Einleitung
Majoramputationen der unteren Extremität bedingen für den Betroffenen einen deutlichen Einschnitt in die Lebensführung. Am häufigsten verursachen in Deutschland der Diabetes, die arterielle Verschlusskrankheit oder eine Kombination aus beidem die Amputation. Traumatische Amputation, Tumore oder die chronische Osteitis sind seltenere Amputationsursachen. Während die Gründe für Amputationen in Deutschland gut untersucht sind, kann aufgrund eines fehlenden Registers keine sichere Aussage über die Zahl oder Art von erfolgten Amputationen getroffen werden. Das wissenschaftliche Institut der AOK versucht, eine Abschätzung über Routinedaten ihrer Versicherten vorzunehmen. So sind 2003 bei 45.000 Krankenhausaufenthalten allein bei AOK-Versicherten Amputationen an der unteren Extremität notwendig gewesen 1. Nach neueren Angaben aus dem Jahr 2015 werden in Deutschland etwa 20.000 Majoramputationen der unteren Extremität durchgeführt 2.
Die Mobilität im alltäglichen Leben eines Amputierten ist deutlich eingeschränkt. Die Selbstversorgung des Betroffenen ist gefährdet. Auch die Berufsausübung wird erheblich erschwert, wenn nicht gar unmöglich. Aus diesen Gesichtspunkten ergeben sich die anzustrebenden Rehabilitationsziele. Das langfristige Ermöglichen einer selbstständigen Lebensführung, die Teilhabe am sozialen Umfeld und die Wiedereingliederung ins Berufsleben sind die Herausforderungen, welche es zu meistern gilt. Um dies zu erreichen, sind sowohl seitens des Orthopädie-Technikers als auch seitens der behandelnden Ärzte grundlegende Kenntnisse über die orthopädietechnischen Versorgungsmöglichkeiten, deren Einschränkungen und die Anforderungen an einen belastbaren Stumpf notwendig.
Anforderungen an den transtibial amputierten Stumpf
Um einen Unterschenkelstumpf prothetisch versorgen zu können, ist es notwendig, sich zunächst mit den idealen Stumpfverhältnissen zu befassen. Eine gute stichpunktartige Übersicht über die optimale Stumpfbeschaffenheit liefert das Kompendium „Qualitätsstandard im Bereich Prothetik der unteren Extremität“ 3. Zudem hat Brückner kürzlich einen guten Überblicksartikel zu diesem Thema verfasst 4. In einem systematischen Untersuchungsgang sollte auf folgende Dinge geachtet werden:
Haut- und Unterhaut
- gute Durchblutung (Rekapillarisierungszeit ca. 2–3 Sekunden)
- keine venöse/lymphatische Stauung
- keine Sensibilitätsstörung
- schmerzfrei belastbar
- Haut/Narbe über dem Untergrund verschieblich und reizlos
- Narben nicht am Stumpfende lokalisiert
- geschlossene Weichteile/keine Hinweise auf Fistelbildung bzw. Abszedierung
- physiologische Schweißbildung
Muskulatur/tiefe Weichteile
- fixierte Muskeldeckung des Stumpfes über dem knöchernen Stumpf
- Muskelqualität (inaktiv, kräftig, mittel, schwach) der Muskelgruppen
- keine störenden heterotopen Ossifikationen
- Sensibilität
- große Gefäße kurz proximal des knöchernen Stumpfes chirurgisch abgesetzt
- gekürzte Unterschenkelnerven (N. tibialis, Nn. fibulares, N. suralis)
Knöcherner Stumpf
- Tibiaspitze ist abgerundet und vorne (ventrales Drittel) angeschrägt
- Fibula ist ca. 2 cm kürzer als die Tibia und leicht angeschrägt
- intakte Membran zwischen Fibula und Tibia
- keine störenden Exostosen
Besonders wichtig ist der Bewegungsumfang im Kniegelenk. Dieses muss gestreckt werden können, um ein energieeffizientes und sicheres Laufen zu ermöglichen. Zudem sollte das Kniegelenk bis auf mindestens 80° gebeugt werden können, damit der Prothesenanwender Treppen steigen und gut sitzen kann.
Viele der notwendigen Fragen zur Beurteilung der Stumpfbeschaffenheit kann der Orthopädie-Techniker durch Inspektion und Betasten beantworten. Leider ist es nicht generell üblich, dass durch den betreuenden Arzt ein Röntgenbild zur Verfügung gestellt wird. Gerade für die Beurteilung der knöchernen Stumpfspitze und der lastaufnehmenden Areale ist dieses Wissen aber wichtig. Auch Informationen über hochgradige arterielle Durchblutungsstörungen (AVK) mit möglicherweise einliegendem Bypass/Stent, Thrombosen am amputierten Bein oder Veränderungen im Kniegelenk sind bei der Anfertigung der Prothese bedeutsam.
Eine AVK muss bei der stumpfformenden frühpostoperativen Kompressionstherapie berücksichtigt werden. Eine Kompressionsbehandlung zur Ödembehandlung muss regelmäßig, nach eigener Erfahrung mindestens dreimal täglich, in den ersten postoperativen Tagen überprüft werden, da sonst eine Durchblutungsstörung mit Wundheilungsstörung und letztendlich sogar einer Nachamputation droht. Eine Thrombose in der Beckenachse des amputierten Beines erklärt das deutlich verzögerte Abschwellen eines Amputationsstumpfes nach Operation und auch mögliche spätere Stumpfvolumenschwankungen. Liegt bei einem Patienten schon eine schwere Kniegelenksarthrose vor, ist unter Umständen der statische Aufbau der Prothese anzupassen. Der Orthopädie-Techniker sollte sich anhand der Krankheitsgeschichte des künftigen Prothesenträgers mit solchen Aspekten auseinandersetzen und den mitbetreuenden Arzt im Zweifel um zusätzliche Informationen bitten.
Operationstechniken der Unterschenkelamputation
Der transtibiale Amputationsstumpf kann grundsätzlich in drei wesentliche Höhen eingeteilt werden: den langen, den mittleren und den kurzen Stumpf. Proximal kann auf Mitte des knöchernen Ansatzes der Patellarsehne in der Tuberositas tibiae amputiert werden, und der Patient ist dennoch in der Lage, das Kniegelenk sicher zu bewegen. Distal endet die transtibiale Amputation nach der Definition von Baumgartner oberhalb des Pilon tibiale 5.
Amputationstechniken in Höhe des Sprunggelenkes nach Syme sollten trotz transtibialer Resektion der Rückfußamputation und nicht dem langen Unterschenkelstumpf zugeordnet werden. Es ergeben sich wesentliche Unterschiede der Funktion einer Syme-Amputation im Vergleich zum langen Unterschenkelstumpf. Der Syme-Stumpf weist eine erheblich größere knöcherne Auflagefläche auf und ist in Kombination mit der Fersenhaut hierdurch deutlich belastbarer, sogar bis zur Vollbelastbarkeit. Dagegen ist der lange Unterschenkelstumpf bedingt durch das bradytrophe Gewebe und den erheblich geringeren Knochenquerschnitt nur sehr gering endbelastbar. Nicht selten führt die schlechte Weichteildeckung beim langen Unterschenkelstumpf zu Problemen und bedingt Nachamputationen. Unter dem Aspekt der Vollbelastbarkeit des Syme-Stumpfes ergeben sich zudem andere Versorgungskriterien für die Prothese und die lastaufnehmenden Stumpfareale. Die Autoren meiden aus diesen Gründen den langen Unterschenkelstumpf und amputieren, sollte eine Syme-Amputation nicht möglich sein, im mittleren oder proximalen Drittel.
Es existieren verschiedenste Techniken der transtibialen Amputation, und viele werden nach ihren Erstbeschreibern benannt. Ziel ist es, einen belastbaren Unterschenkelstumpf mit erhaltenem Kniegelenk zu ermöglichen. Das eigene Kniegelenk ist von enormer Bedeutung für den Rehabilitationserfolg. Auch sehr kurze Unterschenkelstümpfe sind durch die eigenständige aktive Kniestreckung einer Knieexartikulation überlegen. Zudem ist die Wahrnehmung der Kniebeugung und das Gefühl der Position des Unterschenkels im Raum für ein sicheres Gehen von enormer Bedeutung. Die Wichtigkeit des Kniegelenks für ein physiologischeres und sturzsicheres Gangbild wird von der Physiotherapeutin Gertrude Mensch in ihrem Buch „Physiotherapie und Prothetik nach Amputation der unteren Extremität“ sehr anschaulich beschrieben 6. Amputationstechniken mit Bildung eines langen posterioren Haut-Muskel-Lappens (Burgess, Brückner) werden im Allgemeinen favorisiert. Dagegen sind Techniken mit fischmaulartiger und sagittaler Schnittführung am Unterschenkel in der Unterzahl. Die Amputationstechnik nach Robinson führt unter dem Ansatz einer besseren Hautdurchblutung eine sogar leicht verdrehte Hautschnittführung durch.
Die Narbe sollte außerhalb des Stumpfendes und somit nicht in der Endbelastungszone liegen. Dadurch können bei Lastaufnahme im Gegensatz zur Position am Stumpfende Zugkräfte im Narbenbereich verhindert werden. Zudem können mechanische Irritationen durch Narben im Endbelastungsbereich vermieden werden. Die weltweit am weitesten verbreitete transtibiale Amputationstechnik ist die nach Burgess. Sir Ernest Burgess beschrieb Ende der 60er Jahre des vergangenen Jahrhunderts dieses Vorgehen. Er hat die systematische Amputationstechnik unter Bildung eines langen dorsalen Haut-Unterhaut-Muskellappens etabliert. In der Folge konnten viele Oberschenkelamputationen vermieden und das Kniegelenk erhalten werden 7. Als problematisch erwies sich jedoch die intraoperative Beurteilung der Muskulatur durch den Operateur, um zu entscheiden, ob diese entfernt werden muss. Die subjektive Bewertung der Durchblutung, die Muskelaktivität und das Aussehen des Muskels sind schlecht reproduzierbar und selbst durch den erfahrenen Operateur nicht leicht zu treffen. Verbleibt schlecht durchblutete Muskulatur und wird nekrotisch, ist der gesamte Stumpf gefährdet. Bei der fortgeschrittenen arteriellen Verschlusskrankheit bestehen dadurch postoperativ häufig Wundheilungsstörungen. Insbesondere treten diese im anterolateralen Stumpfbereich auf. Brückner hat in seiner 1984 verteidigten Habilitationsschrift histo-biochemische Untersuchungen der Muskulatur aus dem Amputationsgebiet durchgeführt. Insbesondere bei Durchblutungsstörungen im Stadium 4 nach Fontaine zeigte sich eine Dekompensation der Muskulatur um die fibulare Muskelgruppe. Der Gastrocnemius medialis et lateralis hingegen wies kompensierte biochemische Verhältnisse auf 8. McCollum untersuchte mittels Wärmebildkameras die Haut und berichtete ebenfalls von schlechter anterolateraler Durchblutung 9. Dies mündete in die zeitweilig durchgeführten Techniken mit leicht verdreht und sagittal geführten Hautschnittlinien, jedoch mit den entsprechend negativen Folgen der Narbenposition 10 11.
Aus den Gründen der ischämischen Muskeldekompensation entwickelte Brückner ein standardisiertes operatives Vorgehen bei der Durchblutungsstörung im Endstadium. Eine subjektive Beurteilung der Muskelgruppen findet bei diesem Vorgehen nicht statt. Neben dem Musculus soleus werden alle Muskeln des anterolateralen Muskelkompartimentes und der tiefen dorsalen Unterschenkelmuskeln entfernt. Hierdurch ergibt sich eine ungenügende Weichteildeckung der Fibula, welche aus diesem Grund ebenfalls entfernt werden muss. Die Muskulatur des Gastrocnemius medialis und ggf. des Gastrocnemius lateralis wird über den knöchernen Stumpf geschlagen und mit Vorspannung an der lateralen Tibia am faszioperiostalen Übergang refixiert. Daraus resultiert ein etwas kürzerer, schlankerer transtibialer Stumpf im Vergleich zum Vorgehen nach Burgess. Mit dieser Technik konnte Brückner auch bei schwer durchblutungsgestörten Patienten in 95 % der Fälle das Kniegelenk erhalten 12.
Aus diesem Grund gehen die Autoren folgendermaßen vor: Bei nicht oder nur gering durchblutungsgestörten Stümpfen führen die Autoren die Technik nach Burgess durch. Beim fortgeschritten durchblutungsgestörten Patienten mit Ruheschmerzen oder gar bereits bestehenden Nekrosen amputieren die Autoren nach der Technik nach Brückner. Bei den Unterschenkelamputationstechniken gilt es einige besondere Aspekte zu beachten, die im Folgenden beschrieben werden.
Stumpfmuskulatur
Das Konzept einer flächigen Lastaufnahme durch den Vollkontakt im Schaft benötigt eine suffiziente Muskulatur. Nur dadurch bestehen stabile Stumpfverhältnisse. Schlecht fixierte Muskulatur und zu große Muskelvolumina erschweren eine Prothesenversorgung. Intraoperativ werden oft das nötige Ausdünnen und eine günstige Fixierung der verbleibenden Muskulatur vernachlässigt. Häufig verbleibt zu viel Unterschenkelmuskulatur im Stumpf. Dieser anfänglich gut weichteilgedeckte und mutmaßlich belastbare Stumpf wird sich durch die unweigerlich einsetzende Muskelatrophie in den kommenden Monaten zu einem schwer zu versorgenden und mit erheblichen Weichteilüberhängen versehenen Stumpf entwickeln. Zudem bestehen bei Belassen des Musculus soleus häufig Durchblutungsstörungen. Vor allem durch die fehlende Muskeleigenaktivität bedingte venöse Abflussbehinderungen in seinem Venenplexus führen zu Muskelvenenthrombosen. Mögliche daraus resultierende postoperative Infektionen und Muskelnekrosen gefährden den Stumpf. Aus diesem Grund ist die Entfernung des Musculus soleus obligat, auch wenn Burgess das Belassen dieser Muskelgruppe beschreibt 13.
Bei allen Unterschenkelamputationstechniken ist ein besonderes Augenmerk auf die Muskeldeckung des Stumpfes zu legen. Fast alle Unterschenkelmuskeln verlieren entweder Ansatz oder Ursprung durch die Amputation. Die Muskulatur ist unter Nutzung der eigenen Faszien mit einer „physiologischen“ Vorspannung zu refixieren. Dies setzt eine erhebliche operative Erfahrung voraus. Es existiert kein Messverfahren, welches es dem Operateur erleichtert, die nötige Muskelspannung abzuschätzen. Es ist während der Operation unbedingt auf eine unnötige Separation der Muskulatur von der Faszie zu verzichten, damit das feste Fasziengewebe zum Fixieren der Muskulatur genutzt werden kann. Bei der Technik nach Burgess ist die fibulare Muskelgruppe ebenfalls unter Vorspannung zu bringen. Hierzu ist ein geringes Einkürzen der sonst störenden Fibula notwendig. Zu beachten ist allerdings, dass ein zu weites Einkürzen zur Instabilität zwischen Fibula und Tibia aufgrund der proximal fehlenden Membrana interossea führt. Daraus resultiert eine Abduktionsfehlstellung der Fibula. Durch die Vorspannung der Muskulatur im Rahmen der Refixierung und dadurch Erhalt eines Muskelansatzes und ‑ursprunges kann der fettigen Atrophie partiell entgegengewirkt werden (Abb. 1a–c).
Da die Muskulatur mit Nähten refixiert wird, benötigt der Stumpf eine Konsolidierungszeit und darf in diesem Zeitraum nicht überlastet werden. Es kommt sonst zum Abreißen der Muskulatur und zum Verlust der physiologischen Vorspannung. Die notwendige Konsolidierungszeit ist natürlich abhängig von der Durchblutungssituation. Aus diesem Grund hat Brückner 2017 einen Paradigmenwechsel zur Nachbehandlung nach Amputation empfohlen. Er schlug vor, bei einem durchblutungsgestörten Stumpf eine 12-wöchige und bei einem nicht durchblutungsgestörten Stumpf eine 8- bis 10-wöchige Ruhephase einzuhalten. In diesem Zeitraum sollte keine intensive Physiotherapie und auch keine prothetische Versorgung erfolgen. Es ist bei anderen operativen Versorgungen mit notwendigen Muskel‑, Sehnen- und Bandnähten absolut üblich, ähnliche Zeiträume vor Aufnahme einer intensiven Rehabilitation einzuhalten. Ein Rehabilitationsmodell analog der Phasen aus dem Bereich der Neurorehabilitation sollte für frisch amputierte Patienten eingeführt werden, um dem Stumpf die nötige Konsolidierungszeit zu ermöglichen. In Abhängigkeit von der Komorbidität kann die Übergangsphase bis zur intensivierten Rehabilitation zu Hause oder in einer stationären Einrichtung erfolgen. Dies gilt auch für Amputationstechniken wie die Syme-Amputation, die Knieexartikulation oder plastisch-rekonstruktive Verfahren mit Muskelschlingenrekonstruktion, da auch hier längere Konsolidierungsphasen zur sicheren Stumpfheilung notwendig sind.
Stumpfneurome
Schmerzhafte und somit symptomatische Neurome sind ein häufiger Grund für eine eingeschränkte Prothesennutzbarkeit. Meist befinden sich symptomatische Neurome an ungünstigen Stellen im Stumpf. Die sich immer bildende Nervennarbe nach Amputation ist einer erhöhten mechanischen Belastung ausgesetzt und führt bei ungenügender Nervenresektion im Rahmen der Amputation zu erheblichen Beschwerden. Sowohl bei der Technik nach Burgess als auch nach Brückner sollten die Nerven aus den in der Prothese belasteten Stumpfbereichen heraus verlagert und 2 bis 5 cm proximal der knöchernen Resektionsgrenzen abgesetzt werden. Hierbei sind die Nerven in weniger belastete Muskelkompartimente zu verlegen. Insbesondere schmerzhafte Neurome der Nn. fibulares und des N. suralis sind keine Seltenheiten (Abb. 2).
Knochenbrücke zwischen Tibia und Fibula
Kontrovers werden Verfahren zur Knochenbrücke bei transtibialen Amputationen diskutiert. Verschiedene Varianten der Knochenbrückenbildung wurden beschrieben. Die Operation nach Ertl-Dederich formt eine periostale Knochenbrücke mit Anteilen der medialen Tibiakortikalis. Nach Guedes-Pinto wird die Knochenbrücke durch Rotieren des distalen Knochenstückes der Fibula in die Tibiastumpfspitze geschaffen, benötigt aber eine Osteosynthese oder K‑Drähte zum Fixieren der Fibula. Diese Techniken stellen in Deutschland eine Rarität dar. Es kommen dafür vorwiegend jüngere Patienten mit traumatischer Amputation oder Tumoren in Frage.
Die angestrebte deutlich verbesserte Stumpfendbelastbarkeit bis sogar Vollbelastbarkeit im Vergleich zur „klassischen“ transtibialen Amputation ist in einzelnen Fällen beschrieben worden 14. Mehrere vergleichende Studien finden allerdings keine höhere Endbelastbarkeit zu den „klassischen“ Amputationsverfahren 15 16. Ein entscheidender Vorteil der Knochenbrücke ist jedoch, dass die Stumpflänge bei Verlust der Membrana interossea gehalten werden kann. Eine Instabilität nach Trauma, wie zum Beispiel Explosionsverletzungen, zwischen Fibula und Tibia erschwert eine prothetische Versorgung bei instabilen Stumpfverhältnissen erheblich. Es können bei größerer knöcherner Belastungsfläche auch Stumpflängen bis zum Übergang vom mittleren bis ins distale Tibiadrittel erhalten werden. Insbesondere bei jungen, aktiven Patienten bedingt dieser lange Hebelarm einen deutlichen Funktionsgewinn. Jedoch sollten die verlängerte Operationszeit und auch das gering gesteigerte Risiko für Komplikationen unter Abwägung der Vorteile einer Knochenbrücke Berücksichtigung finden 17.
Die Autoren haben bisher nur nach Ertl-Dederich rekonstruiert. Das Ziel lautete, die Stumpflänge zu erhalten, eine stabile Verbindung zwischen Fibula und Tibia zu generieren und die knöcherne Unterstützungsfläche zu vergrößern. Osteosynthesematerial wollen die Autoren unter Berücksichtigung einer fremdkörperassoziierten Infektion vermeiden. Bei allen Patienten ist eine zusätzliche proximale Lastaufnahme notwendig verblieben (Abb. 3a–e).
Kniegelenkserhalt
Publikationen, welche unterschiedliche Amputationstechniken beschreiben, zeigen komplikationslose Wundheilungsraten nach Ersteingriff in nur etwa 60 bis 80 Prozent der Fälle auf. Zwischen 10 und 20 Prozent aller Patienten müssen mehrfach operiert und eventuell auch auf einem höheren Niveau nachamputiert werden18 19. Auch unter Einsatz moderner Antibiotika hat sich diese Rate nur unwesentlich verbessert. Die Autoren treffen häufig auf das Argument der zu hohen Komplikationsrate und dass diese durch eine primäre, weiter proximal gelegene Amputation zu verringern sei. Aber der Knieerhaltungsversuch rechtfertigt diese auf anderen chirurgischen Gebieten inakzeptable hohe „Komplikationsrate“. Sollte es gelingen, eine Knieexartikulation oder gar Oberschenkelamputation zu vermeiden, steigen die Chancen einer erfolgreichen Prothesennutzung deutlich an.
Die oft unterschätzte frühpostoperative Rehabilitation
Die Rehabilitation nach Amputation hat eine enorme Bedeutung. Es zeigen sich allerdings in einigen Aspekten leider häufig Defizite. Viele Patienten werden in den ersten Wochen nach Amputation von einem Gefühl der Hilflosigkeit begleitet.
Die Rehabilitation beginnt bereits mit der Operation. Die Wahl der Amputationshöhe und die Kenntnisse um die idealen Stumpfkriterien versetzen den Operateur überhaupt erst in die Lage, einen rehabilitationsfähigen Stumpf zu schaffen. Dazu muss der Operateur über orthopädietechnische Kenntnisse, aber auch der Orthopädie-Techniker über operative Kenntnisse verfügen. Eine enge Zusammenarbeit zwischen Operateuren, Orthopädie-Technikern sowie Reha-Medizinern ist unbedingt notwendig. Leider ist dies flächendeckend in Deutschland noch nicht üblich. Zudem ist Grundlagenwissen über die Rehabilitation und die Prothesenversorgung aus Sicht der Autoren beim Operateur notwendig, um dem zukünftigen Anwender sinnhafte Informationen bereits zu Beginn geben zu können. Dies beginnt mit Fragen nach dem Zeitpunkt einer stationären Rehabilitation: Sollte diese aufgrund der Komorbidität unmittelbar als Anschlussheilbehandlung oder doch verzögert nach Stumpfkonditionierung erfolgen? Ab wann kann überhaupt eine Prothese angepasst werden? Welche Erwartungen an die Nutzung einer Prothese können erfüllt werden, und vor allem, welche nicht?
In Deutschland werden Amputationen meist von Allgemein- oder Gefäßchirurgen durchgeführt, da die häufigsten Ursachen in diesen Fachgebieten zu finden sind. Kenntnisse über Exoprothetik und amputationsspezifische Rehabilitation gehören naturgemäß nicht zum Repertoire dieser Fachdisziplinen. In der Musterweiterbildungsordnung der Bundesärztekammer zur Facharztausbildung Orthopädie und Unfallchirurgie sind Inhalte der Technischen Orthopädie als eine zu erwerbende Kompetenz angegeben. So sollen Fähigkeiten wie die Indikationsstellung, die Gebrauchsschulung und die Überwachung von Hilfsmitteln an den Stütz- und Bewegungsorganen, insbesondere bei Einlagen, Orthesen und Prothesen, vermittelt werden. In der Praxis werden diese Themen jedoch selten ausreichend vermittelt, und eine Richtzahl an Versorgungsbegleitungen, wie es bei operativen Eingriffen oder anderen Kompetenzen verlangt wird, ist nicht vorgesehen. So ist es nicht verwunderlich, dass der Patient erstmalig weiterführende Informationen durch den versorgenden Orthopädie-Techniker oder den Reha-Mediziner erhält. Dabei sollten bereits frühpostoperativ im Krankenhaus und auch unmittelbar nach Entlassung wichtige Dinge beachtet werden: Eine suffiziente Kompressionstherapie zur Behandlung des Stumpfödems und die Stumpfformgebung sollten zeitnah unter Beachtung eventueller Durchblutungsstörungen begonnen werden. Begleitend sollte eine Physiotherapie zur Kräftigung der oberen Extremitäten sowie ein Rollstuhl- und Transfertraining erfolgen.
Der Amputationsstumpf benötigt ein spezielles Training zur Abhärtung, zur Ödemprophylaxe und zur Formgebung. Es gilt eine Kontrakturbehandlung der angrenzenden Gelenke unter Beachtung der Operationstechnik durchzuführen und der Patient muss seitens der allgemeinen körperlichen Leistungsfähigkeit auf die Prothesennutzung vorbereitet werden. Konzepte der Sofortversorgung, wie sie Burgess 20noch beschrieben hat, sind in der Praxis nicht mehr verbreitet. Eine zu frühe Versorgung, wie die Autoren sie leider manchmal sehen, mit einer Interimsprothese bedeutet zwangsläufig aufgrund der unabdingbaren Formveränderungen des Stumpfes, dass die Schaftpassgenauigkeit zu früh versagen wird. Insofern müssen folgende Fragen beantwortet werden: Sollte die Rehabilitation mit oder ohne Prothese aufgenommen werden? Profitiert der Patient von einer ambulanten oder stationären Rehabilitation? Durch wen erfolgt die weitere orthopädietechnische Versorgung, falls die Interimsprothese in der Reha-Einrichtung angefertigt wurde? Welche Dinge gilt es für die private und eventuelle berufliche Wiedereingliederung zu beachten? Welche Hilfsmittel werden zusätzlich zur Prothese benötigt?.
Sobald der Patient eine Rehabilitation aufgenommen hat, können meist interdisziplinär und interprofessionell die komplexen Fragestellungen angegangen werden. Die Leitlinie „Rehabilitation nach Majoramputation an der unteren Extremität“ 21 der DGOOC weist ein geeignetes Rehabilitationskonzept auf, jedoch werden vom Zeitpunkt der Amputation im Akutkrankenhaus bis zum Beginn der Rehabilitation leider noch viele Patienten allein gelassen.
Nervenablative Therapie/Botulinumtoxininfiltration
Häufige Ursachen für Stumpfschmerzen sind symptomatische Neurome. Amputationen führen immer zu einer Nervennarbe, welche als „Neurom“ bezeichnet wird. Bei entsprechender suffizienter Kürzung im Rahmen der Amputation und Verlagerung außerhalb der Belastungszonen bleiben diese meist asymptomatisch. Bei unsachgemäßer Amputation oder durch Neueinwachsen des Nervenendes in eine ungünstige Position können Neurome bis zur Unfähigkeit einer Prothesennutzung führen. Die Autoren haben gute Erfahrungen mit neuroablativen Verfahren gemacht. Nach erfolgreicher computertomographiegestützer diagnostischer Infiltration des Neuroms mit einem Lokalanästhetikum erfolgt seine Kryoablation. Sind zusätzlich zu dem Neurom weitere anatomische Einschränkungen am Stumpf vorhanden, favorisieren die Autoren jedoch eine operative Stumpfkorrektur mit entsprechender Entfernung des Neuroms.
Bei Neuromschmerzen mit begleitenden neuropathischen Stumpfschmerzen kann mit der lokalen flächigen Infiltration mit Botulinumtoxin Linderung erzielt werden. Die Autoren injizieren sowohl um das Neurom als auch flächig in die entsprechenden Areale bis zu 300 IE Botulinumtoxin. Pro Einzelinfiltration werden 10 IE appliziert. Sollte die Erstinfiltration erfolgreich sein, empfehlen die Autoren wie andere eine wiederholte Infiltration innerhalb von ein bis drei Monaten 22.
Die Kryoablation und die lokale Botulinumtoxininfiltration sind nach Erfahrung der Autoren erfolgversprechend bei Stumpfschmerzen. Der reine Phantomschmerz oder auch das sehr unangenehme schmerzbegleitende Stumpfschlagen können damit leider nicht gut behandelt werden.
Gründe für eine operative Stumpfkorrektur
Bei vorhandenen Stumpfproblemen zielen alle Maßnahmen auf einen belastbaren, funktionstüchtigen und idealerweise schmerzfreien Stumpf ab. Beim Versagen der konservativen Behandlungsmaßnahmen ist zu überdenken, ob eine operative Stumpfkorrektur angezeigt ist. Die Nachamputation auf einem höheren Niveau sollte bei diesen Überlegungen eine absolute Ausnahme darstellen. Selten ist ein einfacher chirurgischer Eingriff möglich, sondern es ist eine plastische rekonstruktive Stumpfkorrektur nötig. Augenmerk ist auf ein Abrunden möglicher Knochenkanten, die Refixierung der Muskulatur mit physiologischer Vorspannung sowie eine suffiziente Weichteildeckung des knöchernen Stumpfes zu legen. Gefäß- und Nervenstrukturen sind aus den Belastungszonen durch Einkürzen zu entfernen. Beim Hautverschluss sollte auf eine günstige Position der Narben außerhalb der Belastungszone geachtet werden. Viel Erfahrung setzt das Reduzieren der Weichteile inklusive der Muskulatur voraus.
Die ungenügende Weichteildeckung des knöchernen Stumpfendes ist leider ein häufiges Problem. Nach Erfahrung der Autoren resultiert dies aus der bereits angesprochenen ungenügenden Fixierung der Muskulatur über dem Stumpfende. Die Atrophie der Weichteile und insbesondere der Muskulatur führt zur Retraktion der Weichteile nach dorsal. Beim horizontalen Halten des Stumpfes zeigt sich das typische Bild des weit nach unten durchhängenden Weichteilmantels und der unmittelbar unter der Haut freiliegenden und kaum gedeckten Tibia. Ursächlich dafür sind entweder eine operativ ungenügende Fixierung der Muskulatur an der Stumpfvorderseite oder ein nachträgliches Abreißen der Muskulatur. Die Autoren glauben, dass eine Frühversorgung mit einem Pin-Linersystem die Stumpfmuskulatur überbeansprucht. So sehen die Autoren häufig junge Patienten, welche wenige Monate nach Amputation bereits keine fixierte Muskulatur mehr aufweisen. Durch die angestrebte sehr rigide Fixierung der Prothese und die zentrale Position des Pins werden die Weichteile im Liner häufig in eine ungünstige Position am Stumpfende gezwungen. Ein allmähliches Abreißen der Weichteile von der tibialen Fixierung ist die Folge. Im Laufe der Zeit bildet sich aufgrund der mechanischen Mehrbelastung des Knochens eine Pseudobursa. Diese besteht aus vernarbtem Gewebe mit einem flüssigkeitsgefüllten Hohlraum. Klinisch lässt sich fast immer am Stumpfende ein krepitierendes Gefühl mit begleitendem Stumpfschmerz auslösen. Oft kommt es zu Entzündungen mit Rötung und Schwellung der Haut. Im fortgeschrittenen Fall können sogar Abszedierungen auftreten. Operativ sollte eine große Bursa entfernt werden. Begleitend muss eine suffiziente Weichteildeckung des Stumpfendes hergestellt werden (Abb. 4a‑c).
Stumpfneurome
Sollte die konservative Therapie von symptomatischen Stumpfneuromen erfolglos sein oder weitere Gründe zur Revision bestehen, erfolgt eine vollständige operative Freilegung des Neuroms und des ursprünglichen Nervens. Nicht selten zeigen sich ungekürzte Nerven in der Muskulatur. Insbesondere sowohl der Nervus fibularis als auch der häufig in der Amputation „vergessene“ Nervus suralis stellen immer wieder eine Ursache für Neurombeschwerden dar. Eine Provokation des Nervens durch Beklopfen (pathologisches Hoffmann-Tinel-Zeichen) und eine ergänzende Magnetresonanztomographie lassen präoperativ das Neurom immer gut finden. In der Operation kann dann gezielt, bei unter Umständen auch bereits erheblich veränderter Anatomie der Weichteile, der Nerv mit dem Neurom dargestellt werden. Die Nerven werden gekürzt und proximal des Amputationsniveaus der Tibia verlagert. Eine historisch beschriebene Verlagerung des Nervenstumpfes in Venen oder sogar Knochenfenster sollte nicht erfolgen (Abb. 5a–d).
Ungenügende knöcherne Stumpfform/Weichteilverknöcherungen
Eine ungünstige knöcherne Stumpfform ist durch den Orthopädie-Techniker nur bedingt ausgleichbar. Häufige Probleme stellen schlecht oder gar nicht abgerundete Schienbeinvorderkanten sowie ungenügende oder falsche Kürzungen der Fibula dar. Auch eine Zerreißung der Membrana interossea mit einer daraus resultierenden Abduktionsfehlstellung der Fibula ist orthopädietechnisch schwer zu versorgen. Ebenso könne Exostosen und heterotope Ossifikationen zu finden sein (Abb. 6a–e).
Fazit
Die Fülle der heutigen orthopädietechnischen und orthopädieschuhtechnischen Versorgungsmöglichkeiten ist für Ärzte nicht leicht zu überblicken. Gleichwohl wird von ihnen verlangt, die entsprechenden Verordnungen vorzunehmen und das technische Hilfsmittel letztendlich zu bewerten und abzunehmen. Der Orthopädie-Techniker und die Physiotherapeuten sind andererseits auf Informationen zu Komorbiditäten und zur stattgehabten operativen Versorgung angewiesen. Mitunter ist es nötig, aufgrund der Operationstechnik vom „orthopädietechnischen Versorgungstandard“ auf eine sehr individuelle Versorgung auszuweichen. Meist erschließt sich das sinnhafte Vorgehen erst im interprofessionellen Dialog. Eine optimale Versorgung ist aus Sicht der Autoren nur möglich, wenn sich jeweils fachkundige Orthopädie-Techniker und Ärzte gemeinsam mit schwierigen Fällen befassen.
Für die Autoren:
Patrick Schröter Facharzt für Allgemeinchirurgie
BG Klinikum Bergmannstrost
Klinik für Unfall- und Wiederherstellungschirurgie
Merseburger Straße 165
06112 Halle
Patrick.Schroeter@bergmannstrost.de
Begutachteter Beitrag/reviewed paper
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- 2‑Schalen-Orthese mit Kondylenabstützung in Carbontechnik zur orthopädischen Schuhversorgung — 4. Oktober 2024
- Orthopädische Versorgung der neuromuskulären Skoliose: Vorteile von biomechanisch optimierten Rumpforthesen am Beispiel des „neuroBrace“-Systems — 4. Oktober 2024
- Rekonstruktion der ersten „Eisernen Hand“ des fränkischen Reichsritters Gottfried (Götz) von Berlichingen (1480 – 1562) — 4. Oktober 2024
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