MDR lässt Büro­kra­tie im Sani­täts­haus wuchern

„Im Großen und Ganzen gut aufgestellt, trotz neuer Belastungen“ sieht Torben Vahle die Hilfsmittelbranche, wenn die EU-Medizinprodukteverordnung am 26. Mai 2021 tatsächlich startet. Für den Geschäftsführer der Landesinnung für Orthopädietechnik Berlin-Brandenburg sowie des Fachverbandes für Orthopädietechnik und Sanitätsfachhandel Nordost e. V. bedeutet dieser Termin jedoch einen weiteren Anstieg der Bürokratie im täglichen Geschäft der Hilfsmittelversorgung.

Denn dann endet die vier­jäh­ri­ge Über­gangs­frist, inner­halb derer sich Sani­täts­häu­ser und ortho­pä­die­tech­ni­sche Betrie­be auf die Medi­cal Device Regu­la­ti­on (MDR) vor­be­rei­ten konn­ten. Eigent­lich war die auf den Pati­en­ten­schutz zie­len­de Ver­ord­nung der Euro­päi­schen Uni­on bereits am 25. Mai 2017 in Kraft getre­ten. Die Coro­na-Pan­de­mie hat­te zu den vor­ge­se­he­nen drei noch ein zusätz­li­ches Jahr Auf­schub gebracht. Mit der MDR wer­den zugleich stren­ge­re Ansprü­che an die kli­ni­sche Bewer­tung von Pro­duk­ten instal­liert sowie eine wei­ter­ge­hen­de Über­wa­chung, nach­dem sie in Ver­kehr gebracht wur­den. Dies betrifft sowohl Son­der­an­fer­ti­gun­gen als auch den Wei­ter­ver­kauf kon­fek­tio­nier­ter Erzeug­nis­se im Sanitätshaus.

 

OT: Herr Vah­le, kann die MDR kom­men – oder war die Ver­schnauf­pau­se auf­grund der Covid-19-Pan­de­mie zu kurz?

Tor­ben Vah­le: Von einer „Ver­schnauf­pau­se“ kann man wahr­lich nicht spre­chen! Die Pan­de­mie hat die Betrie­be teil­wei­se vor exis­ten­zi­el­le Fra­gen gestellt durch die Ver­schie­bun­gen von Ope­ra­tio­nen, Ängs­te sei­tens der Pati­en­tin­nen und Pati­en­ten, Aus­fall des Per­so­nals, den feh­len­den Zugang zu Kran­ken­häu­sern und Pfle­ge­ein­rich­tun­gen, zusam­men­ge­bro­che­nen Lie­fer­ket­ten. Von feh­len­dem Mate­ri­al oder den enorm gestie­ge­nen Kos­ten zum Bei­spiel für per­sön­li­che Schutz­aus­rüs­tung (PSA) ganz zu schwei­gen. Da war die MDR für vie­le weit weg. Zum Glück haben sich die meis­ten sehr früh­zei­tig auf den Weg gemacht. Vie­le Unter­neh­men hat­ten die Pro­zes­se der betrieb­li­chen Umstruk­tu­rie­rung, wel­che die MDR mit sich bringt, schon lan­ge auf der Agen­da. Sie konn­ten die Semi­na­re und Infor­ma­tio­nen, die der Bun­des­in­nungs­ver­band für Ortho­pä­die-Tech­nik (BIV-OT) sowie die Lan­des­ver­bän­de und ‑innun­gen ange­bo­ten haben, gut nut­zen. Ich hal­te die Betrie­be des­halb ins­ge­samt für gut vorbereitet.

Pro­fi­teu­re oder Verlierer?

OT: Wel­che Unter­neh­men kön­nen von der MDR profitieren?

Vah­le: Der Tenor in der Bran­che lau­tet: Die MDR ist im Grund­satz not­wen­dig, aber im Detail frag­lich. Hier unter­nimmt die Euro­päi­sche Uni­on den Ver­such, bestehen­de Richt­li­ni­en und Vor­ga­ben zu bün­deln sowie per Ver­ord­nung eine direk­te Wir­kung in allen Mit­glieds­staa­ten zu erlan­gen. Glei­che Regeln für alle. Das ist erst­mal kein schlech­ter Ansatz. Aber eine Ver­ord­nung ist nur so gut wie ihre Inhal­te – und da ist die MDR ein viel zu star­res Kon­strukt. Sie wur­de ange­sto­ßen durch den Skan­dal um gefälsch­te Brust­im­plan­ta­te vor rund einem Jahr­zehnt, wo kri­mi­nel­le Ener­gie im Spiel war und nicht aus­rei­chend kon-trol­liert wur­de oder wer­den konn­te. Aber in der Aus­füh­rung geht die MDR nun in eine Rich­tung, als ob das gan­ze Sys­tem zuvor schlecht gewe­sen wäre. Das stimmt nicht. Gera­de in Deutsch­land gab es bereits erprob­te Struk­tu­ren spe­zi­ell im Gesund­heits­hand­werk. Dazu gehö­ren berufs­recht­li­che Vor­schrif­ten im Rah­men der Hand­werks­kam­mern, die Sozi­al­ge­setz­ge­bung wie auch eta­blier­te Mel­de­sys­te­me. So hat das Bun­des­in­sti­tut für Arz­nei­mit­tel und Medi­zin­pro­duk­te (BfArM) lau­fend Aus­wer­tun­gen zu Vor­komm­nis­sen bei­spiels­wei­se für Orthe­sen der unte­ren Extre­mi­tät erstellt. Die Pati­en­ten­si­cher­heit in unse­rem Bereich war nicht gefähr­det, trotz­dem wer­den wir in die MDR-Vor­ga­ben gepresst. Dabei dif­fe­ren­ziert die MDR zu wenig, wirft indi­vi­du­el­le Fer­ti­gung in einen Topf mit der groß­in­dus­tri­el­len Her­stel­lung. Da pro­fi­tie­ren wir eher nicht.

Neu­es Bran­chen­re­gis­ter geplant

OT: Also bringt die MDR nur Lasten?

Vah­le: Eigent­lich war in der EU ein Aus­gleich üblich: Kommt eine neue Belas­tung, geht dafür eine ande­re. Dies ist hier nicht so und das erzeugt Frust. Die Leu­te kom­men auf­grund wuchern­der Büro­kra­tie immer weni­ger zur eigent­li­chen Ver­sor­gungs­ar­beit. Und auf den Büro­kra­tie­kos­ten blei­ben sie sit­zen, das ist nicht kor­rekt. Der Ver­wal­tungs­ap­pa­rat bläht immer mehr auf. Ganz neu sind zwin­gen­de Ein­schät­zun­gen zur Lebens­dau­er eines Pro­dukts: Hier muss ange­ge­ben wer­den, wie lan­ge das Pro­dukt vor­aus­sicht­lich im Markt sein wird samt Über­wa­chungs- und War­tungs­zy­klen. Das betrifft eben­so indi­vi­du­ell ange­pass­te bzw. her­ge­stell­te Pro­duk­te. Die­se Infor­ma­tio­nen soll­ten im Qua­li­täts­ma­nage­ment hin­ter­legt sein. Die Arbeit erleich­tern soll in Zukunft ein neu­es Bran­chen­re­gis­ter, das die Deut­sche Gesell­schaft für inter­pro­fes­sio­nel­le Hilfs­mit­tel­ver­sor­gung e. V. (DGIHV) im Bereich der kli­ni­schen Nach­ver­fol­gung plant. Es soll alle Bewer­tun­gen und Mel­dun­gen zu den Pro­dukt­fa­mi­li­en im Markt über­sicht­lich zusammenfassen.

OT: Im Sani­täts­haus fin­den ja bei­de Wel­ten zusam­men – die Son­der­fer­ti­gung und der Ver­kauf bzw. die Abga­be kon­fek­tio­nier­ter Erzeug­nis­se. Was ist hier zu beachten?

Vah­le: Der Work­flow ändert sich durch die MDR. Ich kann für den Sani­täts­haus­be­reich nur emp­feh­len, sich im Leit­fa­den für Händ­ler der DGIHV einen Über­blick zu ver­schaf­fen. Ein Händ­ler ist per se kein Her­stel­ler. Aber kri­tisch kann es sein, wenn Pro­duk­te aus einer Char­ge ent­nom­men und ein­zeln abge­ge­ben wer­den oder Pro­duk­te durch Umver­pa­ckun­gen ver­än­dert wer­den. Hier kann Gefahr dro­hen. Also soll­te ein Sani­täts­haus genau abwä­gen: In wel­cher Grö­ßen­ord­nung darf ich ein­zeln abge­ben? Bei White-Label-Pro­duk­ten bzw. dem Umla­beln von Pro­duk­ten kommt es sicher auf den Ein­zel­fall an. Aber wer etwas unter sei­nem eige­nen Label in den Markt bringt, rutscht schnell in den Ver­ant­wor­tungs­be­reich und die Pflich­ten eines Her­stel­lers – genau­so wie der, der ein­zel­ne Pro­duk­te aus einer Groß­ver­pa­ckung nimmt.

MDR inno­va­ti­ons­feind­lich?

OT: Wor­in sehen Sie im Zusam­men­hang mit der Umset­zung der MDR noch Unklarheiten?

Vah­le: Nicht abschlie­ßend geklärt ist, ob die Behör­den Son­der­fer­ti­gun­gen tat­säch­lich mit allen Kon­se­quen­zen wie Groß­se­ri­en­pro­duk­te behan­deln und bewer­ten wer­den, wie es die MDR im Kern vor­schreibt. Unklar ist, wer kon­trol­liert und sank­tio­niert. So las­sen sich vie­le der Vor­schrif­ten der Richt­li­nie über ein QM-Sys­tem abde­cken. Doch was pas­siert, wenn der Audi­tor bei der Über­prü­fung Abwei­chun­gen fest­stellt? Dann gibt es im Zwei­fel kein Zer­ti­fi­kat, klar. Aber darf und muss er das dann an die Behör­den mel­den? Ich den­ke nicht. Die Kon­trol­len müs­sen ange­mes­sen sein, mit Maß und Mit­te. Ein wei­te­rer unkla­rer Punkt ist der Umgang mit Inno­va­tio­nen. Nach mei­ner Ansicht ist die MDR inno­va­ti­ons­feind­lich. Nichts darf vom vor­ge­ge­be­nen Sys­tem abwei­chen – aber Inno­va­ti­on ist eine durch Erfah­rung und Exper­ten­wis­sen gene­rier­te Abwei­chung vom Sys­tem. Inno­va­ti­on ist der Kern des Gesund­heits­hand­werks, zeich­net es aus. Noch wis­sen wir nicht, wie die MDR hier ein­wirkt. Es wäre gut, wenn in die­sem Zusam­men­hang zunächst eine Art Kon­troll­mo­ra­to­ri­um ein­ge­führt wür­de, damit sich die MDR unter „Nor­mal­be­trieb“ ein paar Mona­te ein­spie­len kann.

Die Fra­gen stell­te Cath­rin Günzel.

 

Tei­len Sie die­sen Inhalt