Roll­stuhl 4.0: Smar­ter durch den Alltag

Mit Sensorsystemen und bewegungsgesteuerten Fitnessgames wollen die Diplom-Ingenieure Jörg Blinn und Michael Göddel mehr Bewegung in das Leben von Rollstuhlfahrenden bringen. Sie gehören zu einem Entwicklerteam am Fachbereich Informatik und Mikrosystemtechnik der Hochschule Kaiserslautern, Standort Zweibrücken, das an einer Sitzauflage für Rollstühle zum Aktivitätsmonitoring und zur Dekubitusprävention arbeitet. Ein erster Prototyp wurde im November 2020 auf dem Kongress „#Sport #Gesundheit #Digital“ an der Technischen Universität (TU) Kaiserslautern vorgestellt.

Das auf fünf Jah­re ange­leg­te Pro­jekt ist ein Vor­ha­ben der „Offe­nen Digi­ta­li­sie­rungs­al­li­anz für die Pfalz“, Inno­va­ti­ons­be­reich Gesund­heit, das die digi­ta­le Trans­for­ma­ti­on im Gesund­heits­be­reich ver­an­schau­li­chen und vor­an­trei­ben soll. Für ihr Kon­zept suchen Blinn und Göd­del nach Koope­ra­ti­ons­part­nern aus der Orthopädie-Technik.

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OT: Herr Blinn, Herrr Göd­del, wel­che Idee steckt hin­ter Ihrem Kon­zept der sen­sor­ge­steu­er­ten Sitz­auf­la­ge und wie weit ist das Pro­jekt gediehen?

Jörg Blinn: In Gesprä­chen mit Roll­stuhl­fah­ren­den haben wir erfah­ren, wie wich­tig regel­mä­ßi­ge druck­ent­las­ten­de Bewe­gun­gen bzw. Posi­ti­ons­än­de­run­gen sind, um lang­fris­tig Schä­den durch das lan­ge Sit­zen zu ver­mei­den. Wir wol­len zei­gen, wie die Digi­ta­li­sie­rung sowohl Bewe­gungs­mo­ti­va­ti­on als auch Reha­bi­li­ta­ti­on und Prä­ven­ti­on unter­stüt­zen kann. Des­halb haben wir vor drei Jah­ren die­ses Pro­jekt gestar­tet und den ers­ten Pro­to­typ einer sen­sor­ba­sier­ten Auf­la­ge für Sitz und Rücken­leh­ne des Roll­stuhls ent­wi­ckelt. Sie ist als Teil­sys­tem eines kom­plett mit Sen­so­ren aus­ge­stat­te­ten Roll­stuhls gedacht.

Micha­el Göd­del: Die smar­te Sitz­auf­la­ge ist mit einer Druck­mess­fo­lie mit inte­grier­ten Druck­sen­so­ren, Mikro­con­trol­ler und Blue­tooth-Funk­mo­dul aus­ge­stat­tet. Sie erfasst, wie lan­ge der aktu­el­le Belas­tungs­zu­stand bereits dau­ert. Ist der Zeit­raum der Inak­ti­vi­tät zu groß und die Belas­tung zu ein­sei­tig, mel­det sich die zuge­hö­ri­ge Smart­phone-App Sit­Wat­cher mit Vibra­ti­on oder einem Audio­si­gnal. Die Inter­val­le für die War­nun­gen sowie die Warn­me­tho­de las­sen sich zuvor über die App ein­stel­len. Um zu noch mehr Bewe­gung anzu­re­gen, kann die Sitz­mat­te eben­falls als „Game Con-trol­ler“ zur Steue­rung von Spie­len auf dem PC, Tablet oder Smart­phone ver­wen­det wer­den – bei­spiels­wei­se für Reha- oder Fit­ness-Spie­le. Denk­bar ist zusätz­lich eine Ver­net­zung von Roll­stuhl­fah­ren­den über eine Inter­net­platt­form, samt gemein­sa­mer Übun­gen und moti­vie­ren­der Wettkämpfe.

Für Games & Co.: Sen­sor­shirt in Arbeit

OT: Wie funk­tio­niert die Steue­rung der Bewegungsspiele?

Blinn: Bis­her aus­schließ­lich über die Sitz­mat­te, die Sen­so­ren auf der Rücken­leh­ne wer­den noch nicht ver­wen­det. Einer­seits kön­nen über die Aus­wer­tung der gemes­se­nen Druck­be­las­tung – hier gering, da hoch – Bewe­gungs­mus­ter ana­ly­siert und für die ein­fa­che Links-Rechts-Steue­rung in Spie­len genutzt wer­den. Zudem haben wir neben der Druck­mes­sung auf der Sitz­flä­che eben­so Iner­ti­al­sen­so­ren ein­ge­bun­den. Die­se erken­nen die Aus­rich­tung des Roll­stuhls, erfas­sen Beschleu­ni­gung sowie Posi­tio­nen und bie­ten damit ein wei­te­res Spiel­ele­ment. Der­zeit arbei­ten wir an einem „Sen­sor­shirt“, das selbst klei­ne Bewe­gun­gen des Ober­kör­pers erkennt. Bis zum Ende der Pro­jekt­lauf­zeit – 31. Dezem­ber 2022 – möch­ten wir die Infor­ma­tio­nen aller Sen­so­ren zusam­men­ge­führt haben – also die Sen­sor­fu­si­on errei­chen. Dann könn­ten auch Spiel­an­wen­dun­gen für kom­ple­xe Bewe­gungs­mus­ter pro­gram­miert wer­den, die sich zum Bei­spiel beim Reha-Sport ein­set­zen las­sen und bei denen es eine Rück­mel­dung über die kor­rek­te Bewe­gungs­aus­füh­rung gibt.

OT: Wel­che Art von Games sind mit dem Pro­to­typ bereits verbunden?

Göd­del: Beson­ders gut funk­tio­niert bis­lang die Rechts-Links-Steue­rung. Wir set­zen erst ein­mal Spie­le ein, die man kennt – wie Memo­ry oder Mah­jong. Schnel­le Action­spie­le, bei denen man sich zum Bei­spiel mit dem Roll­stuhl dre­hen müss­te, sind (noch) nicht dabei. Im Moment ist die Spiel­steue­rung noch sehr ein­fach, aber das Ziel ist die Ent­wick­lung spe­zi­el­ler Reha-Spie­le. Mit­hil­fe des Sen­sor­shirts lie­ßen sich dafür eben­so Bewe­gun­gen des Ober­kör­pers bzw. der Arme einbeziehen.

OT: Wel­chen Vor­teil hat Ihre Ent­wick­lung gegen­über ande­ren Druckmesssystemen?

Göd­del: Bis­he­ri­ge kom­mer­zi­el­le Druck­mess­mat­ten-Sys­te­me sind meist sehr teu­er. Wir benut­zen stan­dar­di­sier­ba­re Bau­tei­le, die sich schnell und kos­ten­güns­tig fer­ti­gen las­sen. Wir ver­wen­den Sen­sor­mat­ten, die im Rol­le-zu-Rol­le-Druck­ver­fah­ren her­ge­stellt wer­den. Sie bestehen aus Poly­imid­fo­li­en mit 20 Rei­hen à zwölf auf­ge­druck­ten Sen­so­ren. Die­se Sen­sor­mat­ten wur­den uns von der Inno­va­ti­on­Lab GmbH aus Hei­del­berg zur Ver­fü­gung gestellt. Die Ener­gie­ver­sor­gung ist im Sei­ten­teil des Roll­stuhls unter­ge­bracht. Dort befin­det sich außer­dem ein klei­ner Com­pu­ter bzw. Mikro­con­trol­ler samt WLAN-Modul, auf dem die Soft­ware läuft, an den die Sen­so­ren ange­schlos­sen sind und der offen für wei­te­re Anwen­dun­gen ist.

Blinn: Der Rech­ner an der Sei­te ist eigent­lich nur ein Ent­wick­lungs­werk­zeug, um die Steue­rung über PC oder Smart­phone zu erleich­tern und um neue Ideen schnell umset­zen zu kön­nen. Man könn­te die gan­ze Anwen­dung auch in der Sitz­auf­la­ge inte­grie­ren. Wenn man sich auf die Sit­Wat­cher-Anwen­dung beschränkt, braucht man auch nicht die­se Sen­sor­fo­lie, da gibt es noch ein­fa­che­re Sen­so­ren, die mit ganz wenig Elek­tro­nik auskommen.

Göd­del: Ins­ge­samt möch­ten wir errei­chen, dass man mit unse­rer Metho­de wesent­lich güns­ti­ger und in hohen Stück­zah­len pro­du­zie­ren kann.

Blinn: Nicht zuletzt ist die von vorn­her­ein mit­kon­zi­pier­te Spiel­steue­rung ein Vor­teil. Ins­ge­samt ist unser Sys­tem viel­leicht nicht ganz so prä­zi­se wie die teu­ren, dafür brei­ter ein­setz­bar. Die Orts­auf­lö­sung genügt auf jeden Fall, um ein­fa­che Bewe­gungs­mus­ter zu erken­nen und Ein­ga­be­ge­rä­te zu steuern.

Koope­ra­ti­ons­part­ner gesucht

OT: Wur­de Ihre Ent­wick­lung bereits von Roll­stuhl­fah­re­rin­nen oder Roll­stuhl­fah­rern getestet?

Blinn: Nein, denn noch ist es ein nicht test­fä­hi­ger Pro­to­typ. Wir haben Kon­takt zu einem Reha-Zen­trum in Kai­sers­lau­tern auf­ge­nom­men. Sobald die Kon­struk­ti­on robust ist und zuver­läs­sig funk­tio­niert, kön­nen wir den Roll­stuhl mit betrof­fe­nen Per­so­nen ausprobieren.

OT: Bis wann soll aus dem Pro­to­typ ein markt­fä­hi­ges Pro­dukt entstehen?

Göd­del: Ein fer­ti­ges Pro­dukt ist nicht unser For­schungs­ziel. Wir möch­ten anhand unse­rer Pra­xis­stu­die modell­haft prä­sen­tie­ren, wel­che Mög­lich­kei­ten die Digi­ta­li­sie­rung für die Gesund­heits­för­de­rung bereit­hält. Wir wür­den uns aller­dings über eine Koope­ra­ti­on mit einem Sani­täts­haus oder einem Ortho­pä­die­tech­nik-Her­stel­ler freu­en, die unser Pro­jekt zu einem Pro­dukt wei­ter­füh­ren. Schließ­lich wäre ein sol­cher Ansatz genau­so ins Büro oder Home­of­fice über­trag­bar – als Bewe­gungs­mo­ti­va­tor für den Schreib­tisch­stuhl, bei allen sit­zen­den Tätigkeiten.

Die Fra­gen stell­te Cath­rin Günzel.

 

„Offe­ne Digi­ta­li­sie­rungs­al­li­anz für die Pfalz“
Die „Offe­ne Digi­ta­li­sie­rungs­al­li­anz für die Pfalz“ ist ein von der Bund-Län­der-Initia­ti­ve „Inno­va­ti­ve Hoch­schu­le“ mit ins­ge­samt fast 15 Mil­lio­nen Euro für fünf Jah­re geför­der­ter Ver­bund. Betei­ligt sind die Hoch­schu­le Kai­sers­lau­tern, die TU Kai­sers­lau­tern sowie das Fraun­ho­fer-Insti­tut für Tech­no- und Wirt­schafts­ma­the­ma­tik ITWM als Ver­bund­part­ner. Zu den Zie­len gehört die Unter­stüt­zung der Digi­ta­li­sie­rung im Bereich Gesundheit. 

 

 

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