Einleitung
Unterschenkelorthesen (AFO) werden in der klinischen Praxis für eine Vielzahl von Indikationen eingesetzt. Die Orthesen übernehmen dabei unterschiedliche biomechanische Aufgaben, die von der Begrenzung der Plantarflexion bei Fußheberschwäche nach Schlaganfall bis zur Stabilisierung in der mittleren Standphase zur Verbesserung des sogenannten „crouch gait” bei infantiler Zerebralparese reichen. Obwohl die Orthesen grob nach Bauweise und verwendetem Material unterschieden werden können, ist damit eine optimale Zuordnung der Orthese zu einem konkreten Patienten in der Regel nicht möglich.
Aus diesem Grund ist es zunächst erforderlich, die funktionellen Orthesen-Eigenschaften standardisiert zu erfassen. In der Literatur sind dazu mehrere experimentelle Prüfmodelle 1 2 3 unterschiedlicher Komplexität und Validität beschrieben. Als momentaner Stand der Technik können die Prüfstände mit anatomisch definiertem Knöchelgelenk 4 5 angesehen werden.
Es ist jedoch nicht ausreichend, ausschließlich die Eigenschaften einer unbenutzten Orthese zu bewerten. Um klinisch wirksam zu sein, muss die Orthese diese Eigenschaften auch am Ende ihrer Nutzungsdauer aufweisen. Die gültige internationale Norm EN ISO 22523 verpflichtet den Hersteller, die erforderlichen Festigkeitsparameter und die dazugehörenden Prüfverfahren zu definieren und zu dokumentieren, macht jedoch keine Vorgaben bezüglich Prüfbelastung und Prüfdauer. In der Literatur sind einige experimentelle AFO-Ermüdungsfestigkeitsprüfstände beschrieben. Diese reichen von einfachen Systemen, die eine Dorsalextensionsbewegung z. B. mithilfe des Kurbeltriebs 6 oder der Fliehkraft 7 ausführen, bis zu hochkomplexen und daher schlecht reproduzierbaren Systemen auf Roboter-Basis.
Prüfung der funktionellen Eigenschaften
Zur Messung der funktionellen Orthesen-Eigenschaften wurde bei Ottobock Healthcare eine Prüfvorrichtung (Abb. 1) entwickelt, die eine standardisierte und präzise Bewertung der funktionellen Parameter der Orthese (Steifigkeit im Sprunggelenk, Steifigkeit im Vorfußbereich, Steifigkeit im Fersenbereich) erlaubt. Das Messprinzip entspricht weitgehend dem klinisch validierten BRUCE-Prüfstand 8, die Messung der Belastung und der Verformung der Orthese erfolgt jedoch mithilfe einer Universalmaterialprüfmaschine (Fa. Zwick).
Die Prüfvorrichtung erlaubt Relativbewegungen um entsprechend den anatomischen Gegebenheiten definierte Gelenke und kann an verschiedene AFO-Größen angepasst werden. Die Orthese wird mithilfe eines Klemmmechanismus und eines linear verschiebbaren Unterschenkel-Dummys zerstörungsfrei in der Prüfvorrichtung befestigt. Während der Messung werden durch die Materialprüfmaschine definierte Belastungen in festgelegten Bewegungsrichtungen (Plantarflexion/Dorsalextension im Sprunggelenk, Flexion/Extension im Vorfuß- bzw. Fersenbereich) auf die Orthese aufgebracht. Das resultierende Widerstandsmoment der Orthese und der dazugehörende Rotationswinkel werden kontinuierlich registriert. Diese Werte erlauben nach Kompensation der Reibungsverluste die Berechnung der funktionellen Orthesenparameter.
Die zur Charakterisierung des Prüfverfahrens durchgeführten Untersuchungen zeigten eine sehr gute Reproduzierbarkeit (CV < 2 % für Steifigkeit im Sprunggelenk, CV < 5 % Steifigkeit im Vorfuß-/Fersenbereich).
Prüfung der Ermüdungsfestigkeit
Zur Bewertung der Ermüdungsfestigkeit von Unterschenkelorthesen bietet sich eine Analogiebetrachtung an. Die internationale Norm EN ISO 22675 definiert ein dynamisches Prüfverfahren für Knöchel-Fuß-Passteile für Exoprothesen der unteren Gliedmaßen. Ein Prüfstand nach dieser Norm erzeugt durch Synchronisation der Vertikalkraft mit dem Winkel einer kippenden Plattform eine zusammengesetzte Belastung wie beim Gehen und ist daher sehr gut zur AFO-Prüfung geeignet. Es ist jedoch zusätzlich erforderlich, ein Unterschenkelmodell zu entwickeln, das die relevanten Wechselwirkungen zwischen Extremität und Orthese berücksichtigt. Es ist unter anderem erforderlich,
- die anatomisch korrekte Position des Sprunggelenkes nachzubilden, um Zwangskräfte zwischen Orthese und Beinmodell zu vermeiden,
- die Abmessungen entsprechend den anthropometrischen Daten zu gestalten,
- ein Zehengrundgelenk zur Gewährleistung eines physiologischen Abrollverhaltens zu integrieren,
- den Weichteilmantel und die Hautreibungseigenschaften für ein realistisches Migrationsverhalten nachzubilden.
Das entwickelte modulare Unterschenkelmodell ist in Abbildung 2 dargestellt. Es besteht aus einer Weichteil- und Hautnachbildung im Bereich des proximalen und des distalen Unterschenkels und einem modifizierten Prothesenfuß, die über ein Gelenk verbunden sind. Der Prothesenfuß wurde modifiziert, um eine natürliche Abrollung über den Vorfuß mit Dorsalextension im Zehengrundgelenk zu erreichen. Das prothetische Knöchelgelenk wurde ebenfalls modifiziert, um ein physiologisches Bewegungsausmaß zu gewährleisten.
Die Höhe der beim Gehen in einer Unterschenkelorthese entstehenden Belastungen ist nicht bekannt. Eine Literaturrecherche ergab keine diesbezüglichen Publikationen. Dieses Wissen ist jedoch zur Anpassung und abschließenden Validierung des Prüfverfahrens unbedingt erforderlich. Um diese Wissenslücke zu schließen, wurde eine instrumentierte Mess-Orthese mit einlaminierten Textil-DMS entwickelt, mit deren Hilfe Biegebelastungen an verschiedenen Stellen (Vorfuß, Ferse usw.) im Rahmen von Probanden- bzw. Patientenuntersuchungen erfasst wurden (Abb. 3).
Auf Basis der gewonnenen Daten erfolgte abschließend die endgültige Festlegung der Prüfbedingungen. Dabei wurden die Prüfbedingungen (Winkel und Position der Fußplattform, Krafteinleitungspunkt etc.) angepasst, bis eine ausreichende Übereinstimmung mit den Ergebnissen der Patientenuntersuchung vorlag.
Im Ergebnis wurde für die Standard-Prüfprozedur ein Lastniveau von 800 N entsprechend EN ISO 22675 beibehalten, die maximalen Kippwinkel der Fußplattform wurden dagegen, abweichend von EN ISO 22675, auf ‑10° und 25° festgelegt (entspricht Kraftmaxima bei ‑7,3° und 13,5°). Die gewählten Prüfbedingungen können jedoch bei Bedarf je nach Eigenschaften des abzubildenden Patientenkollektivs (Größe, Gewicht, Muskelstatus etc.) variiert werden. Darüber hinaus können die Belastungen im Sinne einer Worst-Case-Betrachtung bewusst höher als in der Realität gewählt werden.
Bei der Prüfung wird die Unterschenkelorthese am Unterschenkelmodell befestigt und im EN-ISO-22675-konformen Prüfstand montiert (Abb. 4). Die Orthese wird standardmäßig zusammen mit einem festen Halbschuh geprüft.
Exemplarische Anwendung der Prüfverfahren
Die entwickelten Prüfverfahren wurden eingesetzt, um einen Vergleich der neu entwickelten Unterschenkelorthese WalkOn Reaction mit einer klinisch häufig eingesetzten dynamischen Carbon-Unterschenkelorthese als „Gold Standard” durchzuführen.
Dabei wurde für jede Orthese die Ermüdungsfestigkeitsprüfung nach der oben beschriebenen Standard-Prüfprozedur für 2 Mio. Lastzyklen durchgeführt, was nach Untersuchungen der Mobilität von Patienten mit Fußheberschwäche 9 ca. 2 Jahren Gebrauchsdauer entspricht. Die funktionellen Parameter wurden vor Beginn und während der Ermüdungsfestigkeitsprüfung (bei 400.000, 800.000, 1.600.000 und 2.000.000 Lastzyklen) gemessen. Für jede Orthese wurden jeweils drei Exemplare untersucht, wobei die Abweichungen zwischen den einzelnen getesteten Exemplaren sehr gering waren.
Im Ergebnis zeigte die Unterschenkelorthese WalkOn Reaction nach den ersten 400.000 Lastzyklen einen Verlust der Steifigkeit im Sprunggelenk von ca. 13 %. Am Ende der simulierten Nutzungsdauer (2 Mio. Lastzyklen) wurde ein Steifigkeitsverlust von 20 % des initialen Wertes beobachtet. Dagegen verlor die „Gold Standard”-Orthese ca. 35 % ihrer Steifigkeit nach den ersten 400.000 Lastzyklen und ca. 40 % nach 800.000 Lastzyklen. Weiteres Prüfen war für die getesteten Exemplare der „Gold Standard”-Orthese nicht sinnvoll, da sich aufgrund von Delaminationen (Abb. 5) im Übergang zwischen dem Aufbau und der Sohle „Falschgelenke” gebildet hatten. Damit war die Funktionsfähigkeit der AFO stark herabgesetzt, eine Verletzungsgefahr für den Patienten bestand jedoch nicht.
Die Untersuchung zeigte, dass das entwickelte Prüfverfahren in der Lage ist, die Unterschiede zwischen einzelnen Orthesenmodellen trennscharf zu beurteilen.
Zusammenfassung
Die vorgestellten Prüfverfahren erlauben eine standardisierte und trennscharfe Charakterisierung von Unterschenkelorthesen und können in Zukunft eine Basis für die genaue klinische Zuordnung der Orthesen bilden, um eine optimale Patientenversorgung zu ermöglichen. Bei den bisher durchgeführten Untersuchungen zeigte die neu entwickelte Unterschenkelorthese WalkOn Reaction sehr gute Ermüdungsfestigkeitseigenschaften.
Der Autor:
Dr.-Ing. David Hochmann
Entwicklung Orthetik
Otto Bock HealthCare GmbH
Max-Näder-Straße 15
37115 Duderstadt
david.hochmann@ottobock.de
Begutachteter Beitrag/Reviewed paper
Hochmann D. Prüfung von Unterschenkelorthesen. Orthopädie Technik, 2014; 65 (5): 102–104
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