Einleitung
Der Patient, der als Zerspanungsmechaniker tätig war, verunfallte im Mai 2007 auf dem Weg zur Arbeit mit dem Motorrad. Die Verletzung der Brustwirbelsäule mit Läsionshöhe T4/5 führte zu einer kompletten Querschnittlähmung. Auf die Behandlungsphase in der Akutklinik folgten fünf Monate Aufenthalt in einer Rehaklinik. Bereits während des Aufenthalts dort begann der Patient als ehemaliger aktiver Handballspieler, sich wieder sportlich zu betätigen, soweit es zu diesem Zeitpunkt möglich war. Als sehr aktiver Mensch war es sein Ziel, auch im Alltag ein Höchstmaß an Mobilität zu erlangen. Der Wunsch, wieder stehen und gehen zu können, war bereits kurz nach seinem Unfall vorhanden und wurde mit der Zeit immer stärker.
Durch Informationen aus der Presse, dem Internet und im Austausch mit anderen Betroffenen wurde er bereits 2009 auf die damals bekannten unterschiedlichen Exoskelett-Systeme aufmerksam und sprach den Verfasser darauf an. Es dauerte allerdings noch sechs Jahre, bis die Entwicklung der Exoskelette als so weit ausgereift betrachtet werden konnte, dass guten Gewissens zu einer Versorgung mit einem System für den täglichen Gebrauch geraten werden konnte.
Der erste Kontakt zur Firma ReWalk Robotics bzw. deren Tochtergesellschaft Argo Medical Technologies GmbH in Berlin erfolgte Anfang 2014. Das System wurde vor Ort detailliert vorgestellt. Es nutzt eine patentierte Bewegungssensortechnologie zusammen mit batteriebetriebenen motorisierten Beinorthesen, wobei die Knie- und Hüftbewegungen vom eingebauten Computer und der proprietären Software gesteuert werden (Abb. 1). Das ReWalk-System steuert die Bewegungen aufgrund kleiner Veränderungen des Schwerpunkts: Eine Vorwärtsneigung des Oberkörpers wird durch das System erkannt und löst den ersten Schritt aus. Ein wiederholtes Vorwärtsneigen des Körpers löst eine Reihe von Schritten aus, die ein natürliches und zügiges Gehen ermöglichen. Das System ermöglicht dem Nutzer das Sitzen, Stehen, Drehen und Treppensteigen, wobei der gewünschte Modus mit der am Handgelenk des „ReWalkers“ befindlichen Fernbedienung ausgewählt wird. Die individuellen Parameter wie Laufgeschwindigkeit, Schrittlänge, Hüftbeugung usw. werden vom betreuenden Physiotherapeuten oder Gehschultrainer trainingsbegleitend an die Fähigkeiten und Bedürfnisse des ReWalkers angepasst.
Erste Erfahrungen mit dem Exoskelett
Nach der erfolgten Präsentation wurde eine Erprobung des Exoskeletts mit dem Patienten, dem Unternehmen des Verfassers als Leistungserbringer vor Ort und den Entscheidern der Berufsgenossenschaft Holz und Metall (BGHM) vereinbart.
In Vorbereitung der Erprobung wurden die Anwendermaße – Beinlänge, Gelenkpunkte an Hüfte und Kniegelenk, Beckenbügelweite und Schuhgröße – entsprechend dem Maßblatt abgenommen. Somit konnte das ReWalk-Exoskelett für diese Erprobung mit den anwenderspezifischen Zubehörteilen und gemäß den nochmals überprüften Maßen vor der ersten Anprobe aufgebaut werden. Der Anwender transferiert aus dem Rollstuhl in das im Sitzmodus positionierte Exoskelett. Das Anlegen des Systems erfolgt distal beginnend mit dem Anziehen der Schuhe mit den innenliegenden Systemfußplatten (Abb. 2). Nachfolgend wird nach proximal fortschreitend die Standardbegurtung angelegt und somit das System am Körper fixiert. Der Rucksack mit Steuerelektronik und Akku wird zuletzt angelegt.
Die zur Auswahl des Funktionsmodus normalerweise am Handgelenk des Anwenders getragene Fernsteuerung wird bei der Erprobung vom Physiotherapeuten bedient (Abb. 3). Das Aufstehen wird mittels der Fernsteuerung gestartet. Durch eine Flexion der Hüftgelenke mittels Beugung des Oberkörpers nach vorne wird das Aufstehen eingeleitet. Darauf erfolgt die koordinierte Streckung der Hüfte und Kniegelenke bis hin zum aufrechten Stand.
Dieses erstmalige Stehen nach siebeneinhalb Jahren im Rollstuhl war für den Patienten ein bewegendes Ereignis. Nach dem ersten Stehen wurde das Hinsetzen geübt. Auch dies wurde wie das Aufstehen vom Physiotherapeuten betreut (Abb. 4). Der Vorgang „Aufstehen und Setzen“ wurde danach noch mehrmals wiederholt, wobei die Unterstützung durch die Hilfsperson nach und nach abnahm und stattdessen die bei der Benutzung des Exoskeletts üblicherweise verwendeten Unterarmstützen mit Armschellen stärker Verwendung fanden. Der Anwender stellt dabei zum Aufstehen die Stützen seitlich leicht nach hinten versetzt auf und unterstützt aktiv den Aufstehvorgang. Steht der Anwender mit gestreckten Beinen, werden die Gehstützen nach vorne umgesetzt und der aufrechte Stand so stabilisiert. Bevor mit dem Gehen begonnen werden kann, wird das Aufstehen, Stehen und Ausbalancieren trainiert. Dazu werden verschiedene Übungen ausgeführt, um dem Anwender ein Gefühl für einen sicheren, aufrechten Stand zu vermitteln.
Nachdem der sichere Stand geübt wurde, wird der Gehmodus auf der Fernsteuerung ausgewählt, und eine Rumpfbeugung leitet das Gehen ein. Das ReWalk-System erkennt die Beugung und bewegt als Erstes das rechte Bein nach vorne. Der Anwender, unterstützt durch den Physiotherapeuten, bewegt beide Unterarmstützen nach vorne und löst somit den nächsten Schritt aus (Abb. 5).
Nach erfolgter erster Erprobung wurde gemeinsam und sehr offen über die Versorgungsmöglichkeit des Patienten diskutiert. Dabei ging es um die Ziele, die Chancen und den Nutzen für den Patienten als ReWalk-Anwender. Zur Entscheidungsfindung wurde eine Erprobung für drei Wochen in der Rehaklinik vereinbart. Nach erfolgreich abgeschlossener Erprobung während des Klinikaufenthalts erfolgte die Verordnung des ReWalk-Exoskeletts direkt durch die Rehaklinik. Da es sich um einen Wegeunfall handelte, liegt die Leistungspflicht beim gesetzlichen Unfallversicherer Berufsgenossenschaft. Ein entsprechender Kostenvoranschlag wurde der BGHM zur Genehmigung eingereicht. Nach erfolgter Genehmigung wurde der Patient mit dem Exoskelett versorgt. Hierzu wurden individuelle Fußplatten sowie ventrale Unterschenkelfassungen gefertigt. Ein Mitarbeiter des Verfassers wurde von Argo Medical Technologies als ReWalk-Trainer zertifiziert, um das die Versorgung begleitende Gehtraining im Unternehmen durchführen zu können.
Kostenträgerentscheidung
Die Übernahme der Kosten für das ReWalk-Exoskelett durch die BGHM ist ein wichtiger Meilenstein für die Versorgung von Menschen mit einer Rückenmarksverletzung. Die Entscheidungsträgerin der BGHM, die die Versorgung begleitete, äußerte sich dazu wie folgt: „In der heutigen Zeit ist nicht nur der medizinische Nutzen eines Hilfsmittels von Bedeutung. Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gesellschaft rücken immer mehr in den Vordergrund.“ Auch sie erinnert sich gerne an die ersten Erlebnisse des Patienten mit dem Exoskelett: „Ich war dabei, als er den ReWalk zum ersten Mal ausprobierte. Es war ein bewegender Augenblick mitzuerleben, wie überwältigt der Patient war, nach Jahren wieder aufrecht zu stehen, den ersten Gehversuch zu unternehmen und vor allem allen Menschen, die mit ihm diesen schönen und aufregenden Moment teilten, in die Augen schauen zu können.“
Die Exoskelett-Technologie hat das Potenzial, das Leben von Menschen mit Gehbehinderungen grundlegend zu ändern. Die potenziellen gesundheitlichen Verbesserungen – geringere Medikamenteneinnahme für bestimmte Beschwerden, Verbesserung der psychischen Verfassung, verbesserte Blasen- und Darmfunktion, Verringerung der Muskelspastizität, reduzierter Schmerz und bessere Schmerztherapie – wurden in klinischen Studien mit dem ReWalk-Exoskelett deutlich aufgezeigt 1 2.
Auswirkungen der Exoskelett-Nutzung aus Anwendersicht
Nach nun neun Monaten mit dem ReWalk beschreibt der Patient die persönlichen Vorteile durch den täglichen Gebrauch des Exoskeletts, der von 15 Minuten bis zu mehreren Stunden dauern kann, als sehr positiv:
- alleine stehen können
- ganzheitliche Bewegung des Körpers, der Gelenke und Belastung des Skeletts
- bedeutend weniger Probleme mit geschwollenen Beinen und Füßen
- weniger Druckstellen und verbesserte Hautsituation
- verbessertes Allgemeinbefinden
- verbesserte Rumpfstabilität und erhöhte aktive Beweglichkeit
- positivere Lebensgestaltung
- auf Augenhöhe sein und nicht nur von oben betrachtet werden
- neue Perspektiven erfahren und sehen, was im Umfeld geschieht
Von Anwenderseite gibt es folgende Anregungen und Wünsche zur Verbesserung des Orthesensystems:
- Verringerung des Gewichts des Rewalk-Exoskeletts für einfacheres Handling sowie Ein- und Ausladen ins Auto
- Steuerung an der Gehorthese anstelle der Unterbringung der Steuerung im „Rucksack“
- Möglichkeit des Einsteigens in ein Fahrzeug
- Gehen ohne Gehstützen, um die Hände frei zu haben
Schlussfolgerung
Die Exoskelett-Technologie findet unaufhaltsamen Einzug in das Versorgungsleben von querschnittgelähmten Menschen. Sowohl die Versicherungen als auch die Dienstleister im orthopädie- und medizintechnischen Bereich müssen sich vermehrt mit dieser Technologie, die einen großen Fortschritt für die Betroffenen darstellt, befassen. Hierbei ist eine gute Kommunikation insbesondere zwischen Rehabilitationseinrichtungen, Ärzten, Anwendern, Herstellern und Kostenträgern notwendig. Nur so ist es möglich, dass möglichst viele Menschen mit einer Gehbehinderung diese zukunftsträchtige Technologie verwenden und davon profitieren können.
Der Autor:
Peter Doppler
Doppler GmbH
Beethovenstraße 11
66125 Saarbrücken-Dudweiler
peter.doppler@doppler-online.com
Begutachteter Beitrag/reviewed paper
Doppler P. Praxiserfahrungen einer Versorgung mit einem Exoskelett. Orthopädie Technik, 2015; 66 (10): 26–28
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- Fineberg D, Asselin P, Harel NY, Agranova-Breyter I, Kornfeld SD, Bauman WA, Spungen AM. Vertical ground reaction force-based analysis of powered exoskeletonassisted walking in persons with motor-complete paraplegia. The Journal of Spinal Cord Injury Medicine, 2013; 36 (4): 313–321
- Asselin P, Knezevic S, Kornfeld S, Cirnigliaro C, Agranova-Breyter I, Bauman WA, Spungen AM. Heart rate and oxygen demand of powered exoskeletonassisted walking in persons with paraplegia. Journal of Rehabilitation Research and Development, 2015; 52 (2): 147–158