wie die Erar­bei­tung leit­li­ni­en­ge­rech­ter oder wis­sen­schaft­lich fun­dier­ter Pro­zes­se fal­len eher in den gemein­sa­men Ver­ant­wor­tungs­be­reich der maß­geb­li­chen Spit­zen­or­ga­ni­sa­tio­nen von Kran­ken­kas­sen und Leis­tungs­er­brin­gern. Eine gemein­sa­me ver­trag­li­che Rechts­set­zung wird die Akzep­tanz model­lier­ter Pro­zes­se und Qua­li­täts­an­for­de­run­gen erhöhen.

Qua­li­täts­stan­dards schaffen

OT: Sie sehen das HMV dem­zu­fol­ge nicht als Qualitätsstandard?

Ste­phan: Das HMV ist eine Ori­en­tie­rungs­lis­te für Hilfs­mit­tel, die ent­spre­chend medi­zi­ni­schen Kri­te­ri­en und Sicher­heits­merk­ma­len im Rah­men der Ver­sor­gung gesetz­lich Ver­si­cher­ter zulas­ten der GKV abge­ge­ben wer­den dür­fen. Nicht mehr und nicht weni­ger. Es ist kein Qua­li­täts­in­stru­ment für die kom­plet­te Hilfs­mit­tel­ver­sor­gung, son­dern defi­niert ledig­lich die Grund­an­for­de­run­gen an die Pro­dukt­qua­li­tät. Was Ver­sor­gungs­pfa­de und medi­zi­ni­sche Pro­zes­se anbe­langt, kann der GKV-Spit­zen­ver­band nicht der allei­ni­ge „Herr aller Reu­ßen“ (Theo­dor Fon­ta­ne: „Erst kommt der Zar, der Herr aller Reu­ßen, Dann kommt das offi­zi­el­le Preu­ßen.“ – aus „Aus der Gesellschaft“/„1. Hof­fest“) sein. Hier­für muss man auf Berufs­ver­bän­de und medi­zi­ni­sche Fach­ge­sell­schaf­ten zurück­grei­fen. Dass die­se im Zuge des vom BMG initi­ier­ten Reform­pro­zes­ses mehr Ein­fluss bekom­men, wäre im Sin­ne der Ver­sor­gungs­qua­li­tät sehr wün­schens­wert. Das wür­de Qua­li­täts­stan­dards schaffen.

Mehr Ver­ant­wor­tung für Berufsverbände

OT: Die Berufs­ver­bän­de wür­den damit stär­ker in die Ver­ant­wor­tung für eine qua­li­täts­ge­si­cher­te Ver­sor­gung genommen?

Ste­phan: Ja. Ins­ge­samt wür­de dies die Stel­lung der Berufs­ver­bän­de stär­ken. Die Berufs­ver­bän­de wür­den damit noch mehr Auf­ga­ben als der­zeit wahr­neh­men und eine grö­ße­re Ver­ant­wor­tung inner­halb des GKV-Sys­tems tra­gen. Das ist die Bring­schuld der Leis­tungs­er­brin­ger im Sin­ne einer guten Ver­sor­gungs­qua­li­tät für die Patient:innen.

OT: Wäre dann eine Mit­glied­schaft in einem Berufs­ver­band ver­pflich­tend, um ver­sor­gen zu können?

Ste­phan: Nein. Unter­neh­men, die nicht in einem Berufs­ver­band orga­ni­siert sind, müs­sen kei­nen Ver­sor­gungs­aus­schluss befürch­ten und kön­nen sich über ent­spre­chen­de Insti­tu­tio­nen qua­li­fi­zie­ren. Eine Ver­bands­zu­ge­hö­rig­keit ist kein Kri­te­ri­um. Das muss offen gestal­tet werden.

Neue Struk­tur für mehr Mitbestimmung

OT: Die gesetz­lich Ver­si­cher­ten haben gemäß § 2 SGB V einen Anspruch auf Leis­tun­gen, die in Qua­li­tät und Wirk­sam­keit „dem all­ge­mein aner­kann­ten Stand der medi­zi­ni­schen Erkennt­nis­se zu ent­spre­chen und den medi­zi­ni­schen Fort­schritt zu berück­sich­ti­gen“ haben. Wie wird das HMV dem gerecht – und das bun­des­weit einheitlich?

Ste­phan: Das kommt dar­auf an, was der Gesetz­ge­ber möch­te. Das HMV kann einen Bei­trag dazu leis­ten – und zwar im Hin­blick auf die Pro­duk­te und die Min­dest­stan­dards, die zur Pro­dukt­qua­li­tät gesetzt wer­den soll­ten. Es kann aber kein voll­um­fäng­li­ches Ver­zeich­nis für Ver­sor­gungs­pro­zes­se, ‑leit­li­ni­en und ‑pfa­de sein. Fest­le­gun­gen dazu gehö­ren in die ver­ant­wor­tungs­vol­len gemein­sa­men Hän­de der Ver­trags­part­ner. Hier­durch wird sicher­ge­stellt, dass medi­zi­ni­sche und ver­sor­gungs­tech­ni­sche Stan­dards sowie der wis­sen­schaft­li­che Erkennt­nis­ho­ri­zont Ein­gang in die Ver­sor­gung fin­den. In der Ver­gan­gen­heit haben wir es öfter erlebt, dass bei der Fort­schrei­bung des HMV vor­ge­tra­ge­ne fach­li­che Hin­wei­se und Anre­gun­gen im Anhö­rungs­ver­fah­ren unkom­men­tiert kei­ne Beach­tung gefun­den haben. Des­halb wol­len wir her­aus aus der Pas­si­vi­tät und eine akti­ve Betei­li­gung bei den grund­le­gen­den Gestaltungsfragen.

OT: Kann das HMV in sei­ner der­zei­ti­gen Ver­fas­sung Inno­va­tio­nen der Ver­sor­gungs­for­schung sowie Inno­va­tio­nen all­ge­mein aus­rei­chend berücksichtigen?

Ste­phan: In Bezug auf die Gestal­tung von Ver­sor­gungs­pro­zes­sen: nein. Dazu braucht es – wie geschil­dert – eine neue Struk­tur. Über Inno­va­tio­nen kann nicht allein der GKV-Spit­zen­ver­band bestimmen.

OT: Haben Sie den Ein­druck, dass sich der GKV-Spit­zen­ver­band bei der Fort­füh­rung des HMV ins­be­son­de­re bei der Fest­le­gung von Qua­li­täts­pa­ra­me­tern ver­bind­lich an Leit­li­ni­en, Ver­sor­gungs­pfa­den sowie Emp­feh­lun­gen von medi­zi­ni­schen Fach­ge­sell­schaf­ten orientiert?

Ste­phan: Da, wo es der GKV-Spit­zen­ver­band aus sei­ner ein­sei­ti­gen Betrach­tung für sinn­voll erach­tet, teil­wei­se ja. In den vor­ge­schal­te­ten Anhö­rungs­pro­zes­sen ist unter ande­rem der BIV-OT betei­ligt. Doch ich habe nicht den Ein­druck, dass die dabei über­mit­tel­ten Anmer­kun­gen und Hin­wei­se zu gro­ßen Tei­len umge­setzt wür­den. Der GKV-Spit­zen­ver­band arbei­tet inso­fern recht aut­ark. Dabei ist es ein kom­ple­xes und umfang­rei­ches Unter­fan­gen, ein sol­ches HMV zu pfle­gen und zu füh­ren. Wenn neben den Pro­duk­ten eben­falls Qua­li­täts­pro­zes­se berück­sich­tigt wer­den sol­len, wird es zur extrem umfang­rei­chen Auf­ga­be. Schon um hier Ent­las­tung zu schaf­fen, wäre die Rück­füh­rung auf ein rei­nes Pro­dukt­ver­zeich­nis gegeben.

Per­sön­li­che Bera­tung in Gefahr

OT: 2021 wur­de das Kon­zept einer rein digi­ta­len Online-Ein­la­gen­ver­sor­gung von gesetz­lich Ver­si­cher­ten auf Rezept per Selbst­ver­mes­sung und im Ver­sand vom BAS ein­kas­siert. Damals erklär­te die invol­vier­te Bar­mer Kran­ken­ver­si­che­rung, sie wür­de gege­be­nen­falls Anpas­sun­gen im HMV anstre­ben (die OT berich­te­te). Ist ein sol­ches Bemü­hen inzwi­schen tat­säch­lich spür­bar geworden?

Ste­phan: Zumin­dest impli­zie­ren sol­che Äuße­run­gen, dass bestimm­te Ein­fluss­mög­lich­kei­ten auf den GKV-Spit­zen­ver­band bestehen könn­ten. Auf jeden Fall unter­gra­ben sie das Ver­trau­en in die Neu­tra­li­tät eines sol­chen Spit­zen­ver­bands. Zudem erle­ben wir, dass es spe­zi­ell beim The­ma per­sön­li­che Bera­tung im HMV Ver­än­de­run­gen gab …

OT: … Sie mei­nen die PG 05 „Ban­da­gen“?

Ste­phan: In der PG 05 wur­de im Zuge der Fort­schrei­bung des HMV die Anfor­de­rung der per­sön­li­chen Bera­tung gestri­chen. In der Bekannt­ma­chung heißt es: „Die Bera­tung der Ver­si­cher­ten oder des Ver­si­cher­ten über die für ihre oder sei­ne kon­kre­te Ver­sor­gungs­si­tua­ti­on geeig­ne­ten und not­wen­di­gen Hilfs­mit­tel erfolgt im direk­ten Aus­tausch – nach Mög­lich­keit vor Ort – durch geschul­te Fach­kräf­te.“ Statt der per­sön­li­chen ist somit ledig­lich eine Bera­tung nötig – obwohl die per­sön­li­che Bera­tung aus Sicht des BIV-OT zwin­gend erfor­der­lich ist. Bei der PG 17 „Hilfs­mit­tel zur Kom­pres­si­ons­the­ra­pie“ beab­sich­tigt der GKV-Spit­zen­ver­band eine sol­che Strei­chung der per­sön­li­chen Bera­tung im Übri­gen ebenfalls.

OT: Ist damit ein ers­ter Schritt getan, um die­se Hilfs­mit­tel auf rein digi­ta­lem Weg zu ver­trei­ben? An ande­rer Stel­le in der Bekannt­ma­chung des GKV-Spit­zen­ver­bands zur Fort­schrei­bung der PG 05 vom Janu­ar 2023 – beim Punkt Ein­wei­sung des Ver­si­cher­ten – steht ja nach wie vor: „Es erfolgt eine sach­ge­rech­te, per­sön­li­che Ein­wei­sung der Ver­si­cher­ten oder des Ver­si­cher­ten in den bestim­mungs­ge­mä­ßen Gebrauch“.

Ste­phan: Zumin­dest ver­sucht man, die Mög­lich­kei­ten zu erwei­tern. Die Ände­rung hin­sicht­lich der Bera­tung gibt zum Bei­spiel neu­en Online­kon­zep­ten Spiel­raum. Die Kran­ken­kas­sen beru­fen sich dann ein­fach auf das aus deren Sicht unum­stöß­li­che HMV. Aus Sicht des BIV-OT gibt es aber die Vor­schrif­ten des Hand­werks­rechts und des SGB V sowie auch haf­tungs­recht­li­che Aspek­te, die hier eigent­lich deut­li­che Gren­zen set­zen. Denn das HMV hat – wie bereits erwähnt – weder den Sta­tus einer Leit­li­nie noch einer ver­bind­li­chen Posi­tiv­lis­te. Domi­no­stein für Domi­no­stein wird hier aus mei­ner Sicht ver­sucht, die Hilfs­mit­tel­ver­sor­gung kos­ten­spa­rend umzu­bau­en. Doch Qua­li­täts­kri­te­ri­en auf­zu­wei­chen ist kei­ne Ent­wick­lung im Sin­ne der Patient:innen.

OT: Ist es eigent­lich nach wie vor mög­lich, Kon­zep­te wie die 2021 vom BAS aus dem Ver­kehr gezo­ge­ne rein digi­ta­le Online-Ver­sor­gung am Markt anzu­bie­ten – oder ist dem end­gül­tig ein Rie­gel vorgeschoben?

Ste­phan: Im Wesent­li­chen gel­ten die durch die BAS-Ent­schei­dung ver­deut­lich­ten Prin­zi­pi­en genau­so für ande­re Anbie­ter. Das BAS ist mit der Bar­mer in einen auf­sichts­recht­li­chen Dia­log getre­ten. Die Bar­mer hat dar­auf­hin die Online-Ein­la­gen­ver­sor­gung bzw. E‑Versorgung auf Kas­sen­re­zept ein­ge­stellt. Einen Bescheid oder eine offi­zi­el­le Unter­sa­gungs­ver­fü­gung brauch­te es dazu nicht. Nach wie vor lau­fen aber Gerichts­ver­fah­ren zur Klä­rung der Ange­le­gen­heit. Wer­den sol­che Kon­zep­te wei­ter­hin am Markt prä­sen­tiert, kann dage­gen vor­ge­gan­gen wer­den. Vor allem aber ist dann das BAS als Auf­sichts­be­hör­de gefragt. Wenn es die­se The­ma­tik gegen­über einer ein­zel­nen Kran­ken­kas­se kri­ti­siert hat, wäre es nicht kor­rekt, wenn ande­re Kran­ken­kas­sen sol­che Ange­bo­te fortführen.

Kei­ne Rück­kehr zu Ausschreibungen

OT: Obwohl das Bun­des­ge­sund­heits­mi­nis­te­ri­um im 2019 in Kraft getre­te­nen Ter­min­ser­vice- und Ver­sor­gungs­ge­set­zes ein Aus­schrei­bungs­ver­bot für medi­zi­ni­sche Hilfs­mit­tel fest­ge­schrie­ben hat, wer­den aus den Rei­hen der GKV immer wie­der Rufe nach einer Rück­kehr zur Aus­schrei­bung laut. Unter ande­rem mit dem Ver­weis auf die regel­mä­ßi­ge Aktua­li­sie­rung des HMV, durch wel­che die Qua­li­tät der Ver­sor­gung mitt­ler­wei­le stets auf dem aktu­el­len Stand gehal­ten und damit gestärkt wer­de. Wie sehen Sie das?

Ste­phan: Die­se Bestre­bun­gen spre­chen ein­deu­tig gegen die Aus­füh­run­gen des BAS, das ganz klar und mehr­fach die Qua­li­täts­ver­lus­te im Rah­men von Aus­schrei­bun­gen benannt hat. Das hat­te nichts mit der Qua­li­tät des HMV und des­sen Aktua­li­tät zu tun. Die ver­trag­li­che Umset­zung in den Aus­schrei­bungs­ver­trä­gen war dadurch gekenn­zeich­net, dass mone­tä­re Aspek­te im Vor­der­grund stan­den. Das The­ma Qua­li­tät trat in den Hin­ter­grund und wur­de nur mit Mini­mal­an­for­de­run­gen gere­gelt. Hin­zu kam das feh­len­de Con­trol­ling sei­tens der Kran­ken­kas­sen. Die Qua­li­tät der Ver­sor­gun­gen wur­de nicht über­prüft, weil der mone­tä­re Vor­teil über­wog. Erst die Beschwer­den durch Patient:innen haben zu Ver­än­de­run­gen geführt. Der aktu­el­le Stand des HMV ist eine untaug­li­che Begrün­dung für eine Rück­kehr zu Aus­schrei­bun­gen. Bes­se­re Ergeb­nis­se sind da nicht zu erwar­ten. Denn das eine hat mit dem ande­ren nichts zu tun.

OT: Wie bewer­ten Sie das Argu­ment, nach dem Ende der Aus­schrei­bun­gen hät­te es mas­si­ve Kos­ten­stei­ge­run­gen bei den Aus­ga­ben für Hilfs­mit­tel in der GKV gegeben?

Ste­phan: Das ist eine pla­ka­ti­ve Dar­stel­lung, die jeder Grund­la­ge ent­behrt. Ja, die Ver­trags­ver­hand­lun­gen und ‑gestal­tun­gen nach dem Aus­schrei­bungs­zeit­al­ter haben zu Preis­stei­ge­run­gen geführt, aber nur, weil wie­der eini­ger­ma­ßen rea­lis­ti­sche Prei­se ein­ge­zo­gen sind. In vie­len Berei­chen haben wir aber bis heu­te noch immer nicht das Ver­gü­tungs­ni­veau erreicht, wel­ches es vor der Aus­schrei­bungs­ära gab – und da sind die Kos­ten­stei­ge­run­gen der ver­gan­ge­nen Jah­re durch Explo­si­on der Ener­gie- und Roh­stoff­prei­se, erhöh­te Lie­fer­kos­ten, gestie­ge­ne Per­so­nal­kos­ten und Infla­ti­on nicht berücksichtigt.

OT: Es gilt also nicht: mehr Wett­be­werb – weni­ger Ausgaben?

Ste­phan: Aus den Aus­füh­run­gen des BAS lässt sich ja ent­neh­men, dass der Hilfs­mit­tel­markt mit sei­nen kom­ple­xen Struk­tu­ren für rein wett­be­werb­li­che Ansät­ze nicht geeig­net ist. Dazu muss man sich den Auf­trag der GKV ins Gedächt­nis rufen, eine flä­chen­de­cken­de und wohn­ort­na­he Ver­sor­gung sicher­zu­stel­len. Die Betrie­be im Hilfs­mit­tel­be­reich haben eine enor­me Ver­ant­wor­tung, beson­ders in einer Zeit des Fach­kräf­te­man­gels. Sie müs­sen in Ver­sor­gungs­lü­cken an der Gren­ze von ambu­lan­tem und sta­tio­nä­rem Sek­tor sprin­gen, Schnitt­stel­len­ar­beit leis­ten und die häus­li­che Ver­sor­gung gewähr­leis­ten. Das ist kon­trär zu groß­flä­chi­gen Aus­schrei­bun­gen, die gan­ze Bun­des­län­der in die Hän­de nur eines Leis­tungs­er­brin­gers legen, der mit­tels Markt­macht und Preis­druck gewinnt. Der trägt dann die Ver­ant­wor­tung für ein rie­si­ges Gebiet. Geht da etwas schief – weil bei­spiels­wei­se die Qua­li­tät nicht stimmt –, ist die Ver­sor­gung der Patient:innen, oft älte­re oder in ihrer Mobi­li­tät behin­der­te Men­schen, nicht sicher­ge­stellt. Über den Preis ist die qua­li­täts­ge­si­cher­te und wohn­ort­na­he Ver­sor­gung nicht zu regeln. Ergeb­nis wäre ein Qualitätsverlust.

Die Fra­gen stell­te Cath­rin Günzel.

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