Pra­xis­er­fah­run­gen einer Ver­sor­gung mit einem Exoskelett

P. Doppler
Für komplett und inkomplett querschnittgelähmte Menschen werden seit einiger Zeit motorunterstützte Orthesen, sogenannte Exoskelette, angeboten, die ein alternierendes Gehen nicht nur im therapeutischen Bereich, sondern auch für den Alltagseinsatz ermöglichen. In dieser Zusammenfassung wird aus Sicht des Leistungserbringers über die Versorgung eines 42 Jahre alten Anwenders mit einem ReWalk-Exoskelett berichtet.

Ein­lei­tung

Der Pati­ent, der als Zer­spa­nungs­me­cha­ni­ker tätig war, ver­un­fall­te im Mai 2007 auf dem Weg zur Arbeit mit dem Motor­rad. Die Ver­let­zung der Brust­wir­bel­säu­le mit Läsi­ons­hö­he T4/5 führ­te zu einer kom­plet­ten Quer­schnitt­läh­mung. Auf die Behand­lungs­pha­se in der Akut­kli­nik folg­ten fünf Mona­te Auf­ent­halt in einer Reha­kli­nik. Bereits wäh­rend des Auf­ent­halts dort begann der Pati­ent als ehe­ma­li­ger akti­ver Hand­ball­spie­ler, sich wie­der sport­lich zu betä­ti­gen, soweit es zu die­sem Zeit­punkt mög­lich war. Als sehr akti­ver Mensch war es sein Ziel, auch im All­tag ein Höchst­maß an Mobi­li­tät zu erlan­gen. Der Wunsch, wie­der ste­hen und gehen zu kön­nen, war bereits kurz nach sei­nem Unfall vor­han­den und wur­de mit der Zeit immer stärker.

Anzei­ge

Durch Infor­ma­tio­nen aus der Pres­se, dem Inter­net und im Aus­tausch mit ande­ren Betrof­fe­nen wur­de er bereits 2009 auf die damals bekann­ten unter­schied­li­chen Exo­ske­lett-Sys­te­me auf­merk­sam und sprach den Ver­fas­ser dar­auf an. Es dau­er­te aller­dings noch sechs Jah­re, bis die Ent­wick­lung der Exo­ske­let­te als so weit aus­ge­reift betrach­tet wer­den konn­te, dass guten Gewis­sens zu einer Ver­sor­gung mit einem Sys­tem für den täg­li­chen Gebrauch gera­ten wer­den konnte.

Der ers­te Kon­takt zur Fir­ma ReWalk Robo­tics bzw. deren Toch­ter­ge­sell­schaft Argo Medi­cal Tech­no­lo­gies GmbH in Ber­lin erfolg­te Anfang 2014. Das Sys­tem wur­de vor Ort detail­liert vor­ge­stellt. Es nutzt eine paten­tier­te Bewe­gungs­sen­sor­tech­no­lo­gie zusam­men mit bat­te­rie­be­trie­be­nen moto­ri­sier­ten Bein­or­the­sen, wobei die Knie- und Hüft­be­we­gun­gen vom ein­ge­bau­ten Com­pu­ter und der pro­prie­tä­ren Soft­ware gesteu­ert wer­den (Abb. 1). Das ReWalk-Sys­tem steu­ert die Bewe­gun­gen auf­grund klei­ner Ver­än­de­run­gen des Schwer­punkts: Eine Vor­wärts­nei­gung des Ober­kör­pers wird durch das Sys­tem erkannt und löst den ers­ten Schritt aus. Ein wie­der­hol­tes Vor­wärts­nei­gen des Kör­pers löst eine Rei­he von Schrit­ten aus, die ein natür­li­ches und zügi­ges Gehen ermög­li­chen. Das Sys­tem ermög­licht dem Nut­zer das Sit­zen, Ste­hen, Dre­hen und Trep­pen­stei­gen, wobei der gewünsch­te Modus mit der am Hand­ge­lenk des „ReWal­kers“ befind­li­chen Fern­be­die­nung aus­ge­wählt wird. Die indi­vi­du­el­len Para­me­ter wie Lauf­ge­schwin­dig­keit, Schritt­län­ge, Hüft­beu­gung usw. wer­den vom betreu­en­den Phy­sio­the­ra­peu­ten oder Geh­schul­trai­ner trai­nings­be­glei­tend an die Fähig­kei­ten und Bedürf­nis­se des ReWal­kers angepasst.

Ers­te Erfah­run­gen mit dem Exoskelett

Nach der erfolg­ten Prä­sen­ta­ti­on wur­de eine Erpro­bung des Exo­ske­letts mit dem Pati­en­ten, dem Unter­neh­men des Ver­fas­sers als Leis­tungs­er­brin­ger vor Ort und den Ent­schei­dern der Berufs­ge­nos­sen­schaft Holz und Metall (BGHM) vereinbart.

In Vor­be­rei­tung der Erpro­bung wur­den die Anwen­der­ma­ße – Bein­län­ge, Gelenk­punk­te an Hüf­te und Knie­ge­lenk, Becken­bü­gel­wei­te und Schuh­grö­ße – ent­spre­chend dem Maß­blatt abge­nom­men. Somit konn­te das ReWalk-Exo­ske­lett für die­se Erpro­bung mit den anwen­der­spe­zi­fi­schen Zube­hör­tei­len und gemäß den noch­mals über­prüf­ten Maßen vor der ers­ten Anpro­be auf­ge­baut wer­den. Der Anwen­der trans­fe­riert aus dem Roll­stuhl in das im Sitz­mo­dus posi­tio­nier­te Exo­ske­lett. Das Anle­gen des Sys­tems erfolgt distal begin­nend mit dem Anzie­hen der Schu­he mit den innen­lie­gen­den Sys­tem­fuß­plat­ten (Abb. 2). Nach­fol­gend wird nach pro­xi­mal fort­schrei­tend die Stan­dard­be­gur­tung ange­legt und somit das Sys­tem am Kör­per fixiert. Der Ruck­sack mit Steu­er­elek­tro­nik und Akku wird zuletzt angelegt.

Die zur Aus­wahl des Funk­ti­ons­mo­dus nor­ma­ler­wei­se am Hand­ge­lenk des Anwen­ders getra­ge­ne Fern­steue­rung wird bei der Erpro­bung vom Phy­sio­the­ra­peu­ten bedient (Abb. 3). Das Auf­ste­hen wird mit­tels der Fern­steue­rung gestar­tet. Durch eine Fle­xi­on der Hüft­ge­len­ke mit­tels Beu­gung des Ober­kör­pers nach vor­ne wird das Auf­ste­hen ein­ge­lei­tet. Dar­auf erfolgt die koor­di­nier­te Stre­ckung der Hüf­te und Knie­ge­len­ke bis hin zum auf­rech­ten Stand.

Die­ses erst­ma­li­ge Ste­hen nach sie­ben­ein­halb Jah­ren im Roll­stuhl war für den Pati­en­ten ein bewe­gen­des Ereig­nis. Nach dem ers­ten Ste­hen wur­de das Hin­set­zen geübt. Auch dies wur­de wie das Auf­ste­hen vom Phy­sio­the­ra­peu­ten betreut (Abb. 4). Der Vor­gang „Auf­ste­hen und Set­zen“ wur­de danach noch mehr­mals wie­der­holt, wobei die Unter­stüt­zung durch die Hilfs­per­son nach und nach abnahm und statt­des­sen die bei der Benut­zung des Exo­ske­letts übli­cher­wei­se ver­wen­de­ten Unter­arm­stüt­zen mit Arm­schel­len stär­ker Ver­wen­dung fan­den. Der Anwen­der stellt dabei zum Auf­ste­hen die Stüt­zen seit­lich leicht nach hin­ten ver­setzt auf und unter­stützt aktiv den Auf­steh­vor­gang. Steht der Anwen­der mit gestreck­ten Bei­nen, wer­den die Geh­stüt­zen nach vor­ne umge­setzt und der auf­rech­te Stand so sta­bi­li­siert. Bevor mit dem Gehen begon­nen wer­den kann, wird das Auf­ste­hen, Ste­hen und Aus­ba­lan­cie­ren trai­niert. Dazu wer­den ver­schie­de­ne Übun­gen aus­ge­führt, um dem Anwen­der ein Gefühl für einen siche­ren, auf­rech­ten Stand zu vermitteln.

Nach­dem der siche­re Stand geübt wur­de, wird der Geh­mo­dus auf der Fern­steue­rung aus­ge­wählt, und eine Rumpf­beu­gung lei­tet das Gehen ein. Das ReWalk-Sys­tem erkennt die Beu­gung und bewegt als Ers­tes das rech­te Bein nach vor­ne. Der Anwen­der, unter­stützt durch den Phy­sio­the­ra­peu­ten, bewegt bei­de Unter­arm­stüt­zen nach vor­ne und löst somit den nächs­ten Schritt aus (Abb. 5).

Nach erfolg­ter ers­ter Erpro­bung wur­de gemein­sam und sehr offen über die Ver­sor­gungs­mög­lich­keit des Pati­en­ten dis­ku­tiert. Dabei ging es um die Zie­le, die Chan­cen und den Nut­zen für den Pati­en­ten als ReWalk-Anwen­der. Zur Ent­schei­dungs­fin­dung wur­de eine Erpro­bung für drei Wochen in der Reha­kli­nik ver­ein­bart. Nach erfolg­reich abge­schlos­se­ner Erpro­bung wäh­rend des Kli­nik­auf­ent­halts erfolg­te die Ver­ord­nung des ReWalk-Exo­ske­letts direkt durch die Reha­kli­nik. Da es sich um einen Wege­un­fall han­del­te, liegt die Leis­tungs­pflicht beim gesetz­li­chen Unfall­ver­si­che­rer Berufs­ge­nos­sen­schaft. Ein ent­spre­chen­der Kos­ten­vor­anschlag wur­de der BGHM zur Geneh­mi­gung ein­ge­reicht. Nach erfolg­ter Geneh­mi­gung wur­de der Pati­ent mit dem Exo­ske­lett ver­sorgt. Hier­zu wur­den indi­vi­du­el­le Fuß­plat­ten sowie ven­tra­le Unter­schen­kel­fas­sun­gen gefer­tigt. Ein Mit­ar­bei­ter des Ver­fas­sers wur­de von Argo Medi­cal Tech­no­lo­gies als ReWalk-Trai­ner zer­ti­fi­ziert, um das die Ver­sor­gung beglei­ten­de Geh­trai­ning im Unter­neh­men durch­füh­ren zu können.

Kos­ten­trä­ger­ent­schei­dung

Die Über­nah­me der Kos­ten für das ReWalk-Exo­ske­lett durch die BGHM ist ein wich­ti­ger Mei­len­stein für die Ver­sor­gung von Men­schen mit einer Rücken­marks­ver­let­zung. Die Ent­schei­dungs­trä­ge­rin der BGHM, die die Ver­sor­gung beglei­te­te, äußer­te sich dazu wie folgt: „In der heu­ti­gen Zeit ist nicht nur der medi­zi­ni­sche Nut­zen eines Hilfs­mit­tels von Bedeu­tung. Leis­tun­gen zur Teil­ha­be am Leben in der Gesell­schaft rücken immer mehr in den Vor­der­grund.“ Auch sie erin­nert sich ger­ne an die ers­ten Erleb­nis­se des Pati­en­ten mit dem Exo­ske­lett: „Ich war dabei, als er den ReWalk zum ers­ten Mal aus­pro­bier­te. Es war ein bewe­gen­der Augen­blick mit­zu­er­le­ben, wie über­wäl­tigt der Pati­ent war, nach Jah­ren wie­der auf­recht zu ste­hen, den ers­ten Geh­ver­such zu unter­neh­men und vor allem allen Men­schen, die mit ihm die­sen schö­nen und auf­re­gen­den Moment teil­ten, in die Augen schau­en zu können.“

Die Exo­ske­lett-Tech­no­lo­gie hat das Poten­zi­al, das Leben von Men­schen mit Geh­be­hin­de­run­gen grund­le­gend zu ändern. Die poten­zi­el­len gesund­heit­li­chen Ver­bes­se­run­gen – gerin­ge­re Medi­ka­men­ten­ein­nah­me für bestimm­te Beschwer­den, Ver­bes­se­rung der psy­chi­schen Ver­fas­sung, ver­bes­ser­te Bla­sen- und Darm­funk­ti­on, Ver­rin­ge­rung der Mus­kel­s­pas­ti­zi­tät, redu­zier­ter Schmerz und bes­se­re Schmerz­the­ra­pie – wur­den in kli­ni­schen Stu­di­en mit dem ReWalk-Exo­ske­lett deut­lich auf­ge­zeigt 1 2.

Aus­wir­kun­gen der Exo­ske­lett-Nut­zung aus Anwendersicht

Nach nun neun Mona­ten mit dem ReWalk beschreibt der Pati­ent die per­sön­li­chen Vor­tei­le durch den täg­li­chen Gebrauch des Exo­ske­letts, der von 15 Minu­ten bis zu meh­re­ren Stun­den dau­ern kann, als sehr positiv:

  • allei­ne ste­hen können
  • ganz­heit­li­che Bewe­gung des Kör­pers, der Gelen­ke und Belas­tung des Skeletts
  • bedeu­tend weni­ger Pro­ble­me mit geschwol­le­nen Bei­nen und Füßen
  • weni­ger Druck­stel­len und ver­bes­ser­te Hautsituation
  • ver­bes­ser­tes Allgemeinbefinden
  • ver­bes­ser­te Rumpf­sta­bi­li­tät und erhöh­te akti­ve Beweglichkeit
  • posi­ti­ve­re Lebensgestaltung
  • auf Augen­hö­he sein und nicht nur von oben betrach­tet werden
  • neue Per­spek­ti­ven erfah­ren und sehen, was im Umfeld geschieht

Von Anwen­der­sei­te gibt es fol­gen­de Anre­gun­gen und Wün­sche zur Ver­bes­se­rung des Orthesensystems:

  • Ver­rin­ge­rung des Gewichts des Rewalk-Exo­ske­letts für ein­fa­che­res Hand­ling sowie Ein- und Aus­la­den ins Auto
  • Steue­rung an der Gehor­the­se anstel­le der Unter­brin­gung der Steue­rung im „Ruck­sack“
  • Mög­lich­keit des Ein­stei­gens in ein Fahrzeug
  • Gehen ohne Geh­stüt­zen, um die Hän­de frei zu haben

Schluss­fol­ge­rung

Die Exo­ske­lett-Tech­no­lo­gie fin­det unauf­halt­sa­men Ein­zug in das Ver­sor­gungs­le­ben von quer­schnitt­ge­lähm­ten Men­schen. Sowohl die Ver­si­che­run­gen als auch die Dienst­leis­ter im ortho­pä­die- und medi­zin­tech­ni­schen Bereich müs­sen sich ver­mehrt mit die­ser Tech­no­lo­gie, die einen gro­ßen Fort­schritt für die Betrof­fe­nen dar­stellt, befas­sen. Hier­bei ist eine gute Kom­mu­ni­ka­ti­on ins­be­son­de­re zwi­schen Reha­bi­li­ta­ti­ons­ein­rich­tun­gen, Ärz­ten, Anwen­dern, Her­stel­lern und Kos­ten­trä­gern not­wen­dig. Nur so ist es mög­lich, dass mög­lichst vie­le Men­schen mit einer Geh­be­hin­de­rung die­se zukunfts­träch­ti­ge Tech­no­lo­gie ver­wen­den und davon pro­fi­tie­ren können.

Der Autor:
Peter Dopp­ler
Dopp­ler GmbH
Beet­ho­ven­stra­ße 11
66125 Saar­brü­cken-Dud­wei­ler
peter.doppler@doppler-online.com

Begut­ach­te­ter Beitrag/reviewed paper

Zita­ti­on
Dopp­ler P. Pra­xis­er­fah­run­gen einer Ver­sor­gung mit einem Exo­ske­lett. Ortho­pä­die Tech­nik, 2015; 66 (10): 26–28

 

  1. Fine­berg D, Asse­lin P, Harel NY, Agra­no­va-Brey­ter I, Korn­feld SD, Bau­man WA, Spun­gen AM. Ver­ti­cal ground reac­tion force-based ana­ly­sis of powered exo­ske­le­ton­as­sis­ted wal­king in per­sons with motor-com­ple­te para­ple­gia. The Jour­nal of Spi­nal Cord Inju­ry Medi­ci­ne, 2013; 36 (4): 313–321
  2. Asse­lin P, Kne­ze­vic S, Korn­feld S, Cir­nig­li­a­ro C, Agra­no­va-Brey­ter I, Bau­man WA, Spun­gen AM. Heart rate and oxy­gen demand of powered exo­ske­le­ton­as­sis­ted wal­king in per­sons with para­ple­gia. Jour­nal of Reha­bi­li­ta­ti­on Rese­arch and Deve­lo­p­ment, 2015; 52 (2): 147–158
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