Die hier vorgestellte eigens entwickelte Orthesenversorgung zeigt eine Möglichkeit auf, neben der Kopfaufrichtung ebenso einen an die gesunde Physiologie angelehnten Bewegungsumfang trotz Hilfsmittels zu gewährleisten. Im Zuge dessen wurde im Vorfeld der Entwicklung eine umfangreiche Bewegungsanalyse der Kopfkinematik durchgeführt und die daraus gewonnenen Erkenntnisse bei der Konstruktion der Funktionselemente des Systems berücksichtigt. Passteile aus der klassischen Orthetik werden mit Hilfe digitaler Fertigungsmethoden miteinander verbunden und formen auf diese Weise ein patientenindividuelles Gesamtsystem. Dieses kann darüber hinaus vom Anwender selbst an seine jeweiligen Bedürfnisse angepasst werden. So besteht neben einer einfachen Kopfgrößenanpassung auch die Möglichkeit, die kopfaufrichtende Kraft der Orthese stufenlos zu regeln. Bereits durchgeführte Patientenversorgungen bestätigen die Funktionsfähigkeit des neuartigen Hilfsmittels.
Einleitung
Das DHS stellt eine relativ seltene Indikation dar, weshalb sein Vorkommen, seine Ursachen sowie seine Behandlung bisher nur rudimentär erforscht sind. Gesichert ist zumindest, dass der Symptomatik oft eine bekannte muskuläre oder neuromuskuläre Erkrankung zugrunde liegt. Ist dies nicht der Fall, spricht man von einer “isolated neck extensor myopathy” 1. Bekanntheit erlangte das DHS vor allem in Zusammenhang mit der Amyotrophen Lateralsklerose (ALS), durch welche die Motoneuronen degenerieren und das Ausbleiben von Impulsen die Muskulatur des Betroffenen verkümmern lässt. Das schwere Leiden, von dem allein in Deutschland etwa 5.000 Menschen betroffen sind 2, bildet allerdings nur einen kleinen Teil der möglichen Ursachen für das DHS. Eine im Jahr 2019 durchgeführte retrospektive Studie ermittelte unter 129 Patienten, die am DroppedHead-Syndrom litten, verschiedene Grundursachen:
- zu 31,8 % die isolierte Form (“isolated neck extensor myopathy”),
- zu 20,2 % eine Parkinson-Erkrankung,
- zu 12,4 % eine Myasthenia gravis und
- zu 7 % eine Amyotrophe Lateralsklerose 3.
Eine erste Schätzung auf Grundlage der bestehenden Literatur beziffert die Anzahl der Patienten in Deutschland, die eine ausgeprägte Schwächung der Nackenmuskulatur aufweisen, auf knapp 20.000 Fälle.
Die primäre Versorgung des DHS erfolgt in der Regel analog zur Behandlung der zugrunde liegenden Erkrankung. Für Fälle ohne definierte oder behandelbare Ursache muss auf eine rein symptomatische Versorgung zurückgegriffen werden 4 5. Operative Eingriffe sind je nach Grundursache bei Einzelpatienten zwar denkbar, erbrachten in der Vergangenheit jedoch gemischte Resultate. Auch im Hinblick auf das größtenteils sehr fortgeschrittene Alter der Betroffenen muss diese Option meist verworfen werden 6 7 8. Eine Versorgung der Betroffenen mit einer kopfaufrichtenden und stützenden Orthese bleibt somit oft die einzige Versorgungsmöglichkeit.
Orthesen stellen eine effiziente, vergleichsweise günstige und rasche Hilfe für den Patienten dar. Derzeit werden zur Unterstützung der Aufrichtung des Kopfes vor allem Standard-Zervikalorthesen aus Schaumstoff oder starre Systeme, die eigentlich einer Immobilisierung dienen, zur Versorgung der Patienten zweckentfremdet. Ein Beispiel für einen innovativeren Ansatz bietet die Standardorthese “Headmaster Collar” 9. Allerdings geht die Funktion des Hilfsmittels auch hier nicht über ein reines Abstützen des Kopfes auf dem Brustkorb hinaus.
Zielsetzung
Angesichts der Vielfalt der zugrunde liegenden Erkrankungen, die zur Ausbildung eines DHS führen können, besteht das primäre Ziel der hier vorgestellten Versorgung neben der schlichten Aufrichtung des Kopfes in der Anpassbarkeit des Orthesensystems an unterschiedliche Anforderungen. Denn die Restkraft des Anwenders sowie dessen Bewegungsvermögen können sehr unterschiedlich ausgeprägt sein und sich je nach Indikation mit fortschreitender Symptomatik verschlechtern. Daher müssen die Intensität der Kopfaufrichtung und damit die unterstützende Kraft regelbar angelegt werden können. Weiterhin gilt es,
- ein maximales Maß an Bewegungsfreiheit zu schaffen,
- eine individuelle Anpassbarkeit zu ermöglichen,
- für eine adäquate Durchlüftung der Körperanbindungen zu sorgen und
- die Orthese optisch ansprechend zu gestalten.
Bewegungsanalyse ohne Hilfsmittel
Angesichts der Tatsache, dass in der Literatur keine belastbaren Daten zur Kinematik des Kopfes vorhanden sind, wurde eine eigene Studie mit zwölf gesunden Probanden am Institut für Biomechatronik der Hochschule Ulm durchgeführt 10. Die gewonnenen Daten dienen sowohl als Grundlage für die Entwicklung der Orthese als auch der späteren Funktionsbewertung der Baugruppen. Als Messsystem wurde das ultraschallbasierte 3D-Bewegungsanalysesystem “CMS20” der Firma Zebris verwendet. Die erfasste rotatorische Komponente stellt das Bewegungsausmaß des Kopfes gegenüber seiner Neutralstellung dar. Die translatorische Komponente gibt die dabei auftretende Verschiebung des Kopfes gegenüber dem Rumpf wieder. Relevant für die Beschreibung der Translation ist hierbei insbesondere die Verschiebung der beiden Fixpunkte an Hinterkopf und Rumpfanbindung zueinander. Wird diese Verschiebung durch das Tragen des Orthesensystems beschränkt, limitiert dies im Umkehrschluss auch das mögliche Bewegungsausmaß des Patienten. Die Verschiebung der Fixpunkte an Hinterkopf und Rumpf zueinander wird in den Messreihen als Änderung des Vektors beschrieben. Der Vektor ist definiert durch seine Parameter Länge (L) sowie die resultierenden Winkel zur y‑Achse (α und β). Die exakte Position der Fixpunkte ergibt sich aus der individuellen Anpassung von Kopf- und Rumpfteil am Probanden.
Jeder Proband führt sechs Grundbewegungsarten (Flexion und Extension, Rotation nach links und rechts, Seitneigung nach links und rechts) fünfmal in randomisierter Reihenfolge aus. Das Messsystem ordnet dabei jeder Bewegung die erreichte Bewegungsamplitude und die auftretende Markerverschiebung zu. Durch die Mittelung der Amplituden erhält jede Bewegungsart einen charakteristischen Wert für das entsprechende Bewegungsausmaß. Abbildung 1 veranschaulicht dies am Beispiel eines Probanden der Studie; Tabelle 1 fasst die Werte jeder ausgeführten Bewegungsart als Durchschnittswert (Mean) und dazugehörige Standardabweichung (SD) zusammen.
Baugruppen des Orthesensystems
Kopfanbindung
Eine vollständige zirkuläre Umschließung des Halses zur Aufrichtung des Kopfes hat neben der ausgeprägten Immobilisierung noch weitere negative Aspekte, die es zu berücksichtigen gilt: Neben der schlechten Durchlüftung ist in diesem Zusammenhang vor allem die bei konventionellen Orthesen häufig verwendete Kinnauflage zu nennen (z. B. Headmaster 11). Dem ohnehin beeinträchtigten Patienten wird es damit zusätzlich erschwert zu sprechen oder zu essen. Ein besserer Ansatz besteht daher in der Fassung des Kopfes im Bereich der Stirnpartie sowie einer Krafteinleitung am Hinterkopf. Eine individuelle Gestaltung des Stirnbands sowie eine perforierte Oberfläche von Stirnband und Polster sorgen zudem für eine angemessene Durchlüftung. Zur Herstellung des Stirnbands wird der Kopf des Patienten mit einem 3D-Scanner erfasst, das individuelle Teil konstruiert und mit Hilfe des 3D-Drucks hergestellt. Damit die Kopfhalterung leicht angelegt werden kann, wird ein Standard-Boa-Verschluss in die Hinterkopfanbindung integriert und mit dem Stirnband verbunden (Abb. 2).
Funktionselemente
In der hinteren Kopfanlage ist neben der Aussparung für den Standard-Boa-Verschluss ein Rotationsbogen integriert, um die Drehung des Kopfes zu ermöglichen. Winkel und Anordnung des Bogens folgen den Erkenntnissen aus der Bewegungsanalyse. Die Analyse zeigt außerdem sehr deutlich, dass bei Flexion und Extension des Kopfes eine teils große Längenveränderung zu erwarten ist. Demzufolge wird ein Läuferelement konstruiert, das ein gewisses Maß an Längenveränderung zulässt. Dadurch wird neben der Rotation auch eine eingeschränkte Extension/ Flexion des Kopfes ermöglicht, ohne die Hinterkopfanbindung während der Bewegung zu verschieben. Der Läuferstab ist mit dem Rotationsbogen am Hinterkopf verbunden, sodass auch kombinierte Bewegungen des Kopfes möglich bleiben. Zur letztendlichen Aufrichtung des Kopfes wird ein dynamisches Quengelgelenk des Herstellers Caroli GmbH verwendet. Das leistungsstarke Gelenk “DYNA 35″ liefert ein maximales Drehmoment von 4,5 Nm und bietet die Möglichkeit, die resultierende Kraft stufenlos zu regeln. Darüber hinaus kann das Gelenk wenn nötig in einer beliebigen Stellung fixiert werden und lässt die Begrenzung des Bewegungsumfangs durch integrierte Anschlagsschrauben zu 12. Das dynamische Gelenk wird in einer entsprechend konstruierten Gelenkaufnahme fixiert und legt sein Drehmoment über den Ausleger am Hinterkopf an. Alle Teile werden je nach Größe des Patienten individuell angepasst und im 3D-Druckverfahren (Verfahren: SLS; Material: PA12) hergestellt.
Rumpfanbindung
Für die Rumpfanbindung wird auf die Standard-Rückenorthese “Spinomed” des Herstellers Medi GmbH zurückgegriffen 13. Der für die Kopfaufrichtung nötige Gegenhalt am Körper wird sehr leicht unterschätzt. Ist die Verbindung zwischen Kopf und Rumpf nicht möglichst stabil, führt ein Verrutschen der Rumpfanbindung auch stets zu einer unangenehmen Bewegung der Kopfanbindung. Das lange Rückenelement der “Spinomed”-Orthese entlang der Wirbelsäule sowie eine stabile Fixierung über die Schulter- und Bauchgurte dienen somit zusätzlich der Rumpfstabilisierung und werden von Patienten stets als sehr angenehm wahrgenommen. Über die Verschraubungspunkte an der Gelenkaufnahme (Abb. 3 u. 4) kann diese mit der “Spinomed”-Orthese in individueller Höhe (je nach Körpergröße) verbunden werden.
Bewegungsanalyse mit Hilfsmittel
Eine zuverlässige Kopfaufrichtung ist das Produkt verschiedener Kraftkomponenten. Der Zielkonflikt zwischen diesen Kräften einerseits und einer weiterhin bestehenden Bewegungsfreiheit andererseits lässt zwar keine gänzlich uneingeschränkte Bewegung zu, führt mit der Orthese aber zu einem durchaus eindrucksvollen Erhalt des Bewegungsvermögens (Tab. 2). Besonders hervorzuheben ist dabei der stark überdurchschnittliche Erhalt der Flexions- und Extensionsbewegung, die durch die hohen Aufrichtkräfte in anderen Versorgungssystemen meist komplett unterbunden sind. Zusammen mit der zu zwei Dritteln erhaltenen Kopfdrehung nach links und rechts gewährt die Orthese einen für den Alltag der Patienten sehr nützlichen Bewegungsspielraum.
Fazit
Die hier vorgestellte Entwicklung eines Orthesensystems auf Basis einer genauen Bewegungsanalyse führte dazu, dass nun erstmalig ein Hilfsmittel für das Dropped-Head-Syndrom zur Verfügung steht, das neben einer stufenlos regelbaren Kraftunterstützung der Kopfaufrichtung auch ein hohes Maß an Bewegungsfreiheit bietet. Die sehr positiven Rückmeldungen der mit dem System versorgten DHS-Betroffenen bezeugen die gute Übertragbarkeit der Ergebnisse gesunder Probanden auf reale Patienten. Die Nutzung neuer Technologien wie des 3D-Scanverfahrens, der Konstruktion individueller Baugruppen mit der Software “Geomagic Freeform” sowie der Fertigung der Funktionselemente per 3D-Druckverfahren führt zu einem Hilfsmittel mit zuvor nur schwer realisierbaren Eigenschaften bei Sonderanfertigungen. Darüber hinaus entsteht durch die Verwendung bewährter Standardteile wie “DYNA 35″ (Caroli GmbH) sowie “Spinomed” (Medi GmbH) ein zuverlässiges Gesamtsystem. Da es sich bei der hier vorgestellten Orthese um ein individuell angepasstes, als Sonderanfertigung konzipiertes Hilfsmittel handelt, kann die Herstellung in gewohnter Weise über eine ärztliche Verordnung und einen Kostenvoranschlag bei der Krankenkasse des Patienten erfolgen.
Für die Autoren:
Steffen Matyssek, M. Sc.
Häussler Technische Orthopädie GmbH
Jägerstraße 6
89073 Ulm
matyssek@haeussler-ulm.de
Matyssek S, Jäger D. Neuartiges Orthesensystem zur Unterstützung der Kopfhaltefunktion bei Dropped-Head-Syndrom. Orthopädie Technik, 2020; 71 (2): 38–42
Begutachteter Artikel/reviewed paper
- Die neue Leitlinie zum Lipödem-Syndrom: mehr Licht als Schatten. Konsequenzen für die Praxis — 5. Dezember 2024
- Orthesenversorgung bei Läsion des Plexus brachialis — 4. Dezember 2024
- Anforderungen an additiv gefertigte medizinische Kopfschutzhelme — 4. Dezember 2024
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- Jäger D. Weiterentwicklung eines kraftunterstützenden Orthesensystems für Patienten mit Dropped Head Syndrome. Masterthesis, Technische Hochschule Ulm, 2020
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