Neu­ar­ti­ge Orthe­sen­ver­sor­gung für Kin­der mit geburts­trau­ma­ti­scher Plexusläsion

M. Schäfer, J. Bahm
Geburtstraumatische Plexusparesen stellen eine seltene, aber komplexe funktionale Ausfallerscheinung der kindlichen oberen Extremität dar [vgl. Bahm J. Die kindliche Armplexusparese – Übersicht zur Klinik, Pathophysiologie und chirurgischen Behandlungsstrategie. Handchirurgie Mikrochirurgie Plastische Chirurgie, 2003; 35 (2): 83–97]. Die kindliche Armplexusparese – Eine aktuelle Übersicht sekundärer Operationsverfahren. Handchirurgie Mikrochirurgie Plastische Chirurgie, 2004; 36 (1): 37–46 und Bahm J et al. Obstetric brachial plexus palsy: treatment strategy, long-term results, and prognosis. Deutsches Ärzteblatt International, 2009; 106 (6): 83–90]. In Abhängigkeit zur Schwere der Verletzung kommen sowohl konservative wie auch operative Behandlungsmethoden zur Verbesserung der entstandenen Defizite zum Einsatz. Die hier vorgestellte neuartige Konzeptorthese wird als dynamische/teildynamische Lagerungsorthese eingesetzt und soll die Therapie der bestehenden Ausfallerscheinungen bestmöglich unterstützen.

 

Ent­schei­dend für einen erfolg­rei­chen Ein­satz die­ser Orthe­se sind aus Sicht der Autoren die auf die Defi­zi­te des ein­zel­nen Pati­en­ten abge­stimm­ten indi­vi­dua­li­sier­ten Funk­ti­ons­cha­rak­te­ris­ti­ken der Orthe­se sowie die not­wen­di­ge Tra­ge­ak­zep­tanz der Kin­der. Die Orthe­se wird von der Form­er­fas­sung bis zur Fer­ti­gung einem digi­ta­len ortho­pä­die­tech­ni­schen Gestal­tungs- und Fer­ti­gungs­pro­zess unter­zo­gen und der tech­ni­schen Anfor­de­rung eines mög­lichst leicht­ge­wich­ti­gen Medi­zin­pro­duk­tes durch die Anwen­dung des selek­ti­ven Laser-Sin­ter­ver­fah­rens gerecht. Kern-Werk­stoff der Orthe­se ist Nylon-Poly­amid PA12.

Auf­grund des sel­te­nen und in der Aus­prä­gung sehr unter­schied­li­chen Auf­tre­tens der ent­stan­de­nen funk­tio­na­len Defi­zi­te wird auch die Orthe­se in unter­schied­li­chen Gestal­tungs­va­ri­an­ten indi­vi­dua­li­siert ein­ge­setzt und ent­spricht daher nicht einem stan­dar­di­sier­ten Ver­sor­gungspro­ce­de­re. Die ers­ten Ver­sor­gungs­er­fah­run­gen zei­gen neben einer hohen Akzep­tanz durch die Kin­der auch eine ziel­füh­ren­de Unter­stüt­zung der unter­schied­li­chen Behand­lungs­pha­sen. Sie wirkt als beglei­ten­de dyna­mi­sche oder teil­dy­na­mi­sche Lage­rungs­or­the­se in Abhän­gig­keit vom Alter des Kin­des in der Nacht sowie in den Ruhe­stun­den des Tages sowohl im kon­ser­va­ti­ven wie auch post­ope­ra­ti­ven Set­ting kor­ri­gie­rend, stüt­zend und funktionsfördernd.

Ein­lei­tung

Die geburts­trau­ma­ti­sche Ple­xus­lä­si­on zählt mit einer Häu­fig­keit von 0,38–1,56 Fäl­len auf 1000 Gebur­ten1 zu den eher sel­te­nen Schä­di­gun­gen Neu­ge­bo­re­ner. Die Häu­fig­keit hält sich seit Jahr­zehn­ten kon­stant und hat sich auch durch Ver­än­de­run­gen in den geburts­hel­fe­ri­schen Maß­nah­men über die vie­len Jah­re hin­weg nicht signi­fi­kant ver­än­dert. In Abhän­gig­keit des Schä­di­gungs­aus­ma­ßes unter­schei­det man zwi­schen der obe­ren Erb’schen Läh­mung (C5–C7) und der kom­plet­ten Läh­mung, bei der alle Ner­ven­wur­zeln von C5–Th1 betrof­fen sind2 3. Wäh­rend leich­te­re Schä­di­gungs­for­men wie z. B. Ner­ven­deh­nun­gen (Neu­r­a­pra­xien) bereits nach eini­gen Wochen wie­der rege­ne­rie­ren, kön­nen grö­ße­re Schä­di­gun­gen zu aus­ge­präg­te­ren und dau­er­haf­ten Aus­fall­erschei­nun­gen führen.

Orthe­sen zur Unter­stüt­zung der kon­ser­va­tiv-the­ra­peu­ti­schen und ope­ra­ti­ven Inter­ven­tio­nen4 5 nach geburts­trau­ma­ti­scher Ple­xus­lä­si­on kom­men zumeist bei den sym­pto­ma­tisch aus­ge­präg­te­ren Fäl­len zum Ein­satz und zei­gen ver­schie­de­ne Gestal­tungs­va­ri­an­ten mit sehr unter­schied­li­chen Wir­kungs­wei­sen und kon­zep­tio­nel­len Ansät­zen. So konn­ten z. B. durch den Ein­satz indi­vi­du­ell nach Maß gefer­tig­ter dyna­mi­scher Orthe­sen-Hand­schu­he (Dyna­mic Move­ment Ort­ho­ses-DMO) Effek­te einer ver­bes­ser­ten Hand­kon­trol­le und auch Ver­bes­se­run­gen in der ein­sei­ti­gen Nut­zung der betrof­fe­nen Hand ver­zeich­net wer­den6.

Sta­tis­tisch signi­fi­kan­te Ergeb­nis­se wur­den auch in der kon­ser­va­ti­ven Behand­lung ein­zel­ner auf­fäl­li­ger Defor­mi­tä­ten und Bewe­gungs­ein­schrän­kun­gen nach­ge­wie­sen, wie z. B. in der Behand­lung von Fle­xi­ons­kon­trak­tu­ren des Ellen­bo­gens durch den Ein­satz von Seri­en­ver­bän­den und Schie­nen7. Eine kana­di­sche For­scher­grup­pe ver­folgt eine deut­lich dif­fe­ren­zier­te­re Betrach­tung der funk­tio­na­len Aus­fäl­le und ver­sucht sowohl die Außen­ro­ta­ti­on der Schul­ter wie auch die feh­len­de Unter­arm­su­pi­na­ti­on mit einer kom­bi­nier­ten Orthe­sen­ban­da­ge zu behandeln.

Die Sup-ER-Kon­zept­or­the­se besteht aus einer aus Nie­der­tem­pe­ra­tur-Ther­mo­plast gefer­tig­ten Ganz­ar­mor­the­se sowie einer Rumpf­ban­da­ge. Letz­te­re dient zur Auf­nah­me und Befes­ti­gung von Außen­ro­ta­ti­ons­gur­ten8 9. Hier­zu wur­den infol­ge der Ver­sor­gung retro­spek­ti­ve Stu­di­en zur Ein­fluss­nah­me auf ein­zel­ne Defor­mi­tä­ten und Fehl­stel­lun­gen durch­ge­führt. Auch die­se Grup­pe berich­tet in 48 % der Fäl­le von auf­tre­ten­den Ellen­bo­gen-Fle­xi­ons­kon­trak­tu­ren. Bei Kin­dern, die nach dem Sup-ER-Pro­to­koll behan­delt wur­den, zeigt sich eine deut­lich ver­rin­ger­te Prä­va­lenz und Schwe­re im Bereich der Ellen­bo­gen-Kon­trak­tu­ren9. Die Erfah­run­gen in der Behand­lung schwe­rer und dau­er­haf­ter Aus­fall­fol­gen zeigt, dass eine Fokus­sie­rung auf ein­zel­ne Defor­mi­tä­ten und Aus­fall­erschei­nun­gen, wie z. B. die dyna­mi­sche Unter­stüt­zung von Hand und Unter­arm [6] sowie die Behand­lung von Ellen­bo­gen-Kon­trak­tu­ren7 mit Seri­en­ver­bän­den und sta­ti­schen Schie­nen, nach Ansicht der Autoren nicht aus­reicht. Die Sup-ER-Orthe­se zeigt gute Ansät­ze in einer drei­di­men­sio­na­len Betrach­tung der sum­mier­ten Aus­fall­mus­ter, limi­tiert jedoch die dyna­mi­schen Kor­rek­tur­ein­flüs­se und die Berück­sich­ti­gung von Stel­lungs­ver­bes­se­run­gen auf­grund der sta­ti­schen Aus­füh­rung. Die im Rah­men der post­ope­ra­ti­ven Ver­sor­gung lan­ge Zeit ein­ge­setz­ten Schul­ter­ab­duk­ti­ons- und Außen­ro­ta­ti­ons-Voll­kon­takt­or­the­sen, die wahl­wei­se mit oder ohne Ellen­bo­gen­ge­lenk aus­ge­stat­tet wur­den10, wer­den heu­te sehr kri­tisch gese­hen, da die­se Posi­ti­on eine erhöh­te Belas­tung auf die Ple­xus­re­gi­on verursacht.

Bei den kom­ple­xen Ver­läu­fen mit mus­ku­lä­ren Imba­lan­cen und Kon­trak­tu­ren kann sich die feh­len­de Funk­tio­na­li­tät im All­tag deut­lich beein­träch­ti­gend mani­fes­tie­ren, so dass der Wunsch nach einem best­mög­lich an das Defi­zit anzu­pas­sen­den und dyna­misch wir­ken­den Orthe­sen­kon­zept ent­stand. Wich­tig war sowohl für die medi­zi­ni­sche wie auch die tech­ni­sche Dis­zi­plin die Grund­an­for­de­rung an eine modu­la­re Aus­le­gung der Kon­zept­or­the­se. Nur so kann sicher­ge­stellt wer­den, dass die jewei­li­ge Ver­sor­gung eine hoch indi­vi­du­el­le und ziel­ge­rich­te­te Funk­tio­na­li­tät erfüllt und die Behand­lung dadurch opti­mal unterstützt.

Anfor­de­run­gen und fach­ärzt­li­che Indikation

Die Behand­lung schwe­rer kind­li­cher Ple­xus­lä­sio­nen besteht in der mikro­chir­ur­gi­schen Rekon­struk­ti­on der Ner­ven­ver­let­zung (Ent­fer­nung der Neu­ro­me, Direkt­ko­apt­a­ti­on oder Inter­po­na­te, ggf. Ner­ven­trans­fers) und einer Rei­he sekun­dä­rer Ver­fah­ren zur Ver­bes­se­rung der Mus­kel­schwä­chen und Ungleich­ge­wich­te durch Mus­kel­trans­fers, der Gelenk­kon­trak­tu­ren durch Schie­nen­be­hand­lung und ope­ra­ti­ver Gelen­k­lö­sun­gen sowie der beglei­ten­den Lang­zeit-Phy­sio­the­ra­pie3 1 5.

Bei den Gelen­ken steht von Geburt an das glen­oh­u­me­ra­le Gelenk im Vor­der­grund mit dem bereits peripar­ta­len Risi­ko einer dor­sa­len Sub­lu­xa­ti­on des Hume­rus­kop­fes und der pro­gres­si­ven Ent­wick­lung einer sog. Innen­ro­ta­ti­ons­fehl­stel­lung durch ein funk­tio­nel­les Mus­kel­un­gleich­ge­wicht zwi­schen den meist gelähm­ten Außen­ro­ta­to­ren (vor allem M. infra­spi­na­tus) und den früh sich erho­len­den star­ken Innen­ro­ta­to­ren (vor allem M. subscapularis).

Die­ses bereits früh ein­set­zen­de Mus­kel­un­gleich­ge­wicht bringt den Arm in eine Innen­ro­ta­ti­ons­stel­lung (Abb. 1), die den Ober­arm­kopf zwin­gend leicht dor­sa­li­siert und somit eine dor­sa­le Sub­lu­xa­ti­on mit gleich­zei­ti­ger Dys­pla­sie des Gle­no­ids her­vor­ruft. Der nach dor­sal drän­gen­de Hume­rus­kopf lässt vor­ne dem Cora­co­id Platz für eine loka­le Hyper­tro­phie, die anschlie­ßend die Außen­ro­ta­ti­on durch eine Kno­chen­sper­re pas­siv hin­dert, indem sie dem Hume­rus­kopf den Weg nach ven­tral ver­sperrt. Außer­dem ent­wi­ckelt sich das eigent­li­che glen­oh­u­me­ra­le Gelenk­feld mehr im dor­sa­len Gelenk­be­reich des Kon­tak­tes bei­der Part­ner, wo der dor­sa­li­sier­te Hume­rus­kopf ver­mehrt das dor­sa­le Labrum des Gle­no­ids formt und Letz­te­res durch ver­mehr­te Retro­ver­si­on (also Dor­sal­kip­pung des Gle­no­id­hal­ses) sich den dabei ent­ste­hen­den Druck­ver­hält­nis­sen anpasst.

Zwei kli­ni­sche Situa­tio­nen an der Schul­ter nach geburts­trau­ma­ti­scher Ple­xus­lä­si­on beschäf­ti­gen uns regelmäßig:

  1. Sehr häu­fig zeigt sich die zuneh­men­de Innen­ro­ta­ti­ons­fehl­stel­lung des Armes mit der feh­len­den Mög­lich­keit, eine gute pas­si­ve Außen­ro­ta­ti­on des Hume­rus­kop­fes bei am Ober­kör­per ange­leg­tem Ober­arm auf­recht zu erhal­ten (die sog. pAR (ADD) bleibt unter dem Neu­tral­wert bzw. nimmt mit der Lebens­zeit ab).
  2. Sel­ten ist es eine bereits initi­al bestehen­de dor­sa­le Sub­lu­xa­ti­on des Hume­rus­kop­fes, ver­gleich­bar mit einem initia­len peripar­ta­len Gelenkt­rau­ma, die eine Ver­bes­se­rung der akti­ven und pas­si­ven Schul­ter­be­we­gung bereits in den ers­ten Lebens­mo­na­ten erheb­lich erschwert, eine Beur­tei­lung der Mus­kel­er­ho­lung unmög­lich macht und von vor­ne­her­ein der Gelenk­dys­pla­sie Vor­schub leistet.

Wen­den wir uns in den ers­ten zwei Lebens­jah­ren vor allem kon­ser­va­tiv an die­se pas­si­ve Bewe­gungs­ein­schrän­kung (mit Aus­nah­me einer tat­säch­li­chen gefes­tig­ten frü­hen Sub­lu­xa­ti­on, die unter Nar­ko­se früh geschlos­sen repo­niert wer­den muss) durch ent­spre­chen­de Dehn­übun­gen (Arm in Adduk­ti­on, pas­si­ve Bewe­gung in Außen­ro­ta­ti­on, um den Hume­rus­kopf aus der dor­sa­len Fehl­la­ge her­aus außen­ro­tie­rend zu zen­trie­ren und somit den Rota­to­ren einen phy­sio­lo­gi­schen Gelenk­zu­stand zu geben in der Hoff­nung auf eine aus­ge­gli­che­ne Mus­kel­er­ho­lung), so sind wir uns hier seit lan­gem der Not­wen­dig­keit eines Hilfs­in­stru­men­tes – im Sin­ne einer Lage­rungs­schie­ne – bewusst, die regel­mä­ßig über län­ge­re Zeit­räu­me die­se Gelen­k­re­po­si­ti­on fixie­ren hilft. Ent­spre­chend braucht es eine Nacht­schie­ne, indi­vi­du­ell model­liert, die genau die­se außen­ro­tie­ren­de Stel­lung bei addu­zier­tem Ober­arm hält und erwei­tert und dabei den Unter­arm „phy­sio­lo­gisch“ mit­nimmt, in leich­ter Beu­gung des Ellen­bo­gens, mit kor­ri­gier­ter Pro-/Su­pi­na­ti­ons­stel­lung.

Hier­bei muss erwähnt wer­den, dass die Dreh­stel­lung des Unter­ar­mes (Pro-/Su­pi­na­ti­on) durch die Dreh­stel­lung im Glen­oh­u­me­ral­ge­lenk kon­di­tio­niert wird (eine Innen­ro­ta­ti­ons­stel­lung des Schul­ter­ge­len­kes indu­ziert per se eine Pro­na­ti­ons­stel­lung des Unter­ar­mes) und dass bei einer Ple­xus­pa­re­se durch ein ent­spre­chen­des Mus­kel­un­gleich­ge­wicht am Unter­arm dort zusätz­lich ande­re Fehl­stel­lun­gen ent­ste­hen bzw. gege­ben sein kön­nen (Supi­na­ti­ons­fehl­stel­lung durch eine kon­trak­te Mem­bra­na interos­sea bei schwa­cher akti­ver Pro­na­ti­on; Pro­na­ti­ons­fehl­stel­lung bei schwa­chem Bizeps mit aus­blei­ben­der bzw. schwa­cher Supi­na­ti­on). Die­se „sekun­dä­ren“ Fehl­stel­lun­gen im Unter­arm sol­len und kön­nen in einer ent­spre­chen­den Armor­the­se gleich­zei­tig mit ange­gan­gen wer­den – eben­so wie die häu­fi­ge Fall­hand­stel­lung, wobei hier eine Lage­kor­rek­tur in leich­ter Dor­sal­ex­ten­si­on des Hand­ge­len­kes für die Kin­der unter 3 Jah­ren erst ein­mal aus­rei­chend ist.

Ins­ge­samt waren also unse­re Anfor­de­run­gen an eine Gesamt­or­the­se zur Nacht bei Schul­ter­fehl­stel­lung: die Modu­la­ri­tät bzgl. der Gelen­ke Schul­ter, Unter­arm und Dau­men, ein guter Tra­ge­kom­fort für die Nacht, die indi­vi­du­el­le Anpas­sung und prä­zi­se Gelenk­ein­wir­kung (außen­ro­tie­ren­de Deh­nungs­kraft am glen­oh­u­me­ra­len Gelenk bei ange­leg­tem Ober­arm, kor­ri­gie­ren­de und neu­tra­li­sie­ren­de Wir­kung auf den Unter­arm, Schon­la­ge­rung des Hand­ge­len­kes und ggf. Abduk­ti­on des Daumens).

Wirk­prin­zi­pi­en der Ver­sor­gung, digi­ta­ler Work­flow in der Her­stel­lung und Materialauswahl

Zuord­nung und Wirk­prin­zi­pi­en der Orthese

Die Anfor­de­run­gen an eine ent­spre­chen­de orthe­ti­sche Ver­sor­gung waren kom­plex und muss­ten zunächst kon­struk­tiv erör­tert und abge­wo­gen wer­den. Anhand ers­ter Ent­wurfs­zeich­nun­gen und Pro­to­ty­pen muss­te die neu­ar­ti­ge Kon­struk­ti­on inter­dis­zi­pli­när bespro­chen, modi­fi­ziert und wei­ter­ent­wi­ckelt wer­den (Abb. 2).

In Anleh­nung an die Unter­tei­lung nach Hoh­mann und Uhl­ig11 ent­schied man sich, die neu ent­ste­hen­de Orthe­se sowohl mit sta­tisch wie auch dyna­misch wir­ken­den Funk­ti­ons­ele­men­ten einer Kor­rek­tur­la­ge­rung zu ver­se­hen. In die­sem Kon­text ermög­licht die Con­cept-4D-Orthe­se eine kor­ri­gie­ren­de Beein­flus­sung in 4 Gelen­kebe­nen (Abb. 3):

  1. Schul­ter­ge­lenk: dyna­mi­sche Außen­ro­ta­ti­ons­la­ge­rung durch eine 3D-gedruck­te Pohli-Slide-Einheit
  2. Ellen­bo­gen­ge­lenk: freie Bewe­gungs­mög­lich­keit in vol­le Fle­xi­on und 10° limi­tier­te Extension
  3. Unter­arm: sta­ti­sche oder dyna­mi­sche Pro-/Su­pi­na­ti­ons­la­ge­rung durch eine 3D-gedruck­te Pohli-Slide-Einheit
  4. Hand­ge­lenk: sta­ti­sche Sta­bi­li­sa­ti­on in phy­sio­lo­gi­scher Neu­tral­po­si­ti­on des Handgelenkes

Ergän­zend kann hier­zu noch die Abduk­ti­ons­la­ge­rung des ein­ge­schla­ge­nen Dau­mens ange­führt werden.

In Anleh­nung an die 4 oben ange­führ­ten und im Vor­der­grund ste­hen­den Wirk­prin­zi­pi­en ent­schied man sich für die Namens­ge­bung „Con­cept-4D-Orthe­se nach Pohlig/Bahm“.

Aus den Erfah­run­gen im eige­nen Ver­sor­gungs­um­feld ist bekannt, dass im Schul­ter­be­reich geführ­te kor­ri­gie­ren­de Orthe­sen eine eher beschei­de­ne Com­pli­ance besit­zen. Dies hängt nicht zuletzt damit zusam­men, dass der Bewe­gungs­um­fang mit der Orthe­se in der Nacht sehr limi­tiert ist und vie­le Kin­der den Schlaf kos­tet. Inso­fern war bereits zu einem frü­hen Zeit­punkt klar, dass die wich­ti­ge kor­ri­gie­ren­de Außen­ro­ta­ti­ons­kom­po­nen­te über den Arm gesteu­ert wer­den soll­te. Zur Siche­rung der posi­ti­ons­sta­bi­len Lage und dadurch auch einer ziel­ge­rich­te­ten Ein­lei­tung der dyna­mi­schen und sta­ti­schen Kor­rek­tur­wir­kung wur­de ein orthe­ti­scher Becken­halb­ring mit einer zir­ku­lä­ren Ver­schluss­tech­nik kon­zi­piert. Durch die Ein­ar­bei­tung eines Tail­len­pro­files kann die­ser über den Schlaf­an­zug der Kin­der ange­zo­gen wer­den und erzielt eine höhen­sta­bi­le Posi­tio­nie­rung. Dies ist vor allem des­we­gen wich­tig, weil die glen­oh­u­me­ra­le Gelenk­si­tua­ti­on zur ent­las­ten­den Lage­rung ein siche­res „Gegen­la­ger“ benö­tigt. Die medi­zi­ni­sche Anfor­de­rung einer dyna­misch kor­ri­gie­ren­den Außen­ro­ta­ti­ons­la­ge­rung der Schul­ter bei einem an den Rumpf mög­lichst ange­leg­ten Ober­arm stell­te eine Her­aus­for­de­rung dar und konn­te nach Über­ar­bei­tung einer ers­ten Orthe­sen­va­ri­an­te, die die dyna­mi­schen Wir­kun­gen noch über eine am Becken­ring posi­tio­nier­te Gas­druck-Feder­ein­heit erziel­te, und der jet­zi­gen fina­len Vari­an­te der Con­cept-4D-Orthe­se durch den Ein­satz zwei­er dyna­mi­scher Poh­li-Slide-Ein­hei­ten adäquat rea­li­siert wer­den (Abb. 4).

Die Orthe­se wur­de in einem modu­la­ren Auf­bau kon­zi­piert, so dass Rumpf­teil und Armor­the­se zunächst sepa­rat ange­zo­gen wer­den kön­nen, um dann im Bereich der late­ra­len Becken­span­ge per Ankli­cken höhen- und rota­ti­ons­sta­bil ver­bun­den zu wer­den (Abb. 5). Dies ist vor allem für die Ein­lei­tung der dyna­mi­schen Kor­rek­tur­wir­kun­gen auf die Schul­ter (dyna­mi­sche Außen­ro­ta­ti­on) und den Unter­arm (dyna­mi­sche Supi­na­ti­on) von gro­ßer Bedeutung.

Die inter­na­tio­na­le Zuord­nung erfolgt im Rah­men der inter­na­tio­na­len Kurz­be­zeich­nun­gen der ICS/ISO, die sich an der Bau­hö­he und dem Wir­kungs­ort der Orthe­se ori­en­tie­ren. In Abhän­gig­keit zu den Kor­rek­turme­cha­nis­men und der Ver­sor­gungs­hö­he ist die Con­cept-4D-Orthe­se als SEWHFO (Should­er Elbow Wrist Hand Fin­ger Ortho­sis) oder SEWHO (Should­er Elbow Wirst Hand Ortho­sis) anzusehen.

Digi­ta­ler Work­flow bei Form­er­fas­sung, Kon­struk­ti­on und Produktion

Der Work­flow für die Ver­sor­gung mit einer Con­cept-4D-Orthe­se baut auf einem digi­ta­li­sier­ten Ver­sor­gungs­pro­zess auf. Die­ser beinhal­tet sowohl in den Arbeits­schrit­ten zur Form­er­fas­sung – mit­tels Streif­licht-basier­tem 3D-Scan­ner (Abb. 6) – wie auch in den fol­gen­den form­ge­ben­den Bear­bei­tungs­schrit­ten der Model­lie­rung sowie der Kon­struk­ti­on der defi­ni­ti­ven Orthe­se (Abb. 7) die vir­tu­el­le Bear­bei­tung eines Daten­mo­dells. Im Ver­gleich zur tra­di­tio­nel­len Gips-Nega­tiv- und Posi­tiv­her­stel­lung bie­tet die­se Metho­de den Vor­teil der Siche­rung des Grund­mo­del­les sowie einer nach­ge­la­ger­ten ver­glei­chen­den Ana­ly­se etwa­iger durch­ge­führ­ter Model­lie­rungs­maß­nah­men. Eine Aus­nah­me kann hier die Ver­sor­gung von Kin­dern im 1. Lebens­jahr dar­stel­len, da die­se im Rah­men des Scan­pro­zes­ses nicht immer die benö­tig­te Geduld zur Posi­tio­nie­rung in kor­ri­gier­ter Arm­stel­lung auf­brin­gen. In die­sen Fäl­len wird die Form­er­fas­sung noch tra­di­tio­nell mit Gips­ab­druck ange­fer­tigt, wobei das Gips­po­si­tiv nach der tra­di­tio­nel­len Her­stel­lung wie­der­um abge­scannt und zur Durch­füh­rung der wei­te­ren Arbeits­schrit­te in den digi­ta­len Pro­zess­ab­lauf ein­ge­steu­ert wird.

Kon­stru­iert wird die Kon­zept­or­the­se eben­falls digi­tal und in der Aus­le­gung geeig­net für die Nut­zung des selek­ti­ven Laser­sin­ter­ver­fah­rens (SLS) unter Ver­wen­dung der poly­ami­den Werk­stof­fe PA 11 und PA 12. In die Kon­struk­ti­on flie­ßen die bei­den dyna­mi­schen Poh­li-Slide-Ein­hei­ten ein, deren dyna­mi­sche Wirk­prin­zi­pi­en auf der Kon­struk­ti­on des gleich­na­mi­gen paten­tier­ten Sys­tems beru­hen. Das Ellen­bo­gen­ge­lenk ist frei beweg­lich und kann bei erhöh­ter Kon­trak­tur­nei­gung unter Ver­zicht der dyna­mi­schen Sup-/Pro­na­ti­ons­kor­rek­tur mit einer dyna­mi­schen Streck­quen­ge­lung mit­tels Gas­druck­fe­der­sys­tem ver­se­hen wer­den. Ein­ge­schla­ge­ne Dau­men sind in abdu­zier­ter phy­sio­lo­gi­scher Gelenk­po­si­ti­on zu füh­ren und kön­nen ggf. basie­rend auf vie­len ähn­li­chen Kin­der­ver­sor­gun­gen in der bewähr­ten Sili­kon­tech­nik ange­fer­tigt wer­den12 13.

Mate­ri­al­aus­wahl

Die Mate­ri­al­aus­wahl zur Gestal­tung der Con­cept-4D-Orthe­se ori­en­tiert sich zum einen an den kli­nisch not­wen­di­gen und fach­ärzt­lich gefor­der­ten Wirk­prin­zi­pi­en, zum ande­ren an der Akzep­tanz der Kin­der, denn die bes­tens wir­ken­de Orthe­se nützt nichts, wenn sie das Kind nicht akzep­tiert und trägt. Die Mate­ri­al­aus­wahl für die orthe­ti­sche Ver­sor­gung von Kin­dern mit geburts­trau­ma­ti­scher Ple­xus­pa­re­se soll­te dabei die fol­gen­den Anfor­de­run­gen erfüllen:

  • gerin­ges Gewicht, leich­te Kon­struk­tio­nen und leich­te Grundwerkstoffe
  • sta­bi­le Kon­struk­tio­nen zur Siche­rung der Kor­rek­tur­po­si­ti­on bei der Lagerung
  • modu­la­re Gelenk­pass­tei­le mit getrenn­ter Adap­tier­bar­keit zur erleich­ter­ten Adap­ti­on und zur Wachstumsnachpassung
  • dyna­mi­sche Gelenk­sys­te­me zur Mobi­li­sie­rung kor­ri­gie­ren­der Gelenkbewegungen
  • seg­men­ta­le Bau­wei­se (Poh­lig-Sys­tem) zur Kor­rek­tur von drei­di­men­sio­na­len kom­ple­xen Fehlstellungen
  • ange­neh­me, haut­freund­li­che Fütterungsmaterialien
  • farb­li­che Gestal­tungs­mög­lich­kei­ten zur Erhö­hung der Akzeptanz
  • hoher Tra­ge­kom­fort, Atmungsaktivität

Beson­ders eig­net sich in die­sem Fall die Her­stel­lung der Con­cept-4D-Orthe­se im addi­ti­ven Druck­ver­fah­ren mit selek­ti­ver Laser-Sin­te­rung (SLS) 14. Die gän­gi­gen Werk­stof­fe hier­für sind die poly­ami­den Poly­me­re PA 12 und PA 11. Die­se Fer­ti­gungs­tech­nik ermög­licht nicht nur eine extrem leich­te Bau­wei­se, son­dern rea­li­siert die auf­wän­di­gen dyna­mi­schen Poh­li-Slide-Ein­hei­ten für Schul­ter und Unter­arm in einem Druck. Da die Orthe­se vor­nehm­lich in der Nacht und über dem Schlaf­an­zug zu tra­gen ist, wur­den die flä­chi­gen Antei­le der Orthe­se mit atmungs­ak­ti­ven Per­fo­ra­tio­nen ver­se­hen (Abb. 8). Auch die Jus­tier­ele­men­te kön­nen in dem Druck­ver­fah­ren berück­sich­tigt wer­den und stel­len sich kind­ge­recht dar.

Fazit

Die Con­cept-4D-Orthe­se stellt eine neu­ar­ti­ge Orthe­se zur kor­rek­tur­la­gern­den Ver­sor­gung von Kin­dern mit geburts­trau­ma­ti­scher Ple­xus­lä­si­on dar. Sie befin­det sich bereits in der 2. Gene­ra­ti­on und wur­de bis dato bei 43 Kin­dern zum Ein­satz gebracht. Die ers­ten 6 Ver­sor­gun­gen wur­den noch in der ers­ten Vari­an­te der Con­cept-4D-Orthe­se mit einem Gas­druck­fe­der­sys­tem durch­ge­führt. Die dyna­misch und sta­tisch beglei­te­te Lage­rung mit der Con­cept-4D-Orthe­se wur­de sowohl im kon­ser­va­ti­ven wie auch post­ope­ra­ti­ven Rah­men erfolg­reich ein­ge­setzt, wobei bis dato ins­be­son­de­re fest­zu­stel­len war, dass die Gelen­ke mit dyna­misch kor­ri­gie­ren­den Ein­hei­ten (Schul­ter, Unter­arm) spür­bar bes­se­re Ergeb­nis­se als die der beglei­ten­den pas­si­ven Lage­run­gen aufwiesen.

Die Orthe­se wur­de grund­sätz­lich als Nacht­la­ge­rungs­or­the­se mit dyna­mi­scher Kor­rek­tur­wir­kung dekla­riert und kann in Abhän­gig­keit vom Alter des Kin­des sowohl in der Nacht als auch in den Ruhe­stun­den des Tages getra­gen wer­den. Die in eini­gen Stu­di­en geschil­der­te Ellen­bo­gen-Fle­xi­ons­kon­trak­tu­ren konn­te bei den hier ver­sorg­ten, zumeist ope­rier­ten Kin­dern nicht in einem kri­ti­schen Umfang fest­ge­stellt wer­den, so dass die Behand­lung aus­schließ­lich im Rah­men der phy­sio­the­ra­peu­ti­schen Behand­lungs­ein­hei­ten erfolgte.

Die hohe Akzep­tanz der Orthe­se ist auf die kom­pak­te Bau­wei­se, das gerin­ge Gewicht der Kon­struk­ti­on, den Tra­ge­kom­fort der adap­ti­ven Orthe­se sowie das anspre­chen­de kind­ge­rech­te Design und die freie Farb­ge­stal­tung zurück­zu­füh­ren. Bei nahe­zu allen Ver­sor­gun­gen konn­ten erfolg­rei­che Wachs­tums­nach­pas­sun­gen mit Nach­jus­tie­run­gen auf­grund von ver­bes­ser­ten Aus­gangs­si­tua­tio­nen durch­ge­führt wer­den. Die Modu­la­ri­tät der Orthe­se ermög­licht dabei auch einen par­ti­el­len Ersatz ein­zel­ner zu klein gewor­de­ner Orthe­sen­kom­po­nen­ten. Bei einem Kind muss­te die beglei­ten­de Phy­sio­the­ra­pie auf­grund einer sich ein­stel­len­den inkli­nie­ren­den Schul­ter erhöht wer­den. Die Autoren stre­ben nach den ers­ten erfolg­ten 50 Ver­sor­gun­gen mit der jet­zi­gen Orthe­sen­va­ri­an­te der Con­cept-4D-Orthe­se eine retro­spek­ti­ve Stu­die an.

 

Inter­es­sen­kon­flikt
Der Autor Micha­el Schä­fer ist Ange­stell­ter der Poh­lig GmbH.

Die Autoren:
Micha­el Schäfer
Ortho­pä­die­tech­ni­ker-Meis­ter
Poh­lig GmbH
Gra­ben­stät­ter Str. 1
83278 Traun­stein
m.schaefer@pohlig.net

Dr. med. Jörg Bahm
Ärzt­li­cher Lei­ter der Sek­ti­on Ple­xuschir­ur­gie
Uni­ver­si­täts­kli­ni­kum Aachen
Pau­wels­str. 30
52074 Aachen

 

Begut­ach­te­ter Beitrag/reviewed paper

Zita­ti­on
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