Einleitung
Die orthetische Versorgung von Schlaganfallpatienten gehört zu den Standards der Orthopädietechnik. Eine Vielzahl teilkonfektionierter und konfektionierter Industrieprodukte ermöglicht ein schnelles Eingreifen bereits zu einem frühen Zeitpunkt der Rehabilitation. Davon ausgehend, dass laut Robert Koch-Institut der „Schlaganfall […] weltweit die zweithäufigste Todesursache und eine wichtige Ursache für Behinderung im Erwachsenenalter“ 1 ist und dass nach „Ergebnissen der Studie GEDA 2014/2015-EHIS […] insgesamt 1,6 % der Erwachsenen in Deutschland (1,7 % der Frauen und 1,5 % der Männer) in den letzten 12 Monaten einen Schlaganfall oder chronische Beschwerden infolge eines Schlaganfalls“ 2 erlitten haben, gilt es, den Fokus auf die Situation der orthetischen Versorgung in diesem Bereich zu lenken, zumal zu erwarten ist, dass die sich verschiebende Verteilung der Alterskohorten in der Bevölkerung zu einer weiteren Erhöhung der Zahl an Neuerkrankungen führen wird. Nach der schon zitierten Studie des Robert Koch-Instituts aus dem Jahr 2017 liegt die Zahl der Neuerkrankungen „bei beiden Geschlechtern in den Altersgruppen unter 55 Jahren noch deutlich unter 1 %, steigt danach aber rasch und überproportional auf bis zu 6,3 % im Alter ab 75 Jahren an“ 3. Es steht also zu erwarten, dass die „Zahl der Schlaganfallpatienten und die Kosten von Schlaganfallpatienten für das Gesundheitssystem in Deutschland kontinuierlich bis zum Jahr 2025 steigen“ 4 werden. Einer Vermeidung von Einschränkungen und Behinderungen 5 gilt es also frühzeitig mit einem sinnvollen Zusammenspiel von Therapie und Orthetik den Weg zu bereiten. Dafür sprechen therapeutische, medizinische, technische und nicht zuletzt volkswirtschaftliche Gründe 6.
Die jeweiligen Ausprägungen der Beeinträchtigungen sind vielzählig und ganz verschieden; eine einheitliche Versorgung kommt daher und auch aus Gründen unterschiedlicher Versorgungsregime nicht in Frage. Denn Erfolge in Therapie und Rehabilitation sind nicht zuletzt von der Qualität und der Quantität der verordneten physio- und ergotherapeutischen sowie logopädischen Interventionen abhängig.
Behinderungen infolge eines Schlaganfalls treten nicht zwingend in gleicher Ausprägung an der unteren und oberen Extremität auf; oft werden in der Therapie die Prioritäten auf Stehen und Gehen gelegt und die obere Extremität mit dem Rumpf nicht simultan integriert. Beide Extremitätenhöhen sind aber gleichermaßen von Bedeutung; durch eine probate orthetische Versorgung wird die therapeutische Arbeit ergänzt und unterstützt – eine orthopädietechnische Versorgung ohne Einordnung in das therapeutische Gesamtkonzept ist aller Erfahrung nach nicht produktiv.
Grundlagen der orthetischen Versorgung nach einem Schlaganfall
Die Versorgung von Klienten mit Schlaganfall zielt darauf ab, Defizite auszugleichen, die Fähigkeiten des Patienten zu fördern, den Tonus zu regulieren, die Bewegung zu führen und – das ist ein wesentlicher Aspekt – seine Schmerzen zu reduzieren. Über allen Anforderungen steht aber der Nutzen im Alltag: Eine orthetische Versorgung muss eine so gute Handhabung offerieren, dass die Nutzung mit geringstmöglichem Aufwand realisierbar ist und auch für den Betroffenen sinnvoll erscheint, bei ihm also für eine gute Compliance sorgt. Die Orthese muss ihm einen Nutzen bei der Bewältigung der Aufgaben des Alltags verschaffen und eine probate Basis für die Verbesserung seiner Selbstständigkeit und Selbstbestimmtheit sein. Hilfsmittel, die zur Nichtbenutzung führen, da sie zu schwer, zu kompliziert, nicht eigenständig an- und ablegbar sind oder sogar Schmerzen und Druckstellen verursachen, führen zur Hilfsmittelverweigerung. Das durch die Erkrankung erworbene „Nichtkönnen“ wird dann durch die zusätzliche „Behinderung“ – hervorgerufen durch eine ungeeignete Orthesenversorgung – häufig mit einer unterlassenen Verwendung der betroffenen Extremität, im schlechtesten Fall sogar der gesamten betroffenen Seite beantwortet. Man spricht dann von einem „erlernten Nichtgebrauch“, der besonders an der oberen Extremität dazu führt, die verlockende Geschwindigkeit und Geschicklichkeit der unbeschadeten Seite den Mühen mit der betroffenen vorzuziehen 7.
Kommt es nicht zum Einsatz einer sinnvollen Orthetik oder kommt diese zu spät zum Zuge, können Folgen wie die hier genannten auftreten:
- Verlust von Muskelkraft, Atrophie
- Entwicklung von Muskel‑, Sehnen- oder Weichteilfibrosen oder ‑kontrakturen
- sekundäre Knochen- oder Gelenkdeformitäten
- schmerzhafte Spastik
- ungünstige Hygiene und daraus resultierende Infektionen
- Pflegeprobleme 8
Im Folgenden werden wichtige Aspekte im Zusammenhang mit der orthetischen Versorgung nach einem Schlaganfall behandelt, darunter die Ganzheitlichkeit der Versorgung, Parameter der Versorgungsqualität, Versorgungsziele und Modelltechnik.
Die obere Extremität steht nicht für sich alleine
Zwar konzentriert sich dieser Artikel explizit auf die Versorgung der oberen Extremität, jedoch muss an dieser Stelle hervorgehoben werden, dass eine segmentierte Betrachtung von Körperabschnitten bei Patienten nach einem Schlaganfall nicht zielführend sein kann. Die Komplexität der Behinderung erfordert immer einen ganzheitlichen Blick und auch eine ganzheitliche und möglichst zeitgleiche Versorgung 9, wie das Beispiel in Abbildung 1 deutlich macht.
Parameter der Versorgungsqualität
Für die obere Extremität lassen sich die Anforderungen an eine adäquate Versorgung sehr gut definieren: Verschiedene Untersuchungen haben gezeigt, dass statische Schienen keinen Effekt auf Muskeltonus und ‑dehnung haben und oft zu Ablehnung führen. Dynamische Systeme hingegen helfen, den „erlernten Nichtgebrauch“ zu vermeiden, die betroffene Hand für funktionale Aktivitäten im Alltag („activities of daily living“, ADLs) einzusetzen und darüber hinaus bei Inaktivität die Muskulatur zu dehnen 10. „Bei einem Längengewinn der Muskulatur ist nicht nur eine vorübergehende, sondern eine längerfristige Spastikreduktion anzunehmen“ 11. Für die Einfassung der Extremität ist auf ein flächiges Containment abzustellen. Man weiß, dass eine „zirkuläre Lagerung (Gipse) […] zu Spastikreduktion [und zu einer] Reduktion der sensiblen Afferenzen“ führt und dass „großflächige Berührungsreize“ propriozeptiv günstig auf die Verminderung des Tonus wirken 12. Vergleichbare Ergebnisse bezüglich der Zunahme der Stabilität und der motorischen Entwicklung wurden auch bei Verwendung eines „Johnstone Pressure Splint“ beobachtet 13.
Versorgungsziel
Ziel der orthetischen Versorgung ist die motorische Wiederherstellung der Funktionen der oberen Extremität im Rahmen der gegebenen Voraussetzungen. Das heißt auch, dass das Ergebnis nicht am Zustand vor dem Schlaganfall, sondern an den erzielbaren Möglichkeiten danach zu messen ist. Schon eine 90-prozentige Wiederherstellung dürfte dabei eine rare Ausnahme unter besten Voraussetzungen sein. Dabei sind Propriozeption und der Grad der körperlichen Aktivität eng voneinander abhängig 14. Der Einsatz der Arme fördert die posturale Kontrolle 15 und hat damit eine Rückwirkung auf Sitzen, Stehen und Gehen. Mit anderen Worten: Die ganzheitliche Wirkung der Aktivität ist bestimmend für die physische und mentale Gesundheit und fördert auch kognitive Fähigkeiten, in der Folge zudem die neurale und funktionale Wiederherstellung des Nervensystems 16.
Diese Erkenntnis ist auch wichtig bei nicht gehfähigen Klienten, deren Motivation in einer verbesserten Führung ihres Rollstuhls und damit auch einem verbesserten Sitzen bestehen kann. Eine optimale Sitzposition wiederum ist die Grundlage für eine passable und koordinative Funktionalität der oberen Extremität. Beides führt am Ende zu Sitzsymmetrie, ‑stabilität und Aufrichtung. In Verbindung damit werden Teilnahme (erhobener Blick) und Sicherheit (erweitertes Sichtfeld) verbessert 17.
Modelltechnik
Die eingangs erwähnten industriell bereitgestellten Orthesenoptionen lassen sich besonders gut in der Frühphase nach dem Schlaganfall einsetzen. Zu diesem Zeitpunkt stehen dem kaum funktionelle Abweichungen und Weichteilveränderungen entgegen (Abb. 2). Im weiteren Verlauf nehmen die Beeinträchtigungen allmählich einen individuelleren Verlauf, der äußerlich erkennbar und über die Mobilisierung qualitativ erfassbar ist. An dieser Stelle versagen vorgefertigte Produkte in der Regel: Tonusarme Positionen sind vielfach nicht mehr in Standardlagen manipulierbar und verlangen somit nach einem individuellen Containment. Für entsprechende Maßnahmen empfiehlt sich die Gipsabdrucktechnik; ggf. können einzelne Finger aus Detailgründen in Zwei-Komponenten-Knetsilikon abgeformt und in den Modellabdruck integriert werden. Das ist auch dort anzuraten, wo aufgrund der Topographie – z. B. bei Verdickungen an Gelenken – mit Problemen beim Öffnen und Entfernen des Gipses zu rechnen ist. Für eine flächige Anwendung dagegen eignen sich Knetsilikone nicht, da sie jeder Manipulation nachgeben und ein geschlossener Abdruck auf diese Weise nicht zu erzielen ist. Visuelle Scans lassen sich nur dann einsetzen, wenn keine Manipulation notwendig und eine funktionale Positionierung herstellbar ist. Das dürfte jedoch nur für einen kleinen Teil der betroffenen Klientel zutreffen.
Jeder Maßnahme gehen eine eingehende Palpation und eine Simulation der geplanten Maßnahme voraus. Eine gemeinsame Herangehensweise in Abstimmung mit den Therapeuten ist in jedem Fall zu empfehlen. Konzeptionell ist an dieser Stelle zu entscheiden, mit welchen Bauteilen und in welcher Qualität das Hilfsmittel zu realisieren ist. Freiheitsgrade und Limitierungen müssen herausgearbeitet und das Handling simuliert werden. Es empfiehlt sich bereits an dieser Stelle, den Zuschnitt vorausschauend mitzuplanen.
Bei der Erstellung des Gipsabdrucks sind Sitzposition und Armhaltung des Klienten entspannt, der Kontakt der Füße mit dem Boden möglichst vollflächig. Der Gipsabdruck wird in der üblichen Technik, also zirkulär hergestellt und die Manipulation gehalten, ohne Schmerzen oder Gegenspannung beim Patienten auszulösen. Es ist nicht auszuschließen, dass das erste Resultat trotz gewissenhafter Vorbereitung nicht den Erwartungen entspricht – das ist nicht verwerflich und muss ehrlich sowohl mit dem Klienten als auch mit den Therapeuten geklärt werden. Eine Wiederholung des Abdrucks ist jeder nachträglichen Korrektur am Modell vorzuziehen, da Letztere immer stark fehlerbehaftet ist.
Vom Gipsabdruck führt der Weg zum Modell und zur ersten Überprüfung mit einer Testorthese, die alle relevanten Eigenschaften der definitiven Versorgung zur Überprüfung von Passform, Korrektiv und Handling vorwegnimmt.
Geeignete Orthesentypen zur Versorgung der oberen Extremität nach einem Schlaganfall
Bei einem erfolgreichen Versorgungsmanagement stehen Statusbefundung und Zielevaluation an erster Stelle. In Abstimmung mit dem therapeutischen Ansatz lässt sich das jeweilige Anforderungsprofil an die Orthesengestaltung formulieren. An dieser Stelle muss die Entscheidung für Material, Handhabung, technische Umsetzung und Einsatzgebiet getroffen werden. Im Folgenden werden die am häufigsten angewandten Orthesentypen bei der Versorgung von Patienten nach einem Schlaganfall vorgestellt und deren jeweilige Aufgaben charakterisiert. Dabei handelt es sich um Funktionsorthesen, Lagerungsorthesen und kraftunterstützende Orthesen.
Funktionsorthesen
Orthesen an der oberen Extremität haben unterschiedliche Aufgaben. Nach einem Schlaganfall steht die Mobilisierung im Vordergrund; dabei kommen sogenannte Funktionsorthesen zum Einsatz. Diese werden als textile Softorthesen, Silikonorthesen, Kombinationen von Silikon mit Prepreg sowie als Spiralorthesen gefertigt. Dazu im Einzelnen:
Mit textilen Softorthesen lassen sich erfolgreich frühkindliche und wenig tonusstarke Abweichungen lenken; zudem ermöglichen sie die Erarbeitung von Bewegungsmustern (Abb. 3). Die Ansätze der Hersteller sind dabei verschieden: Die Lösungen reichen von zirkulären Lycra-Orthesen als Handschuh bis hin zur Einfassung von Ellenbogen, Schulter und Rumpf. All diese Varianten erzeugen propriozeptiv wirksame Mechanismen zur Verbesserung der Kontrolle der Extremität. Zur Begrenzung der Bewegung oder zur mechanischen Lenkung können auf textilen Orthesen Züge oder doppelte Lagen angebracht werden (Abb. 4). Die Gefahr, dabei ggf. kontraproduktive Ergebnisse zu erzielen, ist jedoch nicht von der Hand zu weisen: Je intensiver und rigider Bewegungseinschränkungen gegen den Tonus einer Muskelgruppe arbeiten, desto eher ist eine weitere Steigerung der Spannung zu erwarten. Maßgabe der Versorgung sollte daher grundsätzlich die Führung der Bewegung, also auch das Zulassen eines überschießenden Tonus und die Rückführung in eine möglichst tonusarme und neutrale Position sein. Die Wirksamkeit textiler Orthesen kann im Rahmen der Therapie z. B. durch Langzugbinden, NRX-Straps oder 1‑mm-Neopren-Zuschnitte simuliert werden, ggf. auch durch Testversorgungen (Abb. 5).
Die Vorteile textiler Orthesenformen – Hautfreundlichkeit, einfache und meist einhändige Handhabung und hohe Akzeptanz – lassen sich auf die Herstellung von Silikon-Orthesen transferieren. Auf der Grundlage einer Lycra-Orthese, die auch mehrschichtig konstruiert sein kann, werden entsprechend den Wirkungsrichtungen Silikonapplikationen aufgetragen. Unterschiedliche Shore-Härten lassen die präzise Abstimmung auf individuelle Bewegungsabläufe zu. Diese Technik ermöglicht es z. B., einer Ulnardeviation im Handgelenk mit geringem Materialeinsatz entgegenzusteuern und singuläre Fingerabweichungen aufzunehmen, ohne dabei ein rigides Containment bemühen zu müssen. Alle nicht eingefassten Bewegungen bleiben frei, der propriozeptionsfördernde Charakter des Systems dennoch uneingeschränkt erhalten (Abb. 6).
Silikonorthesen decken einen erhöhten Bedarf an Mobilitätskontrolle ab (Abb. 7). Ihre Vorteile liegen auf der Hand: Filigran abstimmbare Materialhärten lassen sich zu einer dünnwandigen geschlossenen Orthese „aus einem Guss“ verarbeiten, ohne dass sich das Material aufbraucht oder durch mechanische Einflüsse in seinen Eigenschaften verändert. Silikon ist leicht hygienisch sauber zu halten und liegt idealerweise flächig auf der Haut auf 18. Mazerationen durch „Schweißseen“ bleiben somit aus, und der Tragekomfort bleibt auch über lange Intervalle erhalten. Die hygienischen Eigenschaften treten insbesondere dann in den Vordergrund, wenn die Orthese auch im Arbeitsprozess eingesetzt werden soll (Abb. 8). Eine Versorgung „über mehrere Etagen“ bleibt der Silikon-Orthese jedoch weitestgehend verwehrt, denn weitgreifende gelenkige Übergänge, wie sie am Ellenbogen zu überbrücken wären, führen zu Problemen mit Materialstauchungen. Technische Gelenkkonstruktionen wären zwar denkbar, führten allerdings die Vorzüge der Silikontechnik ad absurdum (Abb. 9).
Auch eine Kombination von Silikon und Prepreg ist möglich: Eine hohe Akzeptanz erzielt die Zusammenführung einer Silikon-WHFO („wrist-hand-finger orthosis“; Handgelenk-Hand-Finger-Orthese) mit einer Prepreg-Unterarm-Aufnahme. Mit dieser Kombination kann entsprechend dem jeweiligen Bedarf im Alltag die passende Konfiguration zusammengestellt werden: Für kleinteilige, wenig kraftintensive Einsätze kann ein Handschuh aus dünnwandigem Silikon mit spezifischen Fingerführungen genutzt werden; zur mechanischen Stabilisierung des Handgelenks 19 kann eine Unterarm-Unterstützung ergänzt werden. Während ergotherapeutischer Interventionen wird die Silkonorthese entfernt und von einem sogenannten Volumen-Spacer überbrückt. Die Handhabung funktioniert dabei autonom und wird nach kurzem Beüben sicher beherrscht (Abb. 10a–c). Mit gebotenen Abstrichen bei der Endsteifigkeit – um auch hier tonussteigernde Einzwängungen gar nicht erst entstehen zu lassen – kann das System sowohl im Alltag als auch in der Therapie gewinnbringend eingesetzt werden.
Sogenannte Spiralorthesen sind bereits seit langer Zeit präsent und werden vornehmlich in der Pädiatrie angewendet. Ihre Vorzüge bestehen vor allem in der komfortablen Einhandbedienung, einem hohem Alltagsnutzen sowie einer nahezu grenzenlosen Individualisierbarkeit hinsichtlich Führung, Rigidität, Limitierung und Ausstattung. Während herkömmliche Systeme häufig aus Polypropylen (PP) gefertigt werden, plädiert der Autor für den Einsatz von Prepreg-Spiralen (Abb. 11). Denn diese erlauben es, definierte Elastizitätsverläufe, Limitierungen und weiche, abgestufte Materialübergänge herzustellen, die durch homogene Materialien nicht realisierbar sind. Insbesondere die Kantenbeschaffenheit ist in diesem Zusammenhang von großem Interesse, denn die Auflageflächen der Orthese verändern beim Aufdrehen der Spirale ihre Lage gegenüber der Oberfläche der Haut und treffen nicht mehr vollflächig und parallel auf den Körper, sondern verdrehen sich leicht dagegen. Harte Kanten würden in die Weichteile eindrücken und ggf. Verletzungen verursachen; dieses Risiko gilt es zu vermeiden.
Der Aufbau einer solchen Orthese erfolgt meist in Sandwich-Form: Zur Haut hin besteht eine Polsterschicht, gefolgt von der Spirale, die abschließend mit Polster, Textil oder Alcantara abgedeckt wird. Alternativ hat sich für Erwachsene die Einbettung der Spirale in Silikon als dauerhafte und eine hohe Compliance erzeugende Lösung erwiesen. Die Vorzüge eines solchen Materialmix liegen auf der Hand: Die auf diese Weise gefertigten Orthesen sind haut- und reinigungsfreundlich sowie belastbar bei nahezu allen Alltagstätigkeiten 20. Die haftenden Oberflächeneigenschaften des Silikons wirken zusätzlich als Migrationsbremse.
Lagerungsorthesen
Den Funktionsorthesen stehen Orthesen zur Lagerung gegenüber. Das Hauptaugenmerk gilt dabei dem Erhalt der vorhandenen Freiheitsgrade in spannungsfreier Position; ggf. sind dabei einzelne dynamisch redressierende Gelenke sinnvoll. Von ganzen Gelenkketten mit Redression ist allerdings abzuraten, da doppelgelenkig wirkende Muskelpartien ein Gleichgewicht zwischen zwei Gelenken herstellen und damit die Wirkung an beiden Drehmomenten erheblich reduzieren oder sogar aufheben können. Fraglos verbieten sich statische oder „Schnecken“-Gelenke, die tonusauslösend wirken und durch die starre Führung das „Aufhängen“ der Extremität an Gurten und Kantenverläufen und damit die Muskelspannung fördern.
Konstruktiv folgen Lagerungsorthesen dem Gedanken, die Extremität mit großflächigen Anlagen in einem möglichst geschlossenen System aufzunehmen. Gewicht einzusparen ist auch hier ein ehernes Gebot, trifft man bei Schlaganfallpatienten doch regelmäßig Subluxationstendenzen unterschiedlicher Ausprägung am Schultergelenk an, deren muskuläre Führung schon unter dem Eigengewicht des Armes erheblich an Funktion und Halt verliert. Jedes weitere Gewicht gilt es also einzusparen. In der Praxis haben sich Polypropylen und Streifydur in diesem Zusammenhang als probate Werkstoffe erwiesen: Sie lassen bei formtreuer Rückstellung weite Öffnungswinkel an Laschen und Führungen zu, und es bleibt ausreichend Spiel für Tonusveränderungen, um dann wieder in ihre Ausgangsform zurückzukehren. Bei einer Sandwich-Bauweise (Abb. 12) lassen sich versteifende Profilierungen, Perforationen und Öffnungen einarbeiten, und der Aufbau kann mittels Polster und PP-Schale um eine außen liegende Polsterschicht ergänzt werden, um in der Nacht bei Kontakt mit anderen Körperpartien Druck von der Oberfläche der Orthese zu nehmen und so die Gefahr einer Selbstverletzung zu verringern. Die gängigen Komposit-Materialien der Orthopädietechnik gewährleisten an dieser Stelle hohe Formtreue und hygienische Unbedenklichkeit bei der Nutzung im Alltag 21. Bezüglich der Handhabung folgen Lagerungsorthesen möglichst dem Prinzip eines „autoadaptiven“ Handlings. Die Extremität findet dabei aufgrund von Zuschnitt, Öffnung und Positionierung der Orthese automatisch immer von selbst die korrekte Lagerungsposition. Die Körperspannung erhöht sich dabei in keinem Fall, und das Vorgehen ist bestenfalls selbsterklärend. Dieser Gestaltungsansatz ermöglicht eine mühelose Nutzung auch bei wechselnder Betreuung oder bei Heimbewohnern, da sie kein Spezialwissen und keine präzise Einarbeitung erfordert. Aktivität kann durch den Einsatz Funktioneller Elektrostimulation segmentiert erzeugt werden. Ein Beispiel der Firma Brillinger (Abb. 13), initiiert von OTM Jochen Steil, kombiniert eine Lagerungsorthese mit konventioneller Elektrostimulation, deren Elektroden in das Orthesenchassis integriert sind. Aus einer tonusarmen Lagerungsposition heraus lassen sich die Phalangen über die Steuerung des Gerätes im Trainingsmodus extendieren. Das Prinzip unterstützt das eigenständige Training mit einem – möglichst evidenzbasierten – Trainingsprogramm, das in der jeweiligen Therapie abgestimmt wird.
Bei solchen Orthesen kann per Funktioneller Elektrostimulation (FES) das Öffnen der Hand in Alltagshandlungen integriert werden (Abb. 14). Auf einen Impuls hin werden dabei die Muskelgruppen angesteuert; das Signal wird qualitativ den Anforderungen des Nutzers und der geforderten Bewegungsqualität angepasst. Unerlässliche Voraussetzung dafür ist allerdings das Vorhandensein der für die Handöffnung notwendigen Freiheitsgrade, denn eine kontrakte und spastische Hand wird auf diese Art und Weise nicht erfolgreich zu versorgen sein. Ziel ist es, das vorhandene Bewegungsausmaß zu erhalten und zu verbessern und die Bewegungsmuster günstig zu beeinflussen, sodass eine zielgerichtete Bewegung auch ohne FES möglich wird. Mit FES sind prinzipiell auch beidseitige Versorgungen möglich 22.
Kraftunterstützende Orthesen
Bei kraftunterstützenden Orthesen (Abb. 15) wird die Greifbewegung rein passiv mittels externer Motoren gefördert. Minimale Greifbewegungen werden über Sensoren an den Fingerkuppen aufgenommen und durch ein außenliegendes System, bestehend aus Motor und Sehnen, in Greifrichtung verstärkt. Mit Auflösen der Initialbewegung endet das Muster. Der Einsatz des Systems setzt jedoch eine relativ normale Physiologie und eine relative Spastikfreiheit voraus.
Insgesamt bietet die Orthopädietechnik aufgrund des hohen Grades an geforderter Individualisierung eine entsprechende Bandbreite an Variationen – sowohl hinsichtlich der technischen Umsetzung als auch der Materialausführung. Die angeführten Varianten stellen daraus nur einen kleinen Ausschnitt dar, der angesichts der Innovationsfreudigkeit des Faches nicht alle technischen Ansätze abschließend beschreiben kann.
Fazit
Wie gezeigt wurde, lassen sich hinsichtlich der Anwendung von Orthesen für die obere Extremität nach einem Schlaganfall vielfältige Spielarten entsprechend dem individuellen Problembild erarbeiten. Jedoch kann nur eine adäquate Einzelbetrachtung zu einem positiven Ergebnis führen, das zudem zum frühestmöglichen Zeitpunkt verfügbar sein sollte und so zu einer funktionellen Reorganisation der oberen Extremität beiträgt 23. Propriozeption und Aktivität sind der Schlüssel für hochwertige Versorgungsergebnisse, die über den Erhalt der Funktion hinaus die Mobilität fördern und ausbaufähig machen 24. Eine hohe Intensität und Kontinuität in der Beübung der oberen Extremität nach einem Schlaganfall sorgt mit zunehmendem Fortschritt für eine Beschleunigung gezielter Bewegungen 25.
Orthesen sind auf diese Weise wertvolle und gewinnbringende Hilfsmittel zur Unterstützung und Sicherung des therapeutischen Ergebnisses und koordinativer Fähigkeiten. Entsprechend den therapeutischen Fortschritten bedarf es aber innerhalb des Versorgungsprozesses einer steten Nachpassung an allen Systemen. Ziel dessen ist es, die Klienten zu mehr und besserer Aktivität zu veranlassen. An der Notwendigkeit solcher Veränderungen muss sich jede Orthesenversorgung messen lassen – jeder Fortschritt des Klienten führt zwangsläufig zu einer notwendigen Modifikation der Orthese 26.
Ungeachtet dieser technischen Erfordernisse und ungeachtet aller volkswirtschaftlichen Vorteile des Erhalts der Selbstständigkeit eines Schlaganfallpatienten 27 sollte nicht vergessen werden, dass Teilhabe auch bedeutet, gesellschaftlich integriert zu sein, und dass körperliche Aktivität zu erhöhter geistiger Leistungsfähigkeit führt 28.
Der Autor:
Jochen Schickert
Teamleiter Orthetik / Leiter Forschung und Entwicklung
Orthovital GmbH
Magdeborner Str. 19
04416 Markkleeberg
schickert@orthovital.de
Begutachteter Beitrag/reviewed paper
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