Qua­li­täts­sprung dank Lymph- und Kompressionstherapie

Erstmals ging Mitte April der 44. Lymphkongress der Deutschen Gesellschaft für Lymphologie (DGL) und der Gesellschaft Deutschsprachiger Lymphologen (GDL) unter dem Titel „Lymphologie 2021 digital“ virtuell auf Sendung. Im Interview berichtet Kongresspräsident Dr. med. Simon Classen (60), seit Oktober 2014 Direktor der Kerckhoff-Klinik GmbH in Bad Nauheim, von seinen Erfahrungen mit dem neuen Format. Zudem wünscht er sich, dass bei Profis und Patient:innen mehr Wissen über Ursachen und Therapien von Lymphödemen vorherrscht.

OT: Wann fiel die Ent­schei­dung für ein rein digi­ta­les Kongressformat?

Anzei­ge

Simon Clas­sen: Zu Beginn der Pan­de­mie im Früh­jahr 2020 war noch kei­ne Rede von einem digi­ta­len Kon­gress. Damals dach­ten wir, wir gehen auf Num­mer sicher, wenn wir den Kon­gress in den Herbst des glei­chen Jah­res ver­schie­ben. Bereits im Som­mer 2020 zeich­ne­te sich ab, dass eine Prä­senz­ver­an­stal­tung im Herbst 2020 unrea­lis­tisch und selbst im Früh­jahr 2021 unwahr­schein­lich ist. Des­halb haben wir, mein Kon­gress­prä­si­den­ten­kol­le­ge Prof. Dr. Jochen Karl Röss­ler, Abtei­lungs­lei­ter der Päd­ia­tri­schen Häma­to­lo­gie und Onko­lo­gie des Uni­ver­si­täts­spi­tals Bern, sowie die Fach­ge­sell­schaf­ten DGL und GDL, die den Lymph­kon­gress ver­an­stal­ten, über eine hybri­de Kon­gress­kon­struk­ti­on und alter­na­tiv eine rein digi­ta­le Vari­an­te im Früh­jahr 2021 nach­ge­dacht. Die bei­den Fach­ge­sell­schaf­ten haben dar­auf­hin ihre Mit­glie­der per E‑Mail befragt, wel­ches For­mat sie bevor­zu­gen wür­den. Die Ant­wor­ten erga­ben ein ein­deu­ti­ges Bild: Die Mehr­heit sprach sich für eine digi­ta­le Vari­an­te aus, sodass wir ab Spät­som­mer in die Vor­be­rei­tung gingen.

OT: Wor­auf haben Sie und Ihr Kol­le­ge Prof. Röss­ler in der Vor­be­rei­tung beson­ders viel Wert gelegt?

Clas­sen: Wir woll­ten ein digi­ta­les For­mat auf­le­gen, das die drei Säu­len des Lymph­kon­gres­ses ver­eint: den gro­ßen Block der Wis­sens­ver­mitt­lung aus Wis­sen­schaft und Pra­xis mit Dis­kus­si­ons­op­tio­nen und unter Ein­be­zie­hung aller an der Ver­sor­gung betei­lig­ten Berufs­grup­pen, Voll­ver­samm­lun­gen der bei­den Gesell­schaf­ten sowie einen direk­ten Aus­tausch zwi­schen Indus­trie und Inter­es­sier­ten. Prof. Dr. Vol­ker Groß­kopfnd sei­nem Team ist es gelun­gen, all das von unse­rem Köl­ner Stu­dio aus anzubieten.

Nicht weg­zu­den­ken: digi­ta­le Formate

OT: Wie beur­tei­len Sie im Rück­blick die digi­ta­le Kongressvariante?

Clas­sen: Ganz ehr­lich? Klingt nach Eigen­lob, aber ich fand den Kon­gress super. In Spit­zen­zei­ten hat­ten wir mehr als 300 Teilnehmer:innen. Zum Ver­gleich: In den letz­ten Jah­ren ver­zeich­ne­ten wir im Durch­schnitt 250–300 Besucher:innen. Selbst am zwei­ten Tag mit einem zehn­stün­di­gen Pro­gramm blie­ben die Teilnehmer:innen am Ball. Beson­ders schön: Die Chat­funk­ti­on wur­de durch­weg genutzt, sodass der Aus­tausch unter­ein­an­der her­vor­ra­gend funk­tio­niert hat. Im Nach­hin­ein kön­nen alle Ticketinhaber:innen noch drei Mona­te lang die Vor­trä­ge und Work­shops anschau­en. Inso­fern bie­tet der digi­ta­le Kon­gress sogar ein paar Vor­tei­le, die bei einer Prä­senz­ver­an­stal­tung nicht gege­ben wären. Das digi­ta­le For­mat wird nicht mehr weg­zu­den­ken oder weg­zu­dis­ku­tie­ren sein. Aller­dings brau­chen wir im nächs­ten Jahr nach zwei Jah­ren Pan­de­mie drin­gend wie­der den per­sön­li­chen Aus­tausch mit dem „Fak­tor Zufall“.

OT: Wie stel­len Sie sich den Lymph­kon­gress 2022 vor?

Clas­sen: Ich hof­fe auf eine Hybrid­lö­sung, einen Kon­gress, zu dem wir uns end­lich alle wie­der per­sön­lich tref­fen kön­nen, aber auch die Vor­tei­le des Digi­ta­len ausschöpfen.

Mehr als ein geschwol­le­nes Knie

OT: Zu Kon­gress­be­ginn stell­ten Oli­ver Gül­tig und Tho­mas Kün­zel ein Fall­bei­spiel zur kom­ple­xen Phy­sio­the­ra­pie beim Zustand nach Knie-Total­en­do­pro­the­se vor. Was kön­nen Versorger:innen dar­aus lernen?

Clas­sen: Vie­le mei­ner ärzt­li­chen Kolleg:innen wür­den wahr­schein­lich nur ein geschwol­le­nes Knie nach einer Ope­ra­ti­on wahr­neh­men und das als ganz nor­mal bezeich­nen, ohne auf die Idee einer Lymph- oder Kom­pres­si­ons­the­ra­pie zu kom­men. Die bei­den Refe­ren­ten haben ein­drück­lich gezeigt, dass gera­de die Kom­bi­na­ti­on aus Lymph- und Kom­pres­si­ons­the­ra­pie den Patient:innen den Qua­li­täts­sprung zu einem viel schnel­ler funk­tio­nie­ren­den Gelenk bringt. Und das ist kein Ein­zel­fall. Die Wirk­wei­se von Lymph­drai­na­ge, Kom­pres­si­ons­the­ra­pie sowie inter­mit­tie­ren­der pneu­ma­ti­scher Kom­pres­si­on (IPK) ist längt wis­sen­schaft­lich belegt. Wir müs­sen daher drin­gend schon in der Aus­bil­dung aller an der Ver­sor­gung von Lymph­öde­men betei­lig­ten Berufs­grup­pen mehr Wert auf Infor­ma­tio­nen zu Ursa­chen und The­ra­pien die­ser Gefäß­fehl­bil­dun­gen legen. Jahr­hun­der­te­lang haben wir in der Medi­zin das Gefäß­sys­tem ver­nach­läs­sigt. Es ist an der Zeit, es stär­ker wahr­zu­neh­men. Die ver­än­der­te Wahr­neh­mung wird irgend­wann auch zu einem Umden­ken bei der Behand­lung von Lymph­öde­men führen.

OT: Vie­le Referent:innen beklag­ten zudem das Infor­ma­ti­ons­de­fi­zit von Patient:innen zum Krank­heits­bild Lymph­ödem. Wie kann hier Abhil­fe geschaf­fen werden?

Clas­sen: Auch hier muss ein Wis­sens­trans­fer statt­fin­den. Ich wün­sche mir, dass sich die Hausärzt:innen stär­ker mit dem The­ma beschäf­ti­gen. Sie müs­sen ja kei­ne Lympholog:innen wer­den, soll­ten aber die ver­schie­de­nen Ursa­chen und The­ra­pien ken­nen und damit die Infor­ma­tio­nen natür­lich auch an ihre Patient:innen wei­ter­ge­ben kön­nen bzw. die­se an Spezialist:innen über­wei­sen. Wei­te­rer Vor­teil wäre: Je mehr Über­wei­sun­gen an Spezialist:innen erfol­gen, des­to attrak­ti­ver wird es für Ärzt:innen, die Fach­arzt­rich­tung Lym­pho­lo­gie ein­zu­schla­gen und damit die Ver­sor­gung in Deutsch­land zu ver­bes­sern. Je mehr infor­mier­te Ärzt:innen, Physiotherapeut:innen, Sanitätshausmitarbeiter:innen vor­han­den sind, des­to eher gelan­gen die jeweils neu­es­ten Erkennt­nis­se und For­schungs­er­geb­nis­se zu den betrof­fe­nen Menschen.

Beschwer­de­ar­mes Leben möglich

OT: Was emp­feh­len Sie Betrof­fe­nen, wenn Sie ihnen die Dia­gno­se Lymph­ödem vermitteln?

Clas­sen: Das ist je nach Ursa­che und Vor­er­kran­kun­gen sehr unter­schied­lich. Alle Patient:innen sind ein­zig­ar­tig. Grund­sätz­lich ver­su­che ich, allen zu ver­mit­teln, dass sie ein beschwer­de­ar­mes Leben vor sich haben, wenn sie sich an die Regeln hal­ten, die jewei­li­gen The­ra­pie­an­sät­ze verfolgen.

OT: Die päd­ia­tri­sche Lym­pho­lo­gie war ein wei­te­rer Schwer­punkt des Kon­gres­ses. Nimmt die Anzahl der Kin­der mit Gefäß­fehl­bil­dun­gen zu?

Clas­sen: Nein. Zum Glück nicht! Kin­der stel­len nur eine klei­ne Grup­pe inner­halb unse­rer Patient:innen dar. Aber die Ver­sor­gung von Kin­dern mit ange­bo­re­nen oder onko­lo­gisch beding­ten Lymph­öde­men ist uns allen eine Her­zens­an­ge­le­gen­heit. Gera­de bei Kin­dern blei­ben nicht sel­ten Gefäß­fehl­bil­dun­gen uner­kannt, wodurch dau­er­haft viel Leid entsteht.

OT: Neben Lymph- und Kom­pres­si­ons­the­ra­pie wur­den ver­schie­de­ne medi­ka­men­tö­se und chir­ur­gi­sche The­ra­pie­an­sät­ze vor­ge­stellt. Was hal­ten Sie davon?

Clas­sen: Grund­sätz­lich hat jeder Ansatz sei­ne Berech­ti­gung. Das hängt ganz von der Indi­ka­ti­on ab. Beim Lymph­ödem lie­gen oft ent­zünd­li­che Pro­zes­se dahin­ter. Einen posi­ti­ven Effekt auf die Ein­däm­mung von Ent­zün­dun­gen kön­nen Medi­ka­men­te, Ernäh­rungs­um­stel­lun­gen, aber auch chir­ur­gi­sche Ein­grif­fe haben. Die früh­zei­ti­ge Lymph­the­ra­pie in allen Facet­ten hat hier sicher­lich den Aus­schlag gege­ben, dass bei Patient:innen die Mobi­li­sa­ti­on sehr schnell vor­an­ge­kom­men ist.

Ent­zün­dun­gen im Fokus

OT: Auf wel­chen Gebie­ten wün­schen Sie sich mehr For­schung zum Lymphödem?

Clas­sen: Ganz klar auf dem Gebiet der Anti­in­flamm­a­ti­on. Wie gesagt, Ent­zün­dun­gen spie­len eine gro­ße Rol­le und wer­den bis­her im Zusam­men­hang mit Lymph­öde­men in Pra­xis und For­schung zu wenig wahrgenommen.

OT: Nach einer Ver­zö­ge­rung im Herbst 2020 sind die neu­en Heil­mit­tel­richt­li­ni­en am 1. Janu­ar 2021 in Kraft getre­ten. Wel­che Erfah­run­gen haben Sie bis­her damit gemacht?

Clas­sen: Die Regeln müs­sen sich erst in der Pra­xis bewäh­ren. Unser All­tag in der Kli­nik ist aber noch immer stark von der Covid-19-Pan­de­mie bestimmt, sodass ich der­zeit nichts zu den Aus­wir­kun­gen der neu­en Heil­mit­tel­richt­li­ni­en sagen kann.

OT: Wel­che Rol­le spielt der Sani­täts­fach­han­del bei der Ver­sor­gung von Lymphödemen? 

Clas­sen: Der Sani­täts­fach­han­del mit sei­nen Mitarbeiter:innen spielt eine enorm gro­ße Rol­le bei der Ver­sor­gung der Patient:innen mit Wis­sen und Hilfs­mit­teln. Aller­dings gibt es auch hier von Haus zu Haus, von Mitarbeiter:in zu Mitarbeiter:in Unter­schie­de, was Moti­va­ti­on, Empa­thie und Enga­ge­ment angeht. Je bes­ser die Mitarbeiter:innen infor­miert sind, des­to umfas­sen­der kön­nen sie ihre Kund:innen bera­ten und versorgen.

Die Fra­gen stell­te Ruth Justen.

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