OT: Wie sind Sie zum Thema Skoliose gekommen?
Jan Jurkoweit: Grundsätzlich habe ich Spaß an komplexen Sachverhalten. Bei der Versorgung von Skoliose-Patient:innen hat mich zudem fasziniert, dass es sich um Langzeitprojekte handelt. Es geht hier um Betreuungsmedizin, nicht um ein schnelles Erstellen von Hilfsmitteln, die überreicht werden und das war es. Beides führte zu meinem großen Interesse an der Rumpforthetik bereits ab dem zweiten Lehrjahr.
Austauschangebote
OT: Was ist Ihre Motivation für die Freiburger Skoliose-Talks vom August 2021?
Jurkoweit: Mehr Bildung führt zu mehr Erfolg. Das gilt für uns Orthopädietechniker:innen genauso wie für die Patient:innen. Aber natürlich macht das auch Arbeit, deshalb führe ich seit 2009 in unregelmäßigen Abständen Skoliose-Talks durch. In diesem Jahr fand das Gespräch erstmals digital statt, ausgespielt über die bei unseren jungen Patient:innen besonders beliebte Plattform Youtube. Denn mit den Gesprächsrunden wollen wir die Betroffenen und ihre Eltern auf leicht verständliche Weise über die konservative Therapie informieren.
OT: Wie wählen Sie die Themen und Gesprächsteilnehmer:innen aus?
Jurkoweit: Die Themen ergeben sich aus dem täglichen Dialog mit den Patient:innen und den Partner:innen bei der Versorgung. Bei der Premiere 2009 ging es um den Zusammenhang von Zahnfehlstellungen und Skoliose, beim zweiten Talk im Jahr 2017 haben wir über die psychische Belastung von Skoliosepatient:innen debattiert. Im Fall des aktuellen Freiburger Skoliose-Talks waren die Therapie aus Patientensicht sowie die Schroth-Therapie Gesprächsthemen. Wir arbeiten mit einer Reihe von Physiotherapiepraxen in der Region sowie überregional eng zusammen. Aus diesem Kreis wähle ich eine/n Expert:in aus. In diesem Fall waren das die Skoliose-Therapeutin und Sportwissenschaftlerin Katja Schumann sowie unsere gemeinsame Patientin Julia. Sie ist ein Musterbeispiel für eine disziplinierte Teenagerin, die andere wunderbar motivieren kann. Katja und Julia haben das aus meiner Sicht wunderbar gemacht. Tatsächlich haben wir alle drei zwanzigminütigen Teile jeweils in einem Rutsch gefilmt.
Mit positiven Beispielen Chancen aufzeigen
OT: Sind die Talks Motivationsvideos für junge Menschen mit Skoliose?
Jurkoweit: Auch. Ich verfolge verschiedene Ziele mit den Gesprächsrunden: Natürlich will ich die jungen Menschen motivieren, ihr Korsett möglichst diszipliniert zu tragen. Gleichzeitig will ich eine Lanze für die konservative Therapie brechen, die ja von einigen Fachleuten durchaus kritisiert wird. Meine Kolleg:innen möchte ich für mehr Qualitätsbewusstsein sensibilisieren und für eine enge interdisziplinäre Zusammenarbeit werben.
OT: Wie motivieren Sie darüber hinaus, das Korsett zu tragen?
Jurkoweit: Unsere Patient:innen sind sehr unterschiedlich. Morgens treffen sie eine Patientin, die steht vor der Wand und will nichts hören, sehen oder wissen. Zwei Stunden später kommt eine junge Frau, die unbedingt eine Operation vermeiden will und voll dabei ist. Letztere müssen sie nicht motivieren. Erste können sie hoffentlich über die Peergroup erreichen, also über Gleichalte oder etwas Ältere, die bereits Erfolge in der Wirbelsäulenkorrektur aufweisen. Denn positive Beispiele zeigen Chancen auf.
Vertrauen aufbauen
OT: Wie sieht das erste Treffen mit Patient:innen aus?
Jurkoweit: Meistens steht ein Mutter-Tochter-Gespann vor mir oder meiner Kollegin, einer erfahrenen Physiotherapeutin, die abwechselnd mit mir und einem weiteren OT-Kollegen die Erstgespräche durchführt. Bei uns sind etwa 80 Prozent der Skoliose-Patient:innen Mädchen. Für das erste Treffen nehmen wir uns viel Zeit, um die Betroffenen ausführlich zu beraten und über die nächsten Schritte zu informieren. Beim Abschied überreichen wir eine Broschüre, in der die wichtigsten Daten und Fakten zusammengestellt sind, und weisen auch noch einmal auf unsere Homepage mit vielen Informationen hin. Ziel des ersten Treffens ist es, das Eis zu brechen, Vertrauen in die gemeinsame Arbeit aufzubauen.
OT: Mit welcher Erwartungshaltung kommen die Betroffenen zum ersten Treffen?
Jurkoweit: Oft haben sich die Eltern im Vorfeld im Netz umgeschaut und stoßen dabei etwa auf die Aussage, dass im Schnitt eine 50-prozentige Korrektur der Wirbelsäulenverkrümmung durch die konservative Therapie möglich sei. Diese Zahl schwirrt auch in der Denke vieler Ärzt:innen rum. Mit diesen Erwartungen müssen wir umgehen. Im Schnitt mag die Zahl 50 Prozent auch stimmen, aber natürlich hängt das Korrekturpotenzial von vielen Faktoren ab. Hier sind Anzahl und Grad der Verkrümmungen zu nennen, das Alter bei Beginn der Therapie und die Tragezeit. Bei einer zehn Jahre alten Patientin mit einer einbogigen Krümmung erzielen Sie weitaus bessere Ergebnisse als 50 Prozent. Bei einer 14-jährigen Patientin mit zwei Krümmungen à 48 °Cobb kann nicht in jedem Fall eine Halbierung des Winkelwertes erreicht werden.
OT: Wie sieht es mit eventueller psychotherapeutischer Begleitung aus?
Jurkoweit: In Einzelfällen ist das sinnvoll. Gibt es große Spannungen zwischen Eltern und Kindern, sind Sie als Orthopädietechniker in der Versorgung sehr gefordert. Manchmal können wir das vor Ort lösen, indem wir mal nur mit den Eltern reden, mal nur mit den Kindern. Mehr Grundlagenvermittlung auf dem Gebiet der Psychologie könnte daher schon in der Ausbildung zum Orthopädietechniker nicht schaden. Aber je nach Elternhaus braucht es eine weitere externe Betreuung durch eine Form des Coachings.
OT: Welchen Umgang mit dem Korsett empfehlen Sie Ihren Patient:innen?
Jurkoweit: Natürlich empfehlen wir einen offensiven Umgang. Wenn ich aber an meine eigene Jugend denke, weiß ich natürlich, dass das nicht einfach ist. Jugendliche wollen sich ja nicht abheben von ihren Mitschüler:innen. Es braucht großes Selbstbewusstsein und ein gutes Klassengefüge, um offensiv zum Korsett zu stehen.
Zusammenarbeit und Verantwortungsbewusstsein
OT: Kommt es vor, dass Sie Ihren Patient:innen eine andere Tragedauer für das Korsett empfehlen als die behandelnden Ärzt:innen?
Jurkoweit: Das kann schon vorkommen, aber unterschiedliche Auffassungen thematisieren wir nie vor den Patient:innen. Das gebietet schon die Fairness gegenüber den Partner:innen. Außerdem wäre es nicht sehr zielführend, ausgerechnet vor Kindern oder Jugendlichen Widersprüche aufzumachen. Die jungen Menschen suchen dann meist den leichteren Weg aus, der aber nicht der bessere ist. Sollten wir anderer Meinung sein, greifen wir zum Hörer und besprechen uns mit den behandelnden Ärzt:innen oder Therapeut:innen. Denn eine erfolgreiche Therapie lebt von der Zusammenarbeit, lebt davon, dass wir alle eine Sprache sprechen. Studien zeigen, dass eine Tragedauer von 18 bis 20 Stunden am effektivsten ist. Manchmal kann es ratsam sein, auf 22 Stunden zu erhöhen. Entscheidend ist am Ende die durchschnittliche Tragezeit pro Woche, Monat und Jahr. Wenn Jugendliche mal ohne Korsett feiern gehen, ist das daher völlig okay. Schwierig wird es nur, wenn Patient:innen ohnehin nicht sehr diszipliniert sind. Pro Jahr, bis etwa ein Jahr nach dem Ende des Wachstums, ist es empfehlenswert, an 300 Tagen im Jahr jeweils eine Tragezeit von 18 bis 20 Stunden zu erreichen.
OT: Was unterscheidet Ihre Herangehensweise?
Jurkoweit: Die Zahlen machen deutlich, dass es bei der Versorgung von Patient:innen mit Skoliose nicht um die Abgabe von einem Hilfsmittel geht. Ich nenne es Orthesentherapie, weil wir über Jahre die jungen Menschen mit jeweils passgenauen Orthesen engmaschig begleiten. Dabei geht es uns nicht um die Abgabe von Hilfsmitteln, sondern wirklich um das therapeutische Betreuen, Motivieren und Beraten. Dahinter steckt ein tieferes Verständnis von Verantwortungsbewusstsein, zu dem ich auch meine Kolleg:innen ermutigen will.
Digitale Technik bei Teenagern ein Muss
OT: Kern der Versorgung ist der Korsettbau. Wie beurteilen Sie die klassische Gipstechnik im Vergleich zur Scanmesstechnik aus der Perspektive des Technikers, aber auch der Patient:innen?
Jurkoweit: Gipstechnik oder Scan – das wird unter Orthopädietechniker:innen noch immer heiß diskutiert. Die Vorteile der digitalen Technik überwiegen aber klar. Insbesondere bei den Teenagern in der Pubertät ist sie sogar ein Muss. Dieser Zielgruppe möchte ich das Eingipsen nicht mehr zumuten. Gerade die jungen Menschen sind hochsensibel und ziehen es vor, gescannt zu werden, statt per Hand von ihnen fremden Menschen eingegipst zu werden.
OT: Halten Sie Sensortechnik in Korsetts oder Apps zur Überprüfung der Tragezeit für sinnvoll?
Jurkoweit: Wir bieten noch keine Korsetts mit Sensortechnik an. Vonseiten der Ärzteschaft bestehen Bedenken, weil es ein starker Eingriff in die Privatsphäre wäre. Selbstverständlich könnte man diese auch nur mit Einverständnis der Familien einbauen. Ob die Patient:innen mit Apps oder mit handschriftlichen Zetteln ihre Tragezeiten dokumentieren, ist egal. Wichtig ist, dass sie sich selbst bewusst machen, wie oft sie das Korsett tragen. Und natürlich hilft die Dokumentation auch uns bei der Kontrolle.
OT: Wie überprüfen Sie darüber hinaus die Passform und den Erfolg des Korsetts?
Jurkoweit: Zum einen überprüfen wir die Entwicklung klassisch über bildgebende Verfahren, also die Röntgenbilder vier bis sechs Wochen nach der Korsettabgabe, aber auch über Fotos, die wir regelmäßig selbst erstellen und sammeln. Was glauben Sie, wie es die jungen Menschen motiviert, wenn sie schwarz auf weiß ihre Erfolge sehen. Für unsere eigene Kontrolle haben wir bei Storch und Beller zudem verschiedene Checklisten erstellt, die Standards für die Vorgehensweise bei der Versorgung setzen und die jeder von uns Stück für Stück abarbeitet. Auch dadurch können wir die Versorgungsqualität hochhalten.
Aufgabe der Berufspolitik: Standards
OT: Apropos Standards. Gibt es die?
Jurkoweit: In der Physiotherapie gilt die in diesem Jahr 100 Jahre alt werdende Schroth-Therapie nach Katharina Schroth als Goldstandard. In der Orthopädie-Technik gibt es für den Bereich der Rumpforthetik keine klar definierten Standards. Das ist mein Hauptkritikpunkt an dem aktuell gelebten Versorgungsalltag. Wir brauchen dringend eine Expertengruppe nach dem Vorbild der Arm- und Beinprothetik, die Standards für die Rumpforthetik entwickelt und in die Ausbildung implementiert. Die Grundlagen dafür zu schaffen, sehe ich als Aufgabe unserer Berufspolitik.
OT: Fehlen wissenschaftliche Studien für die Standardentwicklung?
Jurkoweit: Keineswegs. Es gibt zahlreiche Studien auf dem Gebiet der konservativen Versorgung von Skoliose, allerdings sind viele Studien auf Englisch. Was uns fehlt, ist die Übersetzung erstens von der Wissenschaft zum Handwerk und zweitens vom Handwerk zu den Patient:innen. Dadurch kann nicht überall die bestmögliche Qualität geleistet werden, was wiederum Wasser auf die Mühlen der Kritiker ist. Wir brauchen die Übertragung des Wissens durch intensive Schulungen in der Aus- und Weiterbildung. Für eine Top-Performance benötigen Orthopädietechniker selbstverständlich zusätzlich zu den vermittelten Standards Erfahrung.
OT: Geben Sie Ihre Erfahrung und Ihr Wissen auch an Kolleg:innen weiter?
Jurkoweit: Ob zur OTWorld in Leipzig, an Meisterschulen oder mit Seminaren im In- und Ausland – ich versuche, mein Wissen zu teilen und vor allem mich mit anderen auszutauschen. Es gibt bereits ein inoffizielles Netzwerk zwischen der Ostsee und den Alpen von Rumpforthetikspezialist:innen, die sich sporadisch austauschen. Toll wäre es, wenn wir den Wissensaustausch zum Wohle aller institutionalisieren könnten.
Die Fragen stellte Ruth Justen.
Teil I, Teil II und Teil III des Freiburger Skoliose-Talks
- 2‑Schalen-Orthese mit Kondylenabstützung in Carbontechnik zur orthopädischen Schuhversorgung — 4. Oktober 2024
- Orthopädische Versorgung der neuromuskulären Skoliose: Vorteile von biomechanisch optimierten Rumpforthesen am Beispiel des „neuroBrace“-Systems — 4. Oktober 2024
- Rekonstruktion der ersten „Eisernen Hand“ des fränkischen Reichsritters Gottfried (Götz) von Berlichingen (1480 – 1562) — 4. Oktober 2024