Das auf fünf Jahre angelegte Projekt ist ein Vorhaben der „Offenen Digitalisierungsallianz für die Pfalz“, Innovationsbereich Gesundheit, das die digitale Transformation im Gesundheitsbereich veranschaulichen und vorantreiben soll. Für ihr Konzept suchen Blinn und Göddel nach Kooperationspartnern aus der Orthopädie-Technik.
OT: Herr Blinn, Herrr Göddel, welche Idee steckt hinter Ihrem Konzept der sensorgesteuerten Sitzauflage und wie weit ist das Projekt gediehen?
Jörg Blinn: In Gesprächen mit Rollstuhlfahrenden haben wir erfahren, wie wichtig regelmäßige druckentlastende Bewegungen bzw. Positionsänderungen sind, um langfristig Schäden durch das lange Sitzen zu vermeiden. Wir wollen zeigen, wie die Digitalisierung sowohl Bewegungsmotivation als auch Rehabilitation und Prävention unterstützen kann. Deshalb haben wir vor drei Jahren dieses Projekt gestartet und den ersten Prototyp einer sensorbasierten Auflage für Sitz und Rückenlehne des Rollstuhls entwickelt. Sie ist als Teilsystem eines komplett mit Sensoren ausgestatteten Rollstuhls gedacht.
Michael Göddel: Die smarte Sitzauflage ist mit einer Druckmessfolie mit integrierten Drucksensoren, Mikrocontroller und Bluetooth-Funkmodul ausgestattet. Sie erfasst, wie lange der aktuelle Belastungszustand bereits dauert. Ist der Zeitraum der Inaktivität zu groß und die Belastung zu einseitig, meldet sich die zugehörige Smartphone-App SitWatcher mit Vibration oder einem Audiosignal. Die Intervalle für die Warnungen sowie die Warnmethode lassen sich zuvor über die App einstellen. Um zu noch mehr Bewegung anzuregen, kann die Sitzmatte ebenfalls als „Game Con-troller“ zur Steuerung von Spielen auf dem PC, Tablet oder Smartphone verwendet werden – beispielsweise für Reha- oder Fitness-Spiele. Denkbar ist zusätzlich eine Vernetzung von Rollstuhlfahrenden über eine Internetplattform, samt gemeinsamer Übungen und motivierender Wettkämpfe.
Für Games & Co.: Sensorshirt in Arbeit
OT: Wie funktioniert die Steuerung der Bewegungsspiele?
Blinn: Bisher ausschließlich über die Sitzmatte, die Sensoren auf der Rückenlehne werden noch nicht verwendet. Einerseits können über die Auswertung der gemessenen Druckbelastung – hier gering, da hoch – Bewegungsmuster analysiert und für die einfache Links-Rechts-Steuerung in Spielen genutzt werden. Zudem haben wir neben der Druckmessung auf der Sitzfläche ebenso Inertialsensoren eingebunden. Diese erkennen die Ausrichtung des Rollstuhls, erfassen Beschleunigung sowie Positionen und bieten damit ein weiteres Spielelement. Derzeit arbeiten wir an einem „Sensorshirt“, das selbst kleine Bewegungen des Oberkörpers erkennt. Bis zum Ende der Projektlaufzeit – 31. Dezember 2022 – möchten wir die Informationen aller Sensoren zusammengeführt haben – also die Sensorfusion erreichen. Dann könnten auch Spielanwendungen für komplexe Bewegungsmuster programmiert werden, die sich zum Beispiel beim Reha-Sport einsetzen lassen und bei denen es eine Rückmeldung über die korrekte Bewegungsausführung gibt.
OT: Welche Art von Games sind mit dem Prototyp bereits verbunden?
Göddel: Besonders gut funktioniert bislang die Rechts-Links-Steuerung. Wir setzen erst einmal Spiele ein, die man kennt – wie Memory oder Mahjong. Schnelle Actionspiele, bei denen man sich zum Beispiel mit dem Rollstuhl drehen müsste, sind (noch) nicht dabei. Im Moment ist die Spielsteuerung noch sehr einfach, aber das Ziel ist die Entwicklung spezieller Reha-Spiele. Mithilfe des Sensorshirts ließen sich dafür ebenso Bewegungen des Oberkörpers bzw. der Arme einbeziehen.
OT: Welchen Vorteil hat Ihre Entwicklung gegenüber anderen Druckmesssystemen?
Göddel: Bisherige kommerzielle Druckmessmatten-Systeme sind meist sehr teuer. Wir benutzen standardisierbare Bauteile, die sich schnell und kostengünstig fertigen lassen. Wir verwenden Sensormatten, die im Rolle-zu-Rolle-Druckverfahren hergestellt werden. Sie bestehen aus Polyimidfolien mit 20 Reihen à zwölf aufgedruckten Sensoren. Diese Sensormatten wurden uns von der InnovationLab GmbH aus Heidelberg zur Verfügung gestellt. Die Energieversorgung ist im Seitenteil des Rollstuhls untergebracht. Dort befindet sich außerdem ein kleiner Computer bzw. Mikrocontroller samt WLAN-Modul, auf dem die Software läuft, an den die Sensoren angeschlossen sind und der offen für weitere Anwendungen ist.
Blinn: Der Rechner an der Seite ist eigentlich nur ein Entwicklungswerkzeug, um die Steuerung über PC oder Smartphone zu erleichtern und um neue Ideen schnell umsetzen zu können. Man könnte die ganze Anwendung auch in der Sitzauflage integrieren. Wenn man sich auf die SitWatcher-Anwendung beschränkt, braucht man auch nicht diese Sensorfolie, da gibt es noch einfachere Sensoren, die mit ganz wenig Elektronik auskommen.
Göddel: Insgesamt möchten wir erreichen, dass man mit unserer Methode wesentlich günstiger und in hohen Stückzahlen produzieren kann.
Blinn: Nicht zuletzt ist die von vornherein mitkonzipierte Spielsteuerung ein Vorteil. Insgesamt ist unser System vielleicht nicht ganz so präzise wie die teuren, dafür breiter einsetzbar. Die Ortsauflösung genügt auf jeden Fall, um einfache Bewegungsmuster zu erkennen und Eingabegeräte zu steuern.
Kooperationspartner gesucht
OT: Wurde Ihre Entwicklung bereits von Rollstuhlfahrerinnen oder Rollstuhlfahrern getestet?
Blinn: Nein, denn noch ist es ein nicht testfähiger Prototyp. Wir haben Kontakt zu einem Reha-Zentrum in Kaiserslautern aufgenommen. Sobald die Konstruktion robust ist und zuverlässig funktioniert, können wir den Rollstuhl mit betroffenen Personen ausprobieren.
OT: Bis wann soll aus dem Prototyp ein marktfähiges Produkt entstehen?
Göddel: Ein fertiges Produkt ist nicht unser Forschungsziel. Wir möchten anhand unserer Praxisstudie modellhaft präsentieren, welche Möglichkeiten die Digitalisierung für die Gesundheitsförderung bereithält. Wir würden uns allerdings über eine Kooperation mit einem Sanitätshaus oder einem Orthopädietechnik-Hersteller freuen, die unser Projekt zu einem Produkt weiterführen. Schließlich wäre ein solcher Ansatz genauso ins Büro oder Homeoffice übertragbar – als Bewegungsmotivator für den Schreibtischstuhl, bei allen sitzenden Tätigkeiten.
Die Fragen stellte Cathrin Günzel.
Die „Offene Digitalisierungsallianz für die Pfalz“ ist ein von der Bund-Länder-Initiative „Innovative Hochschule“ mit insgesamt fast 15 Millionen Euro für fünf Jahre geförderter Verbund. Beteiligt sind die Hochschule Kaiserslautern, die TU Kaiserslautern sowie das Fraunhofer-Institut für Techno- und Wirtschaftsmathematik ITWM als Verbundpartner. Zu den Zielen gehört die Unterstützung der Digitalisierung im Bereich Gesundheit.
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