Die Ärzteschaft rebelliert, die Pharmaindustrie ist empört und die Krankenkassen sind unzufrieden – das galt schon für den Referentenentwurf eines „Gesetzes zur finanziellen Stabilisierung der gesetzlichen Krankenversicherung“ (GKV) vom 30. Juni 2022. Da die jetzt vom Kabinett beschlossene Entwurfsfassung dieses GKV-Finanzstabilisierungsgesetzes demgegenüber kaum wesentliche Änderungen zu verzeichnen hat, wird wohl auch die Kritik nicht abebben. Mit dem nun vorliegenden Gesetzentwurf will die Bundesregierung ein 17-Milliarden-Loch stopfen und die Finanzen der GKV für 2023 stabilisieren – unter anderem durch einen Zuschuss von zwei Milliarden Euro, ein Bundesdarlehen von einer Milliarde und die Erhöhung des Zusatzbeitrags um voraussichtlich 0,3 Prozentpunkte. Rund vier Milliarden Euro sollen aus den Finanzreserven der Kassen herangezogen werden und 2,4 Milliarden aus dem Gesundheitsfonds. „Insgesamt ist unser Ziel, dass die gesetzliche Krankenversicherung erstklassig bleibt. Ohne Abstriche in der Versorgung. Und Leistungskürzungen für Versicherte bleiben ausgeschlossen“, wie Bundesgesundheitsminister Lauterbach erklärte. Nun soll der Entwurf, den das Bundeskabinett beschlossen hat, ins parlamentarische Verfahren eingebracht werden.
„Schlag ins Gesicht“
Für Aufregung bei der Ärzteschaft sorgte, dass die mit dem Terminservice- und Versorgungsgesetz (TSVG) 2019 geschaffene höhere – „extrabudgetäre“ – Vergütung für die Aufnahme neuer Patient:innen gestrichen werden soll. Dabei ist es auch in der aktuellen, im Kabinett verabschiedeten Entwurfsfassung geblieben. „Dieses Gesetz ist ein Schlag ins Gesicht der Patientinnen und Patienten in Deutschland“, kommentierte Dr. Andreas Gassen, Vorstandsvorsitzender der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), den Gesetzentwurf in einer ersten Reaktion. „Die Maske ist gefallen. Karl Lauterbach will die Versorgung der Bürger einschränken“, so Gassen. Die KBV, die Kassenärztlichen Vereinigungen sowie 57 Berufsverbände hatten sich in einer Resolution gegen den Wegfall der Neupatientenregelung positioniert, die zu längeren Wartezeiten auf Termine führen könne. Sauer ist genauso die pharmazeutische Industrie, die zur Kasse gebeten wird. Auch wenn der noch im Referentenentwurf enthaltene Begriff „Solidaritätsabgabe“ im nun vom Kabinett beschlossenen Text verschwunden ist, soll trotzdem an der Ausgabenschraube für Arzneimittel gedreht werden – mit Milliardenspareffekt.
Ukraine-Krise nicht „eingepreist“
Schon vom Referentenentwurf zeigte sich Prof. Dr. Jörg Loth, Vorstand der IKK Südwest, enttäuscht und äußerte in dem Zusammenhang Ende Juni: „Die jetzt beschlossenen Maßnahmen lassen viele Erwartungen offen und sind enttäuschend.“ Der Gesundheitsminister erwecke „den Eindruck einer Schein-Stabilisierung“, die „durch den Rückgriff in die Reserven und durch höhere Zusatzbeiträge leider auf den Schultern von Versicherten und den Betrieben sowie der Wirtschaft ausgetragen wird“. Das für 2023 prognostizierte Finanzdefizit der GKV von rund 17 Milliarden Euro könne dadurch bei Weitem nicht ausgeglichen werden. „Auch bleibt die Frage offen, wie die finanziellen Auswirkungen der Corona-Pandemie und der Ukraine-Krise eingepreist werden, die mit Sicherheit auf die verschiedenen Leistungsbereiche der gesetzlichen Krankenkassen zukommen“, so Loth.
„GKV weiter destabilisieren“
Harsche Kritik am Kabinettsbeschluss zum Entwurf des GKV-Finanzstabilisierungsgesetzes kommt aus dem AOK-Bundesverband: „Dieses Gesetz enthält keinerlei Maßnahmen für eine kurz- oder langfristige Stabilisierung der GKV-Finanzen. Beiträge werden hochgeschraubt, Rücklagen eingezogen und Schulden gemacht“, so AOK-Vorstandsvize Jens Martin Hoyer. „Marginale Änderungen“ im Vergleich zum Referentenentwurf würden daran nichts ändern. Hoyer: „Diese kosmetischen Anpassungen verstärken den Eindruck, dass das Ziel einer nachhaltigen Finanzierung der GKV weit verfehlt wird. Es handelt sich um ein kurzatmiges Einjahres-Gesetz.“ Damit werde kein strukturelles Problem gelöst. Hoyer verweist unter anderem auf das Fehlen kostendeckender Pauschalen für die Gesundheitsversorgung von ALG-II-Beziehenden. Zudem heißt es in der entsprechenden Pressemitteilung des AOK-Bundesverbandes vom 27. Juli: „Insgesamt bräuchte es eine echte Nullrunde bei allen Leistungserbringenden.“ Im Fazit wird dargelegt: Die „AOK-Gemeinschaft hält das Maßnahmenpaket insgesamt für vollkommen ungeeignet, die kurz- und mittelfristigen Finanzprobleme der GKV zu lösen”. Und weiter wird festgestellt: Zwar werde auf Leistungskürzungen und höhere Eigenbeteiligungen verzichtet. Die Hauptlast aber liege bei den Beitragszahlenden. Hoyer: „Dieser Gesetzesentwurf wird nicht weit tragen und die GKV weiter destabilisieren.“
Auswirkungen auf die Hilfsmittelbranche?
Wird das Finanzdefizit bei den Krankenkassen eine qualitätsgesicherte Hilfsmittelversorgung schwieriger machen? Muss sich die Branche verstärkt gegen Dumpingpreise und Leistungskürzungen wehren? „Ausgeschlossen ist das nicht – wie auch die erst Anfang 2022 vom Bundesamt für Soziale Sicherung (BAS) aus dem Verkehr gezogene E‑Versorgung mit Einlegesohlen von Barmer in Kooperation mit Meevo/Craftsoles gezeigt hat – ein Versuch, unter dem Deckmantel der Digitalisierung Versorgungsstandards abzusenken“, sagte Kirsten Abel, Generalsekretärin des Leistungserbringerbündnisses „Wir versorgen Deutschland e. V.“ (WvD), der OT.
Umsatzsteuer als Kostenhebel?
Nach Auffassung von WvD könne nicht zuletzt eine Vereinheitlichung der Umsatzsteuersätze für Hilfsmittel auf sieben Prozent die GKV entlasten und spürbar Bürokratie abbauen. Bereits im April hatte das Bündnis dies gefordert. Bisher sehen die Eckpunkte für das GKV-Finanzstabilisierungsgesetz eine solche Möglichkeit aber nicht vor. Die Mehrwertsteuer als Hebel für finanzielle Entlastungen der Krankenkassen hat nicht nur WvD in den Blick genommen. So fordert zum Beispiel AOK-Vorstandsvize Hoyer eine Absenkung der Mehrwertsteuer auf Arzneimittel: „Es ist nicht nachvollziehbar, wieso die Solidargemeinschaft nach wie vor den vollen Mehrwertsteuersatz von 19 Prozent auf Humanarzneimittel entrichten muss, während beispielsweise für Tierarzneimittel der reduzierte Mehrwertsteuersatz von sieben Prozent gilt.“ Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) bezifferte die Effekte einer Absenkung der Mehrwertsteuer auf sieben Prozent für alle Krankenversicherungsleistungen mit bislang vollem Mehrwertsteuersatz in einer Stellungnahme auf ca. 4,7 Milliarden Euro bei Arzneimitteln und ca. 0,6 Milliarden bei Hilfsmitteln.
Cathrin Günzel
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