In Deutschland blickt man auf eine lange Geschichte der Herstellung individueller, maßangefertigter orthopädischer Hilfsmittel zurück, die weltweit Anerkennung genießt. Deutsche Korsettbauer haben aber seit jeher auch die Publikation internationaler Versorgungskonzepte wie Milwaukee‑, Stagnara‑, Wilmington‑, Boston‑, Charleston-Bending- oder Chêneau-Techniken aufmerksam beobachtet und diese Ideen in ihrem eigenen Versorgungsalltag umgesetzt. Allerdings modifizierten sie häufig das Design und/oder die biomechanischen Charakteristika, i. d. R. in Zusammenarbeit mit engagierten Wirbelsäulenchirurgen. So war beispielsweise das in den späten 1970er Jahren entwickelte, nach individuellem Gipsabdruck zu fertigende Cuxhaven-Korsett eine Weiterentwicklung des Boston Brace, um auch die Behandlung thorakaler Krümmungen mit Scheitelwirbel cranial Th 10 mit diesem Korsett-Typ zu ermöglichen 1. Das 1982 vorgestellte Chêneau-Boston-Wiesbaden-Korsett (CBW) vereinigte die Merkmale der Chêneau- und der Boston-Technik 2. Die Entwicklung der Night-Time-Korsette wurde wahrscheinlich durch das Charleston-Bending-Brace inspiriert, aber deutsche Orthopädie-Techniker legten bei der Umsetzung mehr Wert auf die dreidimensionale Korrektur der idiopathischen Skoliose 3 und bevorzugten die Herstellung mittels individuellen Gipsabdrucks gegenüber der Servicefertigung.
Zurzeit tragen in Deutschland ca. 1900 orthopädietechnische Betriebe zur Versorgung mit Hilfsmitteln wie Prothesen und Orthesen bei. Obwohl Rumpforthetik zu den Ausbildungsinhalten der Orthopädie-Techniker gehört, scheint die Versorgung der idiopathischen Skoliose im Wachstumsalter in den meisten Werkstätten deutlich untergeordnet zu sein bzw. gar nicht durchgeführt zu werden. Auf der anderen Seite gibt es einige hochspezialisierte Werkstätten, deren Skolioseversorgungen weithin anerkannt und erfolgreich sind. Für die diesem Artikel zugrunde liegende Studie wurden Informationen zur derzeit vorherrschenden Korsett-Technik in Deutschland gesammelt und dabei sowohl die spezialisierten Zentren als auch die Werkstätten berücksichtigt, in denen der Korsettbau nur eine Abteilung unter den vielen anderen Fachabteilungen der individuellen orthopädietechnischen Versorgung darstellt.
Methode
Zunächst wurde eine Literatursuche in den Datenbanken PubMed und Scoliosis Journal sowie in deutschen Fachzeitschriften mit folgenden Suchbegriffen (englisch und deutsch) durchgeführt: “Idiopathische Skoliose UND Korsett”. Die Suche wurde eingegrenzt auf Beiträge aus Deutschland, die nicht älter als fünf Jahre sind. Ein informeller Fragebogen wurde an solche orthopädietechnischen Betriebe geschickt, von denen der Autorin bekannt war, dass sie an der Korsettversorgung von Skoliosepatienten beteiligt sind. Die Fragen zielten auf den verwendeten Korsett-Typ, die Klassifizierung und die Herstellungsart. Des Weiteren sollten Angaben zur interdisziplinären Zusammenarbeit gemacht und die häufigsten Gründe bzw. Probleme benannt werden, die die Akzeptanz des Korsetts erschweren. Dabei waren mehrere Einträge möglich.
Ergebnisse der Literaturrecherche
Bei der Literatursuche wurden 365 Veröffentlichungen in den genannten Datenbanken ermittelt, davon blieben nach der Eingrenzung auf die letzten fünf Jahre 134 übrig, bezogen auf Autoren aus Deutschland gab es nur 18 Treffer. Davon wiederum beschrieben nur 9 Artikel die angewendete Korsett-Technik bei idiopathischer Skoliose, und in nur drei Arbeiten wurden längerfristige Ergebnisse der Behandlung veröffentlicht 3 4 5. Die Verwendung von Korsetten des Chêneau-Typs war vorherrschend. Im Grundsatz wurden diese Chêneau-Derivate als derotierende, asymmetrische, rigide Korsette mit vorderer Öffnung beschrieben. Zur dreidimensionalen Korrektur werden Drei-Punkt-Systeme und Kräftepaare als passive Mechanismen angeordnet und mit ausgewählten Freiräumen kombiniert, die die aktiven Mechanismen wie Atmung und Wachstum gerichtet zulassen.
Postulierte Ziele der Korsettbehandlung waren nicht nur die bloße Verhinderung der Progression, sondern auch die Verbesserung von Seitabweichung, Rotation und Balance und der kosmetischen Aspekte der Rumpfform, ebenso die Verringerung bzw. Verhinderung eines Flachrückens. Die Spiegelung des Krümmungsmusters und die Verschiebung der Rumpfblöcke gegeneinander wurden als unabdingbar zur Erreichung dieser Ziele beschrieben 4 5 6 7 8 9 10 11 12. Kontrovers wurde die Forderung nach einer Primärkorrektur von 30 bis 50 % diskutiert, da patientenund krümmungsabhängige Parameter limitierende Faktoren darstellen können 8 12. Veröffentlichungen über die Zentralfertigung von Skoliosekorsetten betonten zusätzlich die Wichtigkeit der Verbesserung der Versorgungsqualität durch die Verwendung von CAD-CAM-Technik mit einer digitalisierten Modellbibliothek 6 12.
Ergebnisse der Umfrage
Insgesamt wurden 65 Fragebogen persönlich oder per E‑Mail innerhalb Deutschlands verteilt, von denen 44 (68 %) zur Auswertung zurückgesendet wurden. Darin wurde unter anderem nach dem in der Werkstatt üblichen Korsett-Typ, der Klassifikation und der Modelltechnik gefragt (Abb. 1). Da Mehrfachnennungen möglich waren, wurde schnell ersichtlich, dass einige Werkstätten unterschiedliche Korsettbehandlungen in Abhängigkeit von den individuellen Bedürfnissen der Patienten anwenden. Das klassische Chêneau-Korsett wurde von 43 % als bevorzugtes Korsett benannt, während 61 % ihr Korsett als “Chêneau-Typ” beschrieben. Wenn näher spezifiziert, handelte es sich dabei um eigene Interpretationen und Bauweisen (n = 7), die Bauweise nach Rigo (n = 5), die Münster-Skoliose-Orthese – MSO (n = 2), Orthesen nach Rigo System Chêneau – RSC® (n = 2), die Dresdner Skolioseorthese (DSO) und die REO-Orthese (Regnier Orthopädie) (jeweils n = 1). Der zusätzliche, aber auch der ausschließliche Gebrauch von Nacht-Korsetten wurde von 18 % der Befragten angegeben. Des Weiteren wurden Chêneau-Boston-Wiesbaden-Korsette (CBW) sowie Boston- und Wilmington-Korsette genannt (Abb. 2).
Das Krümmungsmuster klassifizieren 40 % der Befragten ausschließlich als 3-/4‑bogig, 23 % nach Rigo 13 und jeweils 2 % nach King bzw. individuell nach eigener Einteilung. Verschiedenste Kombinationen der vorgenannten Klassifikationen miteinander, aber auch mit Lenke wurden angegeben (Abb. 3).
Der Gipsabdruck wurde von 74 % der Befragten als Mittel zur Modellerstellung angegeben, während 26 % Scanner- und CAD-CAM-Verfahren in der eigenen Werkstatt nutzen. Eine Servicefertigung unter Angabe von Maßen und/oder Scans wurde von 9 % genannt.
Die Hälfte der Befragten gab an, mehr als 50 Versorgungen pro Jahr vorzunehmen, 6 davon sprachen von mehr als 250 Korsetten pro Jahr. Dabei ist der Gipsabdruck mit nachfolgender manueller Modelltechnik vorherrschend in solchen Werkstätten, die weniger als 50 Korsette pro Jahr fertigen. Nur zwei von diesen 24 Betrieben nutzen eine Servicefertigung. Sechs Betriebe, deren Stückzahlen deutlich mehr als 100, nämlich bis zu 350 betragen, gaben an, weiterhin mit Gipsabdruck zu arbeiten, davon nutzen zwei Betriebe zusätzlich ein eigenes CAD-CAM-System. Einrichtungen, die über ein betriebseigenes CAD-CAM-System mit eigener digitaler Modellbibliothek verfügen und Servicefertigung anbieten, machten den Hauptanteil der Versorgungen in Deutschland aus (bis zu 1700 Korsette pro Jahr). Der Zusammenhang zwischen Versorgungszahl und Modelltechnik wird in Abbildung 4 sichtbar.
Von einer regelmäßigen Zusammenarbeit in einem skoliosespezifischen interdisziplinären Team berichtet nur knapp die Hälfte der Befragten, während 30 % meist und 7 % die Versorgungen immer alleine durchführen.
Bei der Frage nach der begleitenden Physiotherapie wurde von 86 % die Schroth-Therapie genannt, des Weiteren Vojta (40 %) und unspezifische Physiotherapie (36 %). Die ambulante Therapie (86 %) überwiegt gegenüber der stationären Rehabilitation. Eine verordnete Tragezeit von 23 Stunden gaben 86 % an, je nach individueller Patientensituation wurde von zusätzlicher bzw. ausschließlicher Nachtversorgung (25 %) berichtet, einen ähnlichen Anteil nimmt die Einschränkung der Tragezeit auf 12 bis 16 Stunden ein.
Probleme mit der Akzeptanz des Korsetts bei den Patienten selbst, deren Eltern und/oder Ärzten sahen 55 % der Befragten durch den korsettinduzierten Schulterhochstand und 38 % durch große Freiräume hervorgerufen, während Asymmetrie der Haltung im Korsett nur von 16 % als kritisch betrachtet wird. Ein Drittel der Befragten berichtete, gar keine Probleme mit der Akzeptanz ihrer Korsette zu haben (Abb. 5).
Diskussion
Die aktuelle Literaturlage zur KorsettTechnik in Deutschland ist schwach. Wissenschaftliche Studien über Langzeitergebnisse oder gar konkrete biomechanische Konstruktionsprinzipien sind rar. Die per Literaturrecherche ermittelten Arbeiten 3 4 5 beschreiben Korsett-Typen, die von der mittels Fragebogen interviewten Gruppe gar nicht oder nur vereinzelt genutzt werden.
Mit dem Fragebogen wurden 44 von 1900 orthopädietechnischen Werkstätten erreicht, die insgesamt ca. 5500 Korsettversorgungen pro Jahr bei idiopathischer Skoliose durchführen. Nach dieser Erhebung scheint die Skoliosetherapie in Deutschland momentan vorherrschend in der Versorgung mit Korsetten nach Chêneau, kombiniert mit Schroth-Therapie, zu bestehen, allerdings ist die Herangehensweise sehr variabel. Der Großteil der Befragten nutzt eine korsettbezogene Klassifikation wie die Einteilung nach Chêneau in drei- und vierbogige Krümmungen und deren Weiterentwicklung nach Dr. Rigo. Aber auch die in der Wirbelsäulenchirurgie gebräuchlichen Einteilungen nach King und Lenke kommen zur Anwendung, häufig in Ergänzung zu den Vorgenannten. Es ist anzunehmen, dass dies der besseren Kommunikation mit den verordnenden Ärzten geschuldet ist.
Die konventionelle Modelltechnik nach Gipsabdruck wird bei der Hälfte der befragten Werkstätten bevorzugt, auch bei solchen, die weniger als zehn Korsette im Jahr fertigen. Hier muss man sich allerdings grundsätzlich fragen, ob Erfahrung und Routine für eine verantwortungsvolle Versorgung ausreichen. Andererseits nutzen nur zwei Betriebe von denen, die bis zu 350 Korsette (n = 6) im Jahr bauen, ein eigenes CAD-CAM-System zusätzlich zur Gipstechnik. Es lässt sich vermuten, dass die Expertise, gewonnen aus dem klassischen Verfahren, in das digitale System überführt werden wird. Letztendlich aber fertigen 25 % der befragten Gruppe mittels CAD-CAM-Technik ca. drei Viertel der 5500 Korsette.
Die Zusammenarbeit im interdisziplinären Team scheint nicht die Regel zu sein. Dies zeigt sich auch darin, dass die Patienten einer Werkstatt verschiedenen Physiotherapiekonzepten zugeführt werden. Die häufige gleichzeitige Nennung von Full‑, Part- und Night-Time-Bracing zeigt, dass die tägliche Tragezeit der Korsette hauptsächlich individuell bestimmt wird. Allerdings wird von sechs Betrieben die Tragezeit grundsätzlich auf maximal 16 Stunden begrenzt.
Obwohl sich in dieser Gruppe die Chêneau-Korsett-Technik als vorherrschend herausstellte, werden die damit verbundenen Konstruktionsmerkmale wie Schulterhochstand, große Freiräume und Asymmetrie als die Compliance einschränkende Faktoren genannt. Es wird aber in dieser Umfrage nicht klar, ob die Korsettbauer den Beschwerden nachgeben und diese Faktoren eliminieren oder die Kunden von deren Notwendigkeit überzeugen. Man kann sich auch fragen, ob einige der Korsettbauer, die über keinerlei Probleme klagen, einen Kompromiss zwischen Korrektur und Unauffälligkeit des Korsetts eingehen, um diese von vornherein zu vermeiden. In der Literatur werden aber gerade diese Merkmale als notwendig beschrieben, um sowohl die Krümmungen als auch die kosmetische Erscheinung des Rumpfes zu verbessern, und es hat sich gezeigt, dass die Primärkorrektur ein wichtiger Prädiktor für ein gutes Endergebnis und die Compliance ist 14.
Fazit
Oberflächlich betrachtet scheinen sowohl die Zielsetzung der Korsettbehandlung als auch das Design der verwendeten Orthesen der Orthopädie-Techniker in Deutschland ähnlich zu sein. Bei näherer Betrachtung bzw. Nachfrage zeigen sich allerdings deutliche Unterschiede bei der Interpretation der Krümmungsmuster und der Anordnung der notwendigen korrigierenden Kräfte im Korsett. Namensgleichheit bei Korsetten bedeutet nicht zwangsläufig übereinstimmendes Design oder gar gleichwertige Qualität und Wirksamkeit.
Einschränkungen
Mit dieser Umfrage wurde nur eine kleine, nicht zufällig ausgewählte Stichprobe erreicht. Der verwendete informelle Fragebogen wurde nicht auf Validität und Reproduzierbarkeit geprüft, sodass seine Aussagekraft begrenzt ist. Weitere Untersuchungen mit validen Fragebögen sind notwendig, um ein reelles Bild von der Versorgungstechnik in Deutschland gewinnen zu können.
Die Autorin:
Silke Auler
Bundesfachschule für Orthopädie-Technik
Schliepstraße 6–8
44135 Dortmund
S.Auler@ot-bufa.de
Begutachteter Beitrag/reviewed paper
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