Mehr Teil­ha­be durch Hilfsmittel

In diesem Gastbeitrag geht Rechtsanwalt Jörg Hackstein, Fachanwalt für Vergaberecht bei Hackstein Reuter Rechtsanwälte, Dortmund, auf die Frage ein, welche Rolle Hilfsmittel bei der Realisierung von Teilhabe spielen können und welche Rechte sich somit für Patient:innen ableiten lassen.

Stär­kung der Pati­en­ten­rech­te durch Teil­ha­be auch bei der Ver­sor­gung mit Hilfsmitteln?

Das Bun­des­teil­ha­be­ge­setz (BTHG) soll mit sei­nen umfang­rei­chen Rechts­än­de­run­gen dazu bei­tra­gen, Men­schen mit Behin­de­run­gen eine mög­lichst vol­le und wirk­sa­me Teil­ha­be in allen Berei­chen für eine selbst­be­stimm­te Lebens­füh­rung zu ermög­li­chen. Es stellt sich daher die Fra­ge, inwie­weit sich dies auf den Hilfs­mit­tel­an­spruch gegen­über den gesetz­li­chen Kran­ken­kas­sen nach § 33 SGB V aus­wirkt, da es den Leis­tungs­trä­gern und damit auch den Kran­ken­kas­sen obliegt, die Neu­re­ge­lun­gen des BTHG in die Pra­xis umzu­set­zen. In dem Zusam­men­hang wird behaup­tet, dass der Aspekt der Teil­ha­be im Rah­men einer Hilfs­mit­tel­ver­sor­gung kei­ne Rol­le spie­len würde.

Mit dem BTHG hat der Gesetz­ge­ber den Behin­de­rungs­be­griff in § 2 SGB IX ent­spre­chend dem Ver­ständ­nis der UN-Behin­der­ten­rechts­kon­ven­ti­on neu gefasst. Damit wird nicht mehr nur auf kör­per­li­che, see­li­sche, geis­ti­ge oder Sin­nes­be­ein­träch­ti­gun­gen abge­stellt, son­dern auf deren Wech­sel­wir­kung mit ein­stel­lungs- und umwelt­be­ding­ten Bar­rie­ren, die an der gleich­be­rech­tig­ten Teil­ha­be hindern.

Das SGB IX, das die Reha­bi­li­ta­ti­on und Teil­ha­be von Men­schen mit Behin­de­run­gen regelt, gilt auch für die gesetz­li­chen Kran­ken­kas­sen, da es sich bei ihnen um Reha­bi­li­ta­ti­ons­trä­ger gemäß § 6 SGB IX han­delt. Somit spielt der neu defi­nier­te Behin­de­rungs­be­griff nach dem Ver­ständ­nis der UN-Behin­der­ten­rechts­kon­ven­ti­on für die Ver­sor­gung mit Hilfs­mit­teln eine Rolle.

Das Bun­des­so­zi­al­ge­richt (BSG) hat die Anwen­dung der neu­en Defi­ni­ti­on des Behin­de­rungs­be­griffs zwi­schen­zeit­lich mit ver­schie­de­nen Ent­schei­dun­gen bestä­tigt (vgl. Urtei­le des BSG vom 15.03.2018, B3 KR 18/17 R; vom 07.05.2020, B3 KR 7/19 R und zuletzt vom 10.09.2020, B3 KR 15/19 R). Aus die­sen Ent­schei­dun­gen ergibt sich eine deut­li­che Ver­än­de­rung der Maß­stä­be bei Hilfs­mit­teln zum Behin­de­rungs­aus­gleich. Es kommt nicht mehr allein auf die wirk­li­chen oder ver­meint­li­chen gesund­heit­li­chen Defi­zi­te an. Viel­mehr ste­hen im Vor­der­grund das Ziel der Teil­ha­be (Par­ti­zi­pa­ti­on) an den ver­schie­de­nen Lebens­be­rei­chen sowie die Stär­kung der Mög­lich­kei­ten einer indi­vi­du­el­len und den per­sön­li­chen Wün­schen ent­spre­chen­den Lebens­pla­nung und ‑gestal­tung unter Berück­sich­ti­gung des Sozi­al­rau­mes und der indi­vi­du­el­len Bedar­fe zu wohnen.

In der Ver­gan­gen­heit hat das BSG deut­lich zwi­schen dem unmit­tel­ba­ren Behin­de­rungs­aus­gleich (z. B. Ver­sor­gung mit Pro­the­sen) und dem mit­tel­ba­ren Behin­de­rungs­aus­gleich (z. B. Ver­sor­gung mit Roll­stüh­len) unter­schie­den. Dies führ­te dazu, dass bei Pro­the­sen Anspruch auf eine Ver­sor­gung ent­spre­chend dem Stand der Tech­nik und der Medi­zin, um mit den Mög­lich­kei­ten eines nicht behin­der­ten Fuß­gän­gers gleich­zu­zie­hen, Maß­stab ist und bei Ver­sor­gun­gen mit einem Roll­stuhl nur ein Basis­aus­gleich gewährt wur­de. Die aktu­el­le Recht­spre­chung geht davon aus, dass der Aspekt der Teil­ha­be und eine grund­rechts­ori­en­tier­te Aus­le­gung bedeu­tet, dass der Anspruch auf ein Hilfs­mit­tel zum Behin­de­rungs­aus­gleich als Leis­tung der gesetz­li­chen Kran­ken­kas­sen nicht von vorn­her­ein auf einen Basis­aus­gleich im Sin­ne einer Mini­mal­ver­sor­gung beschränkt. Viel­mehr kommt ein Anspruch auf Ver­sor­gung im not­wen­di­gen Umfang bereits in Betracht, wenn das begehr­te Hilfs­mit­tel wesent­lich dazu bei­trägt oder zumin­dest maß­geb­li­che Erleich­te­rung ver­schafft, Ver­si­cher­ten auch nur den Nah­be­reich im Umfeld der Woh­nung in zumut­ba­rer und ange­mes­se­ner Wei­se zu erschließen.

Es ist also die Fra­ge zu stel­len, wel­che wesent­li­chen Gebrauchs­vor­tei­le ein bean­trag­tes Hilfs­mit­tel zum Behin­de­rungs­aus­gleich gegen­über einer z. B. von der Kran­ken­kas­se vor­ge­schla­ge­nen Alter­na­tiv­ver­sor­gung hat. Was dies für die Pra­xis bedeu­tet, wird nach­ste­hend an von den Gerich­ten ent­schie­de­nen Bei­spiel­fäl­len dargestellt.

Im ers­ten Fall (BSG, Urteil vom 07.05.2020, B 3 KR 7/19 R) ging es um die Ver­sor­gung mit einem The­ra­pie­drei­rad-Tan­dem nach Maß mit Tret­kraft­un­ter­stüt­zung, wel­ches vom Gericht als Spe­zi­al­the­ra­pie­rad bezeich­net wur­de. Die Kran­ken­kas­se hat­te die Ver­sor­gung mit der Begrün­dung abge­lehnt, dass das Hilfs­mit­tel dem Frei­zeit­aus­gleich die­ne und zur Erschlie­ßung des Nah­be­reichs ggf. ein Schie­be­roll­stuhl aus­rei­chend sei. Der Gleich­ge­wichts­sinn könn­te durch ande­re Maß­nah­men, wie Kran­ken­gym­nas­tik geför­dert wer­den. Das BSG hat fest­ge­stellt, dass das bean­trag­te Spe­zi­al­the­ra­pie­rad grund­sätz­lich geeig­net ist, der Klä­ge­rin eine erheb­lich ver­bes­ser­te Mobi­li­tät zu gewäh­ren. Ande­re gleich geeig­ne­te Hilfs­mit­tel gab es nach den Fest­stel­lun­gen nicht. Ein Schie­be­roll­stuhl genüg­te nicht dem Maß­stab einer selbst­be­stimm­ten und selbst­stän­di­gen Teil­ha­be, also kein Ver­weis auf einen Basis­aus­gleich im Sin­ne einer Mini­mal­ver­sor­gung. Und dass das strei­ti­ge Spe­zi­al­the­ra­pie­rad auch Frei­zeit­in­ter­es­sen die­nen kann, steht dem Anspruch nicht ent­ge­gen. Ent­schei­dend ist, dass das Grund­be­dürf­nis der Mobi­li­tät selbst­be­stimmt und selbst­stän­dig befrie­digt wer­den kann und kei­ne ande­ren gleich geeig­ne­ten Hilfs­mit­tel zur Ver­fü­gung ste­hen, die wirt­schaft­li­cher wären. Ein ande­res alter­na­tiv vor­ge­schla­ge­nes Hilfs­mit­tel muss den Anspruch auf selbst­be­stimm­te und selbst­stän­di­ge Teil­ha­be erfül­len kön­nen. Es reicht nicht aus, wenn es güns­ti­ger ist. Dabei sind all­tags­re­le­van­te Anfor­de­run­gen (vgl.§ 6 Abs. 3 Hilfs­mit­tel­richt­li­nie) zu berück­sich­ti­gen, also ob die vor­ge­schla­ge­ne Alter­na­ti­ve im tat­säch­li­chen Leben ein­ge­setzt wer­den kann. Es ist gera­de nicht auf einen abs­trak­ten Maß­stab abzu­stel­len, wie es in der Ver­gan­gen­heit erfolgte.

In dem zwei­ten Fall (LSG Nie­der­sach­sen-Bre­men, Beschluss vom 04.10.2021, L 16 KR 423/20) ging es um einen Ver­si­cher­ten mit Mul­ti­pler Skle­ro­se bei stark ein­ge­schränk­ter Geh­fä­hig­keit und Roll­stuhl­pflich­tig­keit, Pfle­ge­grad 3 und einer Ein­schrän­kung der Seh­fä­hig­keit zu 100 %. Die Kran­ken­kas­se lehn­te den ärzt­lich ver­ord­ne­ten Elek­tro­roll­stuhl mit der Begrün­dung ab, dass erheb­li­che Zwei­fel an der Fahr­eig­nung auf­grund der Erblin­dung bestehen wür­den. Der Klä­ger klag­te dage­gen, da er über Jah­re hin­weg einen Aktiv­roll­stuhl trotz der Seh­be­ein­träch­ti­gung nach einem Blin­den­stock­trai­ning und einer Mobi­li­täts­schu­lung nutz­te. Das LSG hat deut­lich betont, dass beim Behin­de­rungs­aus­gleich im Vor­der­grund das Ziel der Teil­ha­be (Par­ti­zi­pa­ti­on) an den ver­schie­de­nen Lebens­be­rei­chen sowie die Stär­kung der Mög­lich­kei­ten einer indi­vi­du­el­len und den per­sön­li­chen Wün­schen ent­spre­chen­den Lebens­pla­nung und ‑gestal­tung ste­hen. Es ist die Auf­ga­be des Hilfs­mit­tel­rech­tes, dem behin­der­ten Men­schen ein mög­lichst selbst­be­stimm­tes Leben zu ermög­li­chen und nicht, ihn von sämt­li­chen Lebens­ge­fah­ren fern­zu­hal­ten und ihn damit einer weit­ge­hen­den Unmün­dig­keit anheim­fal­len zu las­sen. Etwa­ige Rest­ge­fähr­dun­gen sind dabei dem Bereich der Eigen­ver­ant­wor­tung zuzu­ord­nen und in Kauf zu nehmen.

Zwei­fel an der Fahr­eig­nung wer­den bei älte­ren Men­schen oder bei Kin­dern immer wie­der als Begrün­dung für eine ableh­nen­de Ent­schei­dung von elek­trisch unter­stütz­tem Hilfs­mit­tel mit der Argu­men­ta­ti­on her­an­ge­zo­gen, die Kran­ken­kas­se dür­fe kei­ne Hilfs­mit­tel geneh­mi­gen, die zu einer Fremd- oder Eigen­ge­fähr­dung füh­ren wür­den. Wie es das LSG zutref­fend aus­ge­führt hat, liegt die Ver­ant­wor­tung beim Nut­zer oder bei min­der­jäh­ri­gen Kin­dern bei den auf­sichts­pflich­ti­gen Eltern. Gefähr­dun­gen gehö­ren auch bei behin­der­ten Men­schen zum Lebensrisiko.

Die­se bei­den Ent­schei­dun­gen machen deut­lich, dass im Rah­men des Bin­dungs­aus­gleichs die Teil­ha­be deut­li­chen Ein­fluss auf den Anspruch auf Ver­sor­gung mit einem kon­kre­ten Hilfs­mit­tel hat. Gera­de dem regel­mä­ßi­gen Ver­weis auf einen Basis­aus­gleich im Bereich des mit­tel­ba­ren Rech­nungs­aus­gleichs wird damit eine deut­li­che Absa­ge erteilt. Es ist davon aus­zu­ge­hen, dass die Umset­zung in der täg­li­chen Pra­xis auf Wider­stän­de tref­fen wird.

Jörg Hack­stein

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