Grund­zü­ge der moder­nen Vor­fuß­pro­the­tik unter Ein­satz von Silikon

J. Steil
In der Fußprothetik entscheidet die Konstruktion der prothetischen Versorgung häufig darüber, ob der Prothesenträger normales Schuhwerk tragen kann oder nicht. Anders als viele herkömmliche Versorgungstechniken sind Silikonversorgungen schuhunabhängig und können auch barfuß getragen werden. Dies erweitert die Einsetzbarkeit dieser Technik enorm – die Eigenschaften von Silikon sind durch kein anderes in der Orthopädie-Technik verwendetes Material zu ersetzen. Der Artikel zeigt Versorgungsmöglichkeiten mit Silikonprothesen bei Amputation einzelner Zehen oder des gesamten Vorfußes auf.

Ein­lei­tung

Auch heu­te noch wird häu­fig dar­über dis­ku­tiert, ob die pro­the­ti­sche Ver­sor­gung ein­zel­ner Zehen oder von Tei­len des Fußes eine ortho­pä­die­tech­ni­sche Inter­ven­ti­on recht­fer­tigt. Fra­gen nach den funk­tio­nel­len Vor­tei­len ste­hen dabei eben­so im Raum wie die Umsetz­bar­keit aus tech­ni­scher Sicht. Letzt­end­lich stellt sich die Fra­ge nach der medi­zi­ni­schen Not­wen­dig­keit und dem the­ra­peu­ti­schen Nut­zen, die­se Defek­te pro­the­tisch aus­zu­glei­chen. Dass der erwor­be­ne oder ange­bo­re­ne Defekt ein­zel­ner Zehen oder des kom­plet­ten Vor­fu­ßes eine deut­li­che Beein­träch­ti­gung dar­stellt, soll­te nicht län­ger Gegen­stand der fach­li­chen Dis­kus­si­on sein. Viel­mehr soll­te die Mach­bar­keit des Aus­glei­ches die­ser funk­tio­nel­len und kör­per­li­chen Behin­de­rung im Vor­der­grund ste­hen, denn schon ein klei­ner Defekt am Fuß kann zum Ver­lust der sta­ti­schen Unter­stüt­zungs­flä­che und dadurch zu einer erheb­li­chen funk­tio­nel­len Beein­träch­ti­gung füh­ren (Abb. 1). Die­ser Effekt ist bei der dyna­mi­schen Gang­bild­be­trach­tung noch deut­li­cher zu erken­nen: In den ver­schie­de­nen Gang­pha­sen kom­men auf­ein­an­der­fol­gend alle Berei­che des Fußes zum Ein­satz (Abb. 2). Ist ein Teil der Unter­stüt­zungs­flä­che nicht mehr vor­han­den, resul­tiert dar­aus eine Gangbildstörung.

Anzei­ge

His­to­ri­scher Rückblick

Die Not­wen­dig­keit, Zehen­de­fek­te durch Pro­the­sen zu erset­zen, ist kei­ne Erkennt­nis der neue­ren Zeit, son­dern reicht weit zurück. Bereits die alten Ägyp­ter ver­sorg­ten Groß­ze­hen­de­fek­te mit Pro­the­sen aus Holz und Leder oder auch Lei­nen und Gips. So wur­de die der­zeit ältes­te Pro­the­se der Welt im Grab einer ägyp­ti­schen Mumie gefun­den und auf das Jahr 950 v. Chr. datiert. Da die­se Pro­the­se deut­li­che Gebrauch­spu­ren auf­wies, wur­de von den Archäo­lo­gen ein ein­zig­ar­ti­ges Pro­jekt in Auf­trag gege­ben: Die Rekon­struk­ti­on der dama­li­gen Bau­art wur­de an heu­ti­gen Zehen­am­pu­tier­ten erprobt und mit moder­nen Metho­den der Gang­ana­ly­se bewer­tet. Fest­ge­stellt wur­de, dass es zu einer kla­ren Ver­bes­se­rung für die Betrof­fe­nen kam 1. Somit ist die Vor­fuß- und Zehen­pro­the­tik eine Dis­zi­plin, die sich seit fast 3000 Jah­ren kon­ti­nu­ier­lich wei­ter­ent­wi­ckelt hat.

Vor­tei­le einer Silikonversorgung

Die Grund­an­for­de­rung an eine Pro­the­sen­ver­sor­gung soll­te es sein, nach dem aktu­el­len Stand der Tech­nik zu ver­sor­gen. Die Funk­ti­on des Pro­the­sen­schaf­tes muss dem­zu­fol­ge einer­seits eine siche­re Ver­bin­dung zwi­schen Kör­per und Pro­the­se gewähr­leis­ten, ande­rer­seits soll sie so wenig wie mög­lich die phy­sio­lo­gi­sche Bewe­gung der vor­han­de­nen Rest-Extre­mi­tät einschränken.

In der Fuß­pro­the­tik ent­schei­det die Kon­struk­ti­on der pro­the­ti­schen Ver­sor­gung häu­fig dar­über, ob der Pro­the­sen­trä­ger nor­ma­les Schuh­werk tra­gen kann oder nicht. Anders als vie­le her­kömm­li­che Ver­sor­gungs­tech­ni­ken sind Sili­kon­ver­sor­gun­gen schuh­un­ab­hän­gig und kön­nen auch bar­fuß getra­gen wer­den. Das erwei­tert die Ein­setz­bar­keit die­ser Tech­nik enorm. Die Sili­kon­schaft­tech­nik ermög­licht zudem eine platz­spa­ren­de Bau­wei­se, wodurch in der Regel nor­ma­le Schu­he getra­gen wer­den kön­nen. Der Werk­stoff Sili­kon ist unemp­find­lich gegen all­täg­li­che Umwelt­ein­flüs­se wie Feuch­tig­keit, Licht und Tem­pe­ra­tur. Auf­grund sei­ner ther­mi­schen Sta­bi­li­tät lässt sich Sili­kon sogar aus­ko­chen. Dadurch ist ein hygie­nisch ein­wand­frei­er Zustand dau­er­haft gewähr­leis­tet, die ein­zig­ar­ti­gen Haft­rei­bungs­ei­gen­schaf­ten des Mate­ri­als ver­bes­sern im Gegen­satz zu her­kömm­li­chen Mate­ria­li­en die Stumpf­an­bin­dung um ein Viel­fa­ches. Somit kann der auf den Stumpf wir­ken­de Druck bes­ser ver­teilt wer­den, und die Kraft­ein­lei­tung in die Pro­the­se wird begüns­tigt. Sili­kon hat neben den oben genann­ten funk­tio­nel­len Vor­zü­gen noch einen wei­te­ren Vor­teil: Es lässt sich immer wie­der aufs Neue kos­me­ti­schen Anfor­de­run­gen anpassen.

Ampu­ta­ti­on einer ein­zel­nen Zehe

Bereits die Ampu­ta­ti­on einer ein­zel­nen Zehe (Abb. 3) kann schwer­wie­gen­de Fol­gen haben, da die benach­bar­ten Zehen nach kur­zer Zeit dazu nei­gen, die ent­stan­de­ne Lücke zu schlie­ßen. Die­se sekun­dä­ren Defor­mi­tä­ten (Abb. 4) kön­nen dau­er­haft zu Fehl­be­las­tun­gen und vor­zei­ti­gen Knor­pel­schä­den in den Gelen­ken füh­ren. Durch den pro­the­ti­schen Ersatz der Zehe kann die­ser Pro­zess auf­ge­hal­ten werden.

Das ers­te Bei­spiel zeigt den pro­the­ti­schen Ersatz nach einer trau­ma­ti­schen Ampu­ta­ti­on von D2 des lin­ken Fußes (Abb. 5). In die­sem Fall lässt sich die Pro­the­se durch eine Kom­bi­na­ti­on aus Vaku­um­schaft- und Lip­pen­kle­be­tech­nik (Abb. 6) sicher am Stumpf fixie­ren. Die­se Lip­pe dient als zusätz­li­che Haft­flä­che und wird mit­tels Epi­the­sen­kle­ber am Fuß befes­tigt. Bei dün­ner Bau­wei­se lässt sich hier­funk­tio­nell und ästhe­tisch das bes­te Ergeb­nis erreichen.

Groß­ze­hen­er­satz

Der Groß­ze­hen­er­satz (Abb. 7) nimmt in der Zehen­pro­the­tik eine zen­tra­le Rol­le ein. Die Groß­ze­he ist funk­tio­nell von beson­de­rer Bedeu­tung wäh­rend des Gang­zy­klus. Am Über­gang von der ter­mi­na­len Stand­pha­se zur Schwung­pha­se ist die Groß­ze­he das letz­te Glied, das Kon­takt mit dem Boden hat. Fehlt die Län­ge der Groß­ze­he und folg­lich deren Hebel­wir­kung in der Abstoß­pha­se, führt dies zu einem Ver­lust an Schritt­län­ge, Geh­ge­schwin­dig­keit und Gangsym­me­trie. Zur Kom­pen­sa­ti­on die­ser funk­tio­na­len Defi­zi­te ist meist eine Füh­rung des Mit­tel­fu­ßes not­wen­dig, wel­che die in die Pro­the­se ein­ge­lei­te­te Kraft güns­tig auf den Vor­fuß über­trägt. Die Rand­ver­läu­fe wer­den dünn aus­ge­ar­bei­tet und so gewählt, dass sie bei offe­nem Schuh­werk ver­deckt wer­den. So las­sen sich auch kos­me­tisch unauf­fäl­li­ge Ver­sor­gungs­er­geb­nis­se erzie­len (Abb. 8).

Ver­sor­gung bei kom­ple­xen Fehlbildungen

Das fol­gen­de Bei­spiel soll zei­gen, wel­che Vor­tei­le die Ver­sor­gungs­tech­nik mit Sili­kon­pro­the­sen gegen­über ande­ren gän­gi­gen Ver­fah­ren hat. Abbil­dung 9 zeigt einen kom­ple­xen ange­bo­ren Vor­fuß­de­fekt beid­sei­tig. Nach meh­re­ren Ope­ra­tio­nen war es die­sem Pati­en­ten, einem gläu­bi­gen Mus­lim, zwar mög­lich, in ortho­pä­di­schen Maß­schu­hen zu gehen, jedoch muss­te und woll­te er die Moschee wie ande­re Gläu­bi­ge auch bar­fuß betre­ten. Dies war für ihn ohne Schu­he kaum mög­lich. Die Ver­sor­gung mit Sili­kon­fuß­pro­the­sen hat dies ermög­licht und bie­tet ihm somit neben dem Tra­gen von kon­fek­tio­nier­tem Schuh­werk auch eine ver­bes­ser­te Teil­ha­be am gesell­schaft­li­chen Leben und in der Aus­übung sei­nes Glau­bens (Abb. 10).

Feh­len meh­re­rer oder aller Zehen

Die Ampu­ta­ti­on oder das Feh­len meh­re­rer oder aller Zehen (Abb. 11) kann durch eine Sil­kon­vor­fuß­pro­the­se gut kom­pen­siert wer­den. In die­sen Fäl­len wird der Stumpf meist bis unter die Mal­leo­len­ga­bel ein­ge­fasst, damit die dyna­mi­schen Kräf­te wäh­rend des Gehens mög­lichst groß­flä­chig auf­ge­nom­men wer­den kön­nen. Die hier­bei häu­fig auf­tre­ten­den mus­ku­lä­ren Dys­ba­lan­cen im Stumpf ver­ur­sa­chen oft Fehl­stel­lun­gen im unte­ren Sprung­ge­lenk. Auch hier las­sen sich Funk­tio­na­li­tät und Ästhe­tik gut in Ein­klang brin­gen (Abb. 12).

Umfang­rei­che Amputationen

Bei pro­xi­ma­le­ren Ampu­ta­tio­nen ist die Her­stel­lung von Vor­fuß­pro­the­sen in einer mas­si­ven HTV-Sili­kon-Bau­wei­se häu­fig schwie­rig. Das hohe spe­zi­fi­sche Gewicht von Sili­kon sowie der durch die Mate­ri­al­stär­ke beding­te Abroll­wi­der­stand füh­ren hier­bei zu Ein­bu­ßen in Funk­ti­on und Tra­ge­kom­fort, wes­halb ab einer Ampu­ta­ti­ons­hö­he nahe der Lisfranc’schen Gelenk­li­nie der Ein­bau eines gekap­sel­ten Sili­kon­schau­min­lets (Abb. 13) in die Pro­the­se not­wen­dig wird. Dies führt zum einen zu einer Gewichts­re­du­zie­rung von ca. 50 %, des Wei­te­ren lässt sich damit die Dyna­mik des Vor­fu­ßes opti­mie­ren. Die im Bild blau abge­setz­te Regi­on im Schaft­be­reich zeigt eine hoch­sho­ri­ge Zone des Schaf­tes, die dem Stumpf zusätz­li­chen Halt verleiht.

Der medi­zi­ni­sche Fort­schritt stellt Ortho­pä­die-Tech­ni­ker vor neue Her­aus­for­de­run­gen. So wird im letz­ten Bei­spiel eine trau­ma­ti­sche Ampu­ta­ti­on (Abb. 14) vor­ge­stellt, die an der fron­ta­len Stumpf­flä­che einen Bereich zeigt, der nur über eine mini­ma­le Spalt­haut­de­ckung ver­fügt. Die­ser Bereich ist in sei­ner Sen­si­bi­li­tät deut­lich redu­ziert und knö­chern ver­wach­sen. In sol­chen Fäl­len muss bei der Schaft­ge­stal­tung dar­auf geach­tet wer­den, die Rei­bung zwi­schen Stumpf und Pro­the­se so gering wie mög­lich zu hal­ten. Zusätz­lich wur­de des­halb zum Dyna­mik­pols­ter ein inte­grier­tes Gel­are­al im ent­spre­chen­den Schaft­be­reich ein­ge­bracht. Die Ober­flä­chen­rei­bung des Sili­kons erlaubt es, die Pro­the­se sicher an den Kör­per anzu­bin­den, sodass die Beweg­lich­keit des obe­ren Sprung­ge­len­kes nicht tan­giert wird (Abb. 15).

Fazit

In der moder­nen Vor­fuß­pro­the­tik hat der Werk­stoff Sili­kon gera­de in funk­tio­nel­ler Hin­sicht ganz neue Mög­lich­kei­ten eröff­net. Die Vor­tei­le über­wie­gen klar gegen­über den Nach­tei­len. Lei­der ist die­se Tech­nik im ortho­pä­die­tech­ni­schen Ver­sor­gungs­all­tag noch immer zu wenig verbreitet.

Die Mul­ti­funk­tio­na­li­tät von Sili­kon­pro­the­sen ver­mag es, die Teil­ha­be der Betrof­fe­nen am all­täg­li­chen Leben deut­lich zu ver­bes­sern. Eine Gren­ze zwi­schen funk­tio­nel­ler und ästhe­ti­scher Ver­sor­gung ist hier nicht mehr klar zu defi­nie­ren. Die Dis­kus­si­on über die Not­wen­dig­keit einer adäqua­ten Gestal­tung von Zehen und Fuß­for­men soll­te daher der Ver­gan­gen­heit ange­hö­ren – der mensch­li­che Fuß wur­de von der Evo­lu­ti­on als logi­sche Kon­se­quenz sei­ner Bean­spru­chung geformt. Inso­fern soll­te man bei der Her­stel­lung von Kör­per­er­satz­stü­cken ver­su­chen, dem natür­li­chen Vor­bild so nahe als mög­lich zu kom­men. Das Bestre­ben, die­se ein­fa­chen Grund­sät­ze zu ver­fol­gen, war bereits das Ziel der Urvä­ter der Ortho­pä­die-Tech­nik vor fast 3000 Jah­ren – mit ihren dama­li­gen Mitteln.

Der Autor:
Jochen Steil
Ortho­pä­die-Tech­ni­ker-Meis­ter
Bril­lin­ger Tübingen
Bereichs­lei­ter Arm- und Silikontechnik
Hand­wer­ker­park 25
72070 Tübin­gen
Jochen.Steil@brillinger.de

Begut­ach­te­ter Beitrag/reviewed paper

Zita­ti­on
Steil J. Grund­zü­ge der moder­nen Vor­fuß­pro­the­tik unter Ein­satz von Sili­kon. Ortho­pä­die Tech­nik, 2014; 65 (11): 42–45
  1. Finch JL, Heath GH, David AR, Kul­ka­mi J. Bio­me­cha­ni­cal Assess­ment of Two Arti­fi­ci­al Big Toe Res­to­ra­ti­ons From Anci­ent Egypt and Their Signi­fi­can­ce to the Histo­ry of Pro­sthe­tics. Jour­nal of Pro­sthe­tics and Ortho­tics, 2012; 24 (4): 181–191, DOI: 10.1097/JPO.0b013e31826f4652
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