Der Endostiel – ein Patent aus Deutschland
In Deutschland wird seit mehr als 20 Jahren das „endostieladaptierte Exo-Prothesenversorgungskonzept nach Dr. Grundei“ (Eska Orthopaedic) genutzt – eine Erfindung aus Lübeck, die sich längst weltweit verbreitet hat. Das von Dr.-Ing. Hans Grundei geschaffene System ist sowohl als Erstversorgung nach einer Amputation als auch nach Jahrzehnten für schaftgeführte Prothesen geeignet. Nicht zuletzt bei fortdauernden Schmerzen oder Problemen im Schaftbereich ist dieses System eine Option – und hat Patientinnen und Patienten schon aus dem Rollstuhl herausgeholfen. Dr. Grundei gehört zweifelsohne zu den Pionieren der Osseointegration in der Orthopädie-Technik. Der gelernte Orthopädiemechaniker und spätere Ingenieur hatte 1969 seinen Meisterabschluss in der Tasche und entwickelte bereits ab Beginn der 1970er-Jahre Implantate für Knie- und Hüftgelenke. In den folgenden Jahrzehnten reifte die Idee, ein Implantat mit einer Exoprothese zu verbinden. 1999 war es soweit: Der erste Patient wurde osseointegrativ mit einer Prothese ohne Schaft versorgt. Heute hält der 77-Jährige Bundesverdienstkreuzträger rund 2000 Patente und arbeitet nach wie vor an Innovationen – eine davon wird auf der diesjährigen OTWorld präsentiert. Zudem hat er eine Entwicklungskooperation zwischen Eska und einem großen Hilfsmittelhersteller auf den Weg gebracht. Sein Sanitätshaus Schütt & Grundei, das er einst mit Gerhard Schütt (Bundesinnungsmeister für Orthopädie-Technik 1982–1990) gründete, wird jetzt in zweiter Generation als Familienunternehmen mit neun Standorten geführt. Im Interview berichtet Dr. Grundei über seinen Weg zur Osseointegration, sein Berufsverständnis und gibt einen Ausblick, welche Neuheit aus der Neuroprothetik er in Leipzig präsentieren wird.
Mechanikus und Medikus Hand in Hand
OT: Herr Dr. Grundei, was hat Sie auf Ihren Weg gebracht?
Dr.-Ing. Hans Grundei: Im Oktober dieses Jahres bin ich seit 50 Jahren selbstständig. Meine Ausbildung habe ich in einer orthopädie-technischen Werkstatt in Neumünster begonnen. Mein Vater gehörte zu den vielen Kriegsversehrten, er hatte im Zweiten Weltkrieg ein Bein verloren und damals noch das klassische Holzbein bekommen. Ich habe hautnah erlebt, wie er darunter gelitten hat. Menschen wie ihm wollte ich zu einer besseren Versorgung verhelfen – und damit zu einem besseren Leben.
OT: Wodurch wurde Ihr weiterer Berufsweg beeinflusst?
Grundei: Fast von Beginn an war ich stark mit der universitären Forschung verbunden, zunächst ab 1963 als Mechanikus in der Orthopädischen Universitätsklinik in Kiel, danach an der Medizinischen Akademie in Lübeck. Mit 23 Jahren stand ich mit im OP-Saal, habe Amputationen hautnah erlebt. Ich wurde zum ständigen Begleiter der Ärzte, habe sehr viel über die menschliche Anatomie und das Interpretieren von Röntgenbildern gelernt. Wir haben direkt vor Ort über die individuelle Versorgung eines jeden Patienten diskutiert. Ich habe die Fragen der Ärzte aufgenommen und nach passenden Lösungen gesucht. Mein Antrieb war immer, das beste Hilfsmittel für den einzelnen Patienten zu finden. Meine Neugier hat mich schließlich Ende der 1980er-Jahre zum Ingenieursstudium nach Moskau geführt. Während ich mich dort mit dem „Einsatz von Materialien in der Endoprothetik“ befasste, wohnte ich beim Orthopäden Juri Georgijewitsch Schaposchnikow und seiner Frau, der Kosmonautin und ersten Frau im Weltraum Valentina Tereschkowa, im Sternenstädtchen, dem russischen Kosmonautentrainingszentrum in der Nähe von Moskau. Eine inspirierende Zeit!
OT: Wie ist Ihre aktuelle Sicht auf Ihr Berufsfeld, auf die orthopädie-technische Branche?
Grundei: Mechanikus und Medikus müssen Hand in Hand gehen – davon bin ich überzeugt. Nur im ständigen Austausch mit den Chirurgen und natürlich mit den Patienten entsteht neues Wissen, erfinden wir neue Versorgungsmöglichkeiten und Hilfsmittel. Der Mensch, den wir unterstützen wollen, muss immer im Mittelpunkt stehen. Für sein Wohl müssen wir uns hochkonzentriert alle Mühe geben. Wir sind keine Verkäufer! Das ist in der Branche manchmal verlorengegangen, scheint mir. Außerdem dürfen wir nie aufhören zu lernen. Ich habe mit 50 Jahren mein Doktordiplom erhalten.
Qualifikation immer erneuern
OT: Was können Berufsanfänger aus Ihrer Karriere lernen?
Grundei: Es ist ein Irrtum zu glauben, dass nach der Ausbildung die Qualifikation ein Leben lang erhalten bleibt. Auch der Meisterbrief ist letztlich nur eine Urkunde und kein Dokument, mit dem das Lernen endet. Am Anfang meines Berufslebens, in der Ausbildung, war ich zum Beispiel in erster Linie klassisch handwerklich in der Werkstatt tätig. Ich hätte damals nicht erwartet, dass ich schon in den 1970er-Jahren einen Umbruch in der Ausbildung und Qualifikation erleben werde.
OT: Wie sah dieser Umbruch aus und wie hat er Ihre Richtung bestimmt?
Grundei: Wir Techniker rückten viel stärker an die medizinische Wissenschaft heran. 1973 habe ich meinen ersten Vortrag vor mehr als 1.000 Zuhörern gehalten. Damals habe ich mein erstes Patent angemeldet – für die anatomische Cervicalstütze nach Prof. Henßge zur Behandlung des Schleudertraumas (HWS-Syndrom). Und ich war mit dabei, als im selben Jahr der Lübecker Arbeitskreis Endoprothetik startete – ein Schulterschluss zwischen Medikus und Technikus.
OT: Was war das Ergebnis?
Grundei: Wir haben an Implantaten nach realem anatomischem Vorbild geforscht, die dem menschlichen Bewegungsablauf möglichst genau entsprechen. Ich war vor allem Anatomiker, weniger Techniker. In den folgenden zehn Jahren haben wir ein komplettes Knie- und Hüftsystem entwickelt. Bereits 1981 hatte ich mit Spongiosa Metal I eine metallische, dreidimensionale schwammartige Struktur geschaffen, durch die lebender Knochen ein- und hindurchwächst (Spongiosa = latein. schwammig; med. schwammartiges System im Innenraum des Knochens). Ohne Zement konnte eine Endoprothese so eine innige Verbindung mit dem Knochen eingehen. Das war eine Grundlage für den späteren Endostiel. Die Inspiration lieferte übrigens ein Polyurethanschwamm, den ich bei Ottobock in Duderstadt entdeckt habe. Ein weiterer Meilenstein für mich war die mitwachsende Tumorendoprothese für Kinder, für die ich 1986 den Innovationspreis der deutschen Wirtschaft erhielt – damit konnten wir Beine retten.
Erkenntnisse nicht zurückhalten
OT: Wie wichtig war Ihnen, dass andere an Ihrem Wissen teilhaben?
Grundei: Uns ist es gelungen, hier in unserer Lübecker „Bude“ immer mit der Zeit zu gehen und Dinge zu entwickeln, die es auf der Welt noch nicht gegeben hat. Unser Team hat immer alles veröffentlicht: Erfolge und Irrwege, Wissen nicht zurückgehalten. Das hat uns bis nach Australien, in die USA, oder nach Japan bekannt gemacht.
OT: Wie kam es zur Entwicklung Ihres endostieladaptierten Exo-Prothesenversorgungskonzepts?
Grundei: 1993, ich war gerade 50 Jahre geworden, hörte ich einen Vortrag über die Amputationsversorgung mit Implantaten, die Brånemark in Schweden in den Oberschenkel hineindrehte. Das fand ich spannend. Ich begann, an der Idee eines festsitzenden Endostiels zu arbeiten, dessen besondere Oberfläche sich schneller mit dem Knochen verbindet. Bereits 1990 hatte ich die Version II von Spongiosa Metal aus der Taufe gehoben: eine noch rauere Struktur mit einer Oberfläche aus Tripodenelementen, die aussehen wie kleine Dreifüße oder Panzersperren. Dadurch kann sich das Implantat mit dem Knochen regelrecht verzahnen. Ein festerer Sitz, Stabilität bei hohen Belastungen sowie eine schnellere Rehabilitation sind so erreichbar. Blut durchfließt das Metall – das ist das ganze Geheimnis. Zwischen 1996 und 1998 haben wir im Team mit der Universität zu Lübeck nach unserem Weg für ein solches osseointegratives Konzept gesucht, nach dem Lübecker Weg sozusagen. Unser Pressfit-Verfahren ist nicht kompatibel mit der schwedischen Schraubtechnik (OPRA).
Der Stiel ist heilig
OT: Wann ging es dann richtig los?
Grundei: 1999 wurde der 17-Jährige Martin nach einem Motorradunfall mit erheblichen Weichteilverletzungen als erster Patient mit dem neuen System versorgt. Ich hatte dafür ein anatomisches Knie samt Adapter entwickelt. Nachdem sich Martin für die mikroprozessorgesteuerte Beinprothese C‑Leg von Ottobock entschied, verwendeten wir zunächst einen Anschlussadapter des Duderstädter Unternehmens. 2003 habe ich dann einen eigenen Adapter entwickelt, der jegliche Achseinstellungen ermöglicht und patentrechtlich geschützt ist. Heute haben wir 106 verschiedene Anschlussmodule, mit denen sich die Statik optimal einstellen lässt. Ein Orthopädie-Techniker muss ganz genau ausmessen, mit welchem Adapter ein Patient am besten läuft. Das grundlegende Design des Anschlussadapters hat sich seit 2013 nicht verändert, damals haben wir einen Einhandverschluss eingeführt. Das Design des Verankerungsstiels ist ebenfalls gleich geblieben. Es gibt 27 Varianten – neun Durchmesser, drei verschiedene Längen.
OT: Wie lange hält das System, bis es erneuert werden muss?
Grundei: Die Adapter verschleißen, aber der Stiel* unter der Haut ist heilig und eigentlich für ewig gedacht – sofern der Nutzer zum Beispiel nicht an Osteoporose erkrankt. Bei Martin, unserem ersten Patienten, hatten wir noch nicht so viele Erkenntnisse. Er hatte sich körperlich stark entwickelt und bei einem Sturz nach drei bis fünf Jahren Tragezeit brach der Stiel ab. In der Zwischenzeit hatten wir das Verfahren modifiziert – mit dem neuen Stiel läuft er immer noch.
*Der Stiel mit der 3D-innerkonnektierenden Oberfläche wurde bereits 1983 (OT 12/1983) durch Grundei veröffentlicht. Er diente zunächst der endoprothetischen Versorgung von Tumorpatienten nach Tumorentfernung in Knie oder Hüfte.
Ist der Patient zufrieden, ist die Welt in Ordnung
OT: Wie viele Patientinnen und Patienten wurden seitdem versorgt?
Grundei: Wir marschieren weltweit auf die 1.000 zu. Wir haben Patienten in der Türkei versorgt, gerade einen Auftrag aus dem Iran bekommen. Ärzte und Techniker aus Australien, den USA oder Mexiko waren hier oder meine Leute sind hingeflogen. Wir haben eine Eska USA, Italien, Iberia, Australien, Japan, Benelux. „Mein“ Orthopädietechniker-Meister Andreas Timmermann lässt nicht locker, bis die Statik stimmt und der Patient ordentlich läuft. Erst wenn der Patient zufrieden ist, ist die Welt in Ordnung.
OT: Welche Extremitäten können mit Ihrem System versorgt werden?
Grundei: Nach wie vor handelt es sich vor allem um Versorgungen nach Oberschenkelamputation. In den vergangenen zwei Jahren haben wir fünf Oberarme osseointegrativ versorgt. Hier stellt sich lediglich die Frage der Knochenlänge: Mindestens zehn Zentimeter müssen es sein, damit sich das Implantat nicht lockert. Das gilt ebenfalls bei der Versorgung nach Unterschenkelamputation. An einer Versorgungsmöglichkeit für Unterarme arbeiten wir gerade. Während wir vor 20 Jahren die Sozialgerichte beehren mussten, gehört Osseointegration heute zu den von gesetzlichen Krankenkassen akzeptierten Versorgungsformen.
Orthopädie-Techniker hat wesentlichen Einfluss
OT: Was ist das Besondere an Ihrer Entwicklung?
Grundei: Der Endostiel als Verlängerung des Knochens gibt erheblich mehr Mobilität und Bewegungsfreiheit als schaftgeführte Prothesen. Vorher mit Schaft versorgte Patienten schildern uns, dass sie durch die Stielversorgung anders zu fühlen beginnen. Sie würden den Untergrund, auf dem sie laufen, neu spüren und erleben. Ähnliche Effekte gibt es bei Versorgungen der oberen Extremität. Diese Wirkung muss ein Orthopädie-Techniker begreifen. Der Grund ist eine andere Kraftübertragung, die direkt über den Knochen erfolgt. Die Patienten sind bis zu 16 Stunden am Tag auf den Beinen – das ist mit Schaft eher selten.
OT: Wie wichtig ist bei der Osseointegration die Arbeit des Orthopädie-Technikers?
Grundei: Zu 75 Prozent ist der Orthopädie-Techniker für den Erfolg der Versorgung verantwortlich. Ohne enge Zusammenarbeit im interdisziplinären Team mit Chirurgen und Physiotherapeuten geht es allerdings nicht. Wer unser Konzept einsetzen möchte, muss eine Qualifizierung und Zertifizierung durchlaufen. 15 Sanitätshäuser in Deutschland bundesweit können dies vorweisen. Ich unterschreibe ein Zertifikat nur, wenn ich weiß: Die oder der kann es! Empfehlenswert sind zehn bis 15 Versorgungen pro Jahr und die Kooperation mit einer der etwa sechs Kliniken, die Endo-Operationen durchführen. Jeder Orthopädie-Techniker erhält mit seiner Zertifizierung ein 90-seitiges Handbuch, das den Versorgungsweg detailliert darlegt. Dokumentation ist in unserem Beruf das A und O.
Neuroprothetik-Innovation für OTWorld geplant
OT: Wie geht die Entwicklung weiter?
Grundei: Auf dem Kongress der OTWorld.connect 2020 will ich den Prototyp einer neurogesteuerten Beinprothese vorführen, an dem wir gerade intensiv arbeiten. Über Sensoren werden Nervenimpulse aufgenommen und an ein elektronisches Kniegelenk gesendet, das sie in Bewegungen verwandelt. Keine drei Stunden musste unser Testnutzer üben, bis die neuroprothetische Steuerung klappt. Sein Kopf arbeitet – und sein Bein bewegt sich. Zurzeit befinden sich die Sensoren noch auf der Haut. Die Implantate sind aber fast fertigt. Sie werden am Nervenstumpf adaptiert. Sie werden durch die Haut aufgeladen. Auf die Idee bin ich durch eine Dissertation für einen künstlichen, motorisch bedienten Schließmuskel der Harnröhre gekommen, die ich vor einigen Jahren begleitet habe. Ich freue mich schon sehr, diese Innovation in Leipzig zu zeigen! Eine Vorlesung an der Bundesfachschule für Orthopädie-Technik BUFA ist ebenso geplant. Ich will meine Ideen weitertragen und bin überzeugt, dass der Orthopädie-Techniker der Zukunft halb Ingenieur, halb Mediziner sein wird.
Die Fragen stellte Cathrin Günzel.
Osseointegration: Kliniken
Operationen sowie Endo-Implantate werden vom Krankenhaus direkt mit dem Kostenträger wie zum Beispiel der Kranken- oder Unfallkasse abgerechnet. Für die Exo-Versorgung wie Auswahl und Anpassung der Prothese reicht der zertifizierte Orthopädie-Techniker einen Kostenvoranschlag beim Kostenträger ein. Zu den Kliniken, die Implantate nach Dr. Grundei einsetzen, gehören:
- Berufsgenossenschaftliches Klinikum Bergmannstrost Halle (Saale), Unfall- und Wiederherstellungschirurgie
- Berufsgenossenschaftliche Unfallklinik Murnau, Septische und rekonstruktive Chirurgie
- Bundeswehrkrankenhaus Berlin, Unfallchirurgie, Orthopädie und septisch rekonstruktive Chirurgie
- Chirurgisches Klinikum München Süd, Endoprothetik
- Medizinische Hochschule Hannover (MHH), Unfallchirurgie, Endo-/Exoprothetik
- Universitätsklinikum Münster (UKM), Allgemeine Orthopädie und Tumororthopädie/Technische Orthopädie
- 24 Video-Stunden zum Tag des Handwerks — 15. September 2020
- Mechanisches Hüftgelenk in der Weiterentwicklung — 3. September 2020
- Partnerschaft: PFH Göttingen und Sanitätshaus Wittlich — 1. September 2020