„Schein-Sta­bi­li­sie­rung?” Kri­tik an GKV-Finanzreform

Keine Leistungskürzungen im Gesundheitswesen hat Bundesgesundheitsminister Prof. Karl Lauterbach versprochen. Am 27. Juli 2022 hat das Bundeskabinett den Entwurf aus seinem Haus für ein GKV-Finanzstabilisierungsgesetz beschlossen. Bereits der Referentenentwurf sorgte für viel Kritik, Leistungskürzungen werden befürchtet.

Die Ärz­te­schaft rebel­liert, die Phar­ma­in­dus­trie ist empört und die Kran­ken­kas­sen sind unzu­frie­den – das galt schon für den Refe­ren­ten­ent­wurf eines „Geset­zes zur finan­zi­el­len Sta­bi­li­sie­rung der gesetz­li­chen Kran­ken­ver­si­che­rung“ (GKV) vom 30. Juni 2022. Da die jetzt vom Kabi­nett beschlos­se­ne Ent­wurfs­fas­sung die­ses GKV-Finanz­sta­bi­li­sie­rungs­ge­set­zes dem­ge­gen­über kaum wesent­li­che Ände­run­gen zu ver­zeich­nen hat, wird wohl auch die Kri­tik nicht abeb­ben. Mit dem nun vor­lie­gen­den Gesetz­ent­wurf will die Bun­des­re­gie­rung ein 17-Mil­li­ar­den-Loch stop­fen und die Finan­zen der GKV für 2023 sta­bi­li­sie­ren – unter ande­rem durch einen Zuschuss von zwei Mil­li­ar­den Euro, ein Bun­des­dar­le­hen von einer Mil­li­ar­de und die Erhö­hung des Zusatz­bei­trags um vor­aus­sicht­lich 0,3 Pro­zent­punk­te. Rund vier Mil­li­ar­den Euro sol­len aus den Finanz­re­ser­ven der Kas­sen her­an­ge­zo­gen wer­den und 2,4 Mil­li­ar­den aus dem Gesund­heits­fonds. „Ins­ge­samt ist unser Ziel, dass die gesetz­li­che Kran­ken­ver­si­che­rung erst­klas­sig bleibt. Ohne Abstri­che in der Ver­sor­gung. Und Leis­tungs­kür­zun­gen für Ver­si­cher­te blei­ben aus­ge­schlos­sen“, wie Bun­des­ge­sund­heits­mi­nis­ter Lau­ter­bach erklär­te. Nun soll der Ent­wurf, den das Bun­des­ka­bi­nett beschlos­sen hat, ins par­la­men­ta­ri­sche Ver­fah­ren ein­ge­bracht werden.

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„Schlag ins Gesicht“

Für Auf­re­gung bei der Ärz­te­schaft sorg­te, dass die mit dem Ter­min­ser­vice- und Ver­sor­gungs­ge­setz (TSVG) 2019 geschaf­fe­ne höhe­re – „extrabud­ge­tä­re“ – Ver­gü­tung für die Auf­nah­me neu­er Patient:innen gestri­chen wer­den soll. Dabei ist es auch in der aktu­el­len, im Kabi­nett ver­ab­schie­de­ten Ent­wurfs­fas­sung geblie­ben. „Die­ses Gesetz ist ein Schlag ins Gesicht der Pati­en­tin­nen und Pati­en­ten in Deutsch­land“, kom­men­tier­te Dr. Andre­as Gas­sen, Vor­stands­vor­sit­zen­der der Kas­sen­ärzt­li­chen Bun­des­ver­ei­ni­gung (KBV), den Gesetz­ent­wurf in einer ers­ten Reak­ti­on. „Die Mas­ke ist gefal­len. Karl Lau­ter­bach will die Ver­sor­gung der Bür­ger ein­schrän­ken“, so Gas­sen. Die KBV, die Kas­sen­ärzt­li­chen Ver­ei­ni­gun­gen sowie 57 Berufs­ver­bän­de hat­ten sich in einer Reso­lu­ti­on gegen den Weg­fall der Neu­pa­ti­en­ten­re­ge­lung posi­tio­niert, die zu län­ge­ren War­te­zei­ten auf Ter­mi­ne füh­ren kön­ne. Sau­er ist genau­so die phar­ma­zeu­ti­sche Indus­trie, die zur Kas­se gebe­ten wird. Auch wenn der noch im Refe­ren­ten­ent­wurf ent­hal­te­ne Begriff „Soli­da­ri­täts­ab­ga­be“ im nun vom Kabi­nett beschlos­se­nen Text ver­schwun­den ist, soll trotz­dem an der Aus­ga­ben­schrau­be für Arz­nei­mit­tel gedreht wer­den – mit Milliardenspareffekt.

Ukrai­ne-Kri­se nicht „ein­ge­preist“

Schon vom Refe­ren­ten­ent­wurf zeig­te sich Prof. Dr. Jörg Loth, Vor­stand der IKK Süd­west, ent­täuscht und äußer­te in dem Zusam­men­hang Ende Juni: „Die jetzt beschlos­se­nen Maß­nah­men las­sen vie­le Erwar­tun­gen offen und sind ent­täu­schend.“ Der Gesund­heits­mi­nis­ter erwe­cke „den Ein­druck einer Schein-Sta­bi­li­sie­rung“, die „durch den Rück­griff in die Reser­ven und durch höhe­re Zusatz­bei­trä­ge lei­der auf den Schul­tern von Ver­si­cher­ten und den Betrie­ben sowie der Wirt­schaft aus­ge­tra­gen wird“. Das für 2023 pro­gnos­ti­zier­te Finanz­de­fi­zit der GKV von rund 17 Mil­li­ar­den Euro kön­ne dadurch bei Wei­tem nicht aus­ge­gli­chen wer­den. „Auch bleibt die Fra­ge offen, wie die finan­zi­el­len Aus­wir­kun­gen der Coro­na-Pan­de­mie und der Ukrai­ne-Kri­se ein­ge­preist wer­den, die mit Sicher­heit auf die ver­schie­de­nen Leis­tungs­be­rei­che der gesetz­li­chen Kran­ken­kas­sen zukom­men“, so Loth.

„GKV wei­ter destabilisieren“

Har­sche Kri­tik am Kabi­netts­be­schluss zum Ent­wurf des GKV-Finanz­sta­bi­li­sie­rungs­ge­set­zes kommt aus dem AOK-Bun­des­ver­band: „Die­ses Gesetz ent­hält kei­ner­lei Maß­nah­men für eine kurz- oder lang­fris­ti­ge Sta­bi­li­sie­rung der GKV-Finan­zen. Bei­trä­ge wer­den hoch­ge­schraubt, Rück­la­gen ein­ge­zo­gen und Schul­den gemacht“, so AOK-Vor­stands­vi­ze Jens Mar­tin Hoyer. „Mar­gi­na­le Ände­run­gen“ im Ver­gleich zum Refe­ren­ten­ent­wurf wür­den dar­an nichts ändern. Hoyer: „Die­se kos­me­ti­schen Anpas­sun­gen ver­stär­ken den Ein­druck, dass das Ziel einer nach­hal­ti­gen Finan­zie­rung der GKV weit ver­fehlt wird. Es han­delt sich um ein kurz­at­mi­ges Ein­jah­res-Gesetz.“ Damit wer­de kein struk­tu­rel­les Pro­blem gelöst. Hoyer ver­weist unter ande­rem auf das Feh­len kos­ten­de­cken­der Pau­scha­len für die Gesund­heits­ver­sor­gung von ALG-II-Bezie­hen­den. Zudem heißt es in der ent­spre­chen­den Pres­se­mit­tei­lung des AOK-Bun­des­ver­ban­des vom 27. Juli: „Ins­ge­samt bräuch­te es eine ech­te Null­run­de bei allen Leis­tungs­er­brin­gen­den.“ Im Fazit wird dar­ge­legt: Die „AOK-Gemein­schaft hält das Maß­nah­men­pa­ket ins­ge­samt für voll­kom­men unge­eig­net, die kurz- und mit­tel­fris­ti­gen Finanz­pro­ble­me der GKV zu lösen”. Und wei­ter wird fest­ge­stellt: Zwar wer­de auf Leis­tungs­kür­zun­gen und höhe­re Eigen­be­tei­li­gun­gen ver­zich­tet. Die Haupt­last aber lie­ge bei den Bei­trags­zah­len­den. Hoyer: „Die­ser Geset­zes­ent­wurf wird nicht weit tra­gen und die GKV wei­ter destabilisieren.“

Aus­wir­kun­gen auf die Hilfsmittelbranche?

Wird das Finanz­de­fi­zit bei den Kran­ken­kas­sen eine qua­li­täts­ge­si­cher­te Hilfs­mit­tel­ver­sor­gung schwie­ri­ger machen? Muss sich die Bran­che ver­stärkt gegen Dum­ping­prei­se und Leis­tungs­kür­zun­gen weh­ren? „Aus­ge­schlos­sen ist das nicht – wie auch die erst Anfang 2022 vom Bun­des­amt für Sozia­le Siche­rung (BAS) aus dem Ver­kehr gezo­ge­ne E‑Versorgung mit Ein­le­ge­soh­len von Bar­mer in Koope­ra­ti­on mit Meevo/Craftsoles gezeigt hat – ein Ver­such, unter dem Deck­man­tel der Digi­ta­li­sie­rung Ver­sor­gungs­stan­dards abzu­sen­ken“, sag­te Kirs­ten Abel, Gene­ral­se­kre­tä­rin des Leis­tungs­er­brin­ger­bünd­nis­ses „Wir ver­sor­gen Deutsch­land e. V.“ (WvD), der OT.

Umsatz­steu­er als Kostenhebel?

Nach Auf­fas­sung von WvD kön­ne nicht zuletzt eine Ver­ein­heit­li­chung der Umsatz­steu­er­sät­ze für Hilfs­mit­tel auf sie­ben Pro­zent die GKV ent­las­ten und spür­bar Büro­kra­tie abbau­en. Bereits im April hat­te das Bünd­nis dies gefor­dert. Bis­her sehen die Eck­punk­te für das GKV-Finanz­sta­bi­li­sie­rungs­ge­setz eine sol­che Mög­lich­keit aber nicht vor. Die Mehr­wert­steu­er als Hebel für finan­zi­el­le Ent­las­tun­gen der Kran­ken­kas­sen hat nicht nur WvD in den Blick genom­men. So for­dert zum Bei­spiel AOK-Vor­stands­vi­ze Hoyer eine Absen­kung der Mehr­wert­steu­er auf Arz­nei­mit­tel: „Es ist nicht nach­voll­zieh­bar, wie­so die Soli­dar­ge­mein­schaft nach wie vor den vol­len Mehr­wert­steu­er­satz von 19 Pro­zent auf Human­arz­nei­mit­tel ent­rich­ten muss, wäh­rend bei­spiels­wei­se für Tier­arz­nei­mit­tel der redu­zier­te Mehr­wert­steu­er­satz von sie­ben Pro­zent gilt.“ Die Bun­des­ver­ei­ni­gung der Deut­schen Arbeit­ge­ber­ver­bän­de (BDA) bezif­fer­te die Effek­te einer Absen­kung der Mehr­wert­steu­er auf sie­ben Pro­zent für alle Kran­ken­ver­si­che­rungs­leis­tun­gen mit bis­lang vol­lem Mehr­wert­steu­er­satz in einer Stel­lung­nah­me auf ca. 4,7 Mil­li­ar­den Euro bei Arz­nei­mit­teln und ca. 0,6 Mil­li­ar­den bei Hilfsmitteln.

Cath­rin Günzel

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