Vor ein paar Wochen hätten viele nicht geglaubt, noch in diesem Jahr wieder eine Messe bzw. einen Kongress zu besuchen – schon gar kein internationales Event. Nun findet auf der Leipziger Messe im September mit der Cadeaux Leipzig erstmals wieder eine Fachmesse unter den besonderen Umständen der „neuen Normalität“ statt. Sachsen konnte als erstes Bundesland ein Hygienekonzept für Messen vorlegen – und die Leipziger Messegesellschaft hat ab Tag eins an hybriden Messekonzepten gearbeitet, um auch unter Corona-Bedingungen Messen und Kongresse anbieten zu können.
OT: Herr Staatsminister, warum ist der Freistaat Sachsen hier vorangegangen und lässt Messen bzw. Kongresse trotz Corona-Krise zu?
Martin Dulig: Die Messe- und Eventwirtschaft hat durch die Covid-19-Pandemie ganz besonders zu leiden. Während andere Unternehmen ihre Arbeit seit Ende Mai weitestgehend wieder aufnehmen konnten, sind unsere Messegesellschaften und die Firmen, die diesem Bereich zuzuordnen sind, bis jetzt noch immer schwer betroffen. Einerseits, weil keine Messen stattfinden, andererseits, weil lange Planungsunsicherheit bestand, wann es überhaupt weitergeht. Diese Planungsunsicherheit ist heikel, weil es für Messen eine lange Vorlaufzeit braucht. Deshalb haben wir frühzeitig entschieden, dass es ab dem 1. September 2020 wieder Messen und Kongressveranstaltungen geben soll. Dies jeweils mit konkreten und von den örtlich zuständigen Gesundheitsämtern genehmigten Hygiene- und Sicherheitskonzepten und unter der Voraussetzung, dass die Covid-19-Fallzahlen in Sachsen für Aussteller und Besucher sichere Messen erlauben. Zu den Sicherheitsmaßnahmen zählen beispielsweise Markierungen als Maßnahmen zur Unterstützung der Abstandswahrung, Handdesinfektionsspender in den Ein- und Ausgangsbereichen und Sanitärräumen, qualifiziertes medizinisches Personal in den Sanitätsstationen, Ticketverkauf ausschließlich nach vorheriger Onlinebestellung oder digitale Registrierung aller Teilnehmerdaten für die lückenlose Rückverfolgbarkeit. Auch für die Aussteller gibt es konkrete Empfehlungen für ihre Standgestaltung.
OT: Die OTWorld gehört zu den weltweit bekannten Veranstaltungen, die seit langem mit Leipzig verbunden sind. In diesem Jahr wird sie in einer besonderen Version an den Start gehen. Einer der beiden Kongresspräsidenten des Weltkongresses der OTWorld.connect ist Prof. Dr. Christoph Josten, medizinischer Vorstand des Universitätsklinikums Leipzig, und damit Vertreter der Gesundheitsbranche hier in Sachsen. Wie wichtig ist diese Branche, welchen wirtschaftlichen Impact liefert sie?
Dulig: Die Gesundheitsbranche ist für Sachsen sehr wichtig. Sie umfasst 13 Mrd. Euro an Bruttowertschöpfung. Dies entspricht knapp 12 Prozent der gesamtwirtschaftlichen Leistung im Freistaat. Wir verzeichnen hohe Wachstumsraten in der sächsischen Gesundheitswirtschaft sowohl im Export wie auch im Import von über 10 bzw. über 11 Prozent. Und mit 332.000 Beschäftigten, das sind immerhin 16 Prozent Gesamtbeschäftigtenanteil, ist die Gesundheitswirtschaft ein wichtiger Jobmotor. Sachsen gehört zu den dynamischsten Life Science-Regionen Deutschlands. Die Schwerpunkte des Life-Sciences-Clusters liegen in den Bereichen Regenerative Medizin (Tissue Engineering), Diagnostik, Molekulares Bioengineering, Bioinformatik sowie Implantate und Prothesen. Überwiegend mittelständische Unternehmen entwickeln, produzieren und vermarkten die Produkte der Medizintechnik.
OT: Die OTWorld war bislang ein Riesenevent mit Ausstellern, Kongressteilnehmern und Besuchern von allen Kontinenten, eine riesige Verkaufsshow. Das wird dieses Jahr so nicht möglich sein. Andererseits wurde die OTWorld.connect erstmals als hybride Veranstaltung mit parallelem Online-Event konzipiert. Wird die OTWorld.connect 2020 im Rückblick nur als „Platzhalter“ erscheinen? Oder erhoffen Sie sich Impulse für die Veranstaltungswirtschaft, die von Sachsen ausgehen und auch in den kommenden Jahren Bestand haben werden?
Dulig: Die OTWorld ist keinesfalls nur ein Platzhalter. Nein, sie wird eine Beispielwirkung ausstrahlen, wie in Sachsen moderne Veranstaltungen organisiert und durchgeführt werden, die sich einer unsicheren Lage anpassen und agil mit einer pandemischen Situation umgehen können. Digitale Elemente bei Messen gibt es schon lange, aber erst durch die Pandemie waren und sind die Messegesellschaften gezwungen, diese für sich und ihre Kunden stärker aufzugreifen, auszubauen und anzubieten. Ich bin da optimistisch, dass die Leipziger Messe das Format der hybriden Veranstaltung zukünftig auch auf Messen anderer Branchen übertragen und anwenden kann. Das hängt natürlich auch immer von den betreffenden Branchenverbänden ab, inwieweit diese Innovationen offen gegenüberstehen. Und auch die Produkte bestimmen mit darüber, wie „digital“ man in Zukunft sein wird.
OT: Lässt sich die OTWorld als Modell auf die Veranstaltungswirtschaft insgesamt übertragen?
Dulig: Die OTWorld als Modell auf die gesamte Veranstaltungswirtschaft zu übertragen ist weder möglich noch sinnvoll. Vielmehr geht es in allen Bereichen darum, jeweils individuelle Konzepte für veränderte Rahmenbedingungen zu entwickeln und durch eine hohe Anpassungsfähigkeit die eigene Wettbewerbsfähigkeit zu sichern. Andererseits: Ausgehend von der langen Historie der Leipziger Messe, wird es Messen im traditionellen Sinne, also mit Präsenz von Ausstellern und Besuchern, auch in Zukunft geben. Kunden haben auf einer Messe die Möglichkeit, die Angebote verschiedener Anbieter zu vergleichen, sie in die Hand zu nehmen und sich ein Bild von der Marktsituation zu machen. Ausstellenden Unternehmen geht es um die Akquise oder die Auffrischung von Kundenkontakten, Steigerung des Bekanntheitsgrades sowie Informationsaustausch. Dessen ungeachtet ist die digitale Transformation der Messewirtschaft in vollem Gange. Der Kern ist und bleibt aber die reale Messe mit realen Personen und realen Produkten – und die ist bereits hochgradig effizient. Eine Weltleitmesse wird daher – genauso wie ein Weltkongress, in dem es um kollegialen Austausch und Wissenstransfer geht – immer auch Vor-Ort-Elemente erfordern. Während einer Pandemie wissen Messegesellschaften jedoch um ihre Verantwortung und werden in Fragen der Gesundheit keine Kompromisse eingehen. Die Entwicklung von hybriden Formaten, die es Veranstaltern und Kunden erlauben, zwischen den Extremen einer vollwertiger Präsenzveranstaltung und rein digitalen Events zu agieren, sind in Zeiten der Unsicherheit nötig und wegweisend.
OT: Welche Impulse könnten aus den während der Corona-Krise entwickelten Lösungen außerdem konkret ausgehen?
Dulig: Ich hoffe, dass aus den Pandemiezeiten Pläne und Handlungsrahmen entstanden sind, die es unserer Wirtschaft ermöglichen, künftig im Krisenfall schneller und besser zu reagieren und wirtschaftliches Eigentum zu sichern. Die digitalen Bestandteile einer Messe ermöglichen es insbesondere unseren kleineren Firmen, an Veranstaltungen und Messen weltweit teilzunehmen, denen dies aufgrund knapperer Budgets, engerer Zeitpläne und geringerer Personalressourcen bisher nicht möglich war. Umgekehrt stehen die digitalen Angebote einem größeren, globaleren Teilnehmerkreis zur Verfügung und tragen so zur Internationalisierung unserer KMU bei. Das soll unbedingt beibehalten und gern auch ausgeweitet werden.
OT: Wie wichtig ist das Segment Messen & Kongresse, speziell die Leipziger Messe, im Gesamtkontext der sächsischen Wirtschaft?
Dulig: Gesamtwirtschaftlich tragen Messen und Kongresse zur Schaffung von Markttransparenz bei und können regional positive Beschäftigungseffekte auslösen. Die Leipziger Messe ist unser wichtigster internationaler Messeplatz. Sie bietet ein breites Portfolio etablierter regionaler, nationaler und internationaler Fachbesucher- und Endverbrauchermessen an. Zahlreiche Kongresse, Konferenzen und Veranstaltungen finden messebegleitend oder unabhängig davon jährlich statt. Allein im Kongresszentrum auf dem neuen Messegelände finden jährlich über 80 nationale und internationale Kongresse und Veranstaltungen mit ca. 90.000 Teilnehmern statt. Die Aussteller und Besucher der Messen und die Teilnehmer der Kongresse und Veranstaltungen bleiben ja nicht nur in Leipzig, sondern fahren auch durch Sachsen. Ihre Eindrücke und Erlebnisse tragen sie in die Welt, formen so ein positives Bild von uns und kommen gern als Touristen oder sogar als Investoren wieder.
OT: Die erste Messe, die in Leipzig wieder stattfinden wird, ist die Cadeaux Leipzig im Verbund mit der Midora – werden Sie sich das neue Hygienekonzept der Messe dort direkt live anschauen?
Dulig: Ja, ich plane gemeinsam mit Sozialministerin Petra Köpping einen Messebesuch. Das Hygienekonzept für diese Messe werden wir dort prüfen und es – genau wie jeder Aussteller und Besucher – spüren und beachten müssen. Im Vordergrund unseres Rundgangs stehen jedoch die ausstellenden Unternehmen.
OT: Herr Staatsminister, wenn Sie als Vertreter des Freistaats im Aufsichtsrat der Leipziger Messe einen Blick in die Zukunft werfen: Wird das Jahr 2020 die nationale und internationale Messewelt und Messelandschaft generell und insgesamt verändern – wenn ja, in welche Richtung?
Dulig: Diese Frage ist nicht einfach zu beantworten. Gegenwärtig finden weltweit keine Messen statt. In Deutschland, also auch bei uns in Sachsen, wird das Messegeschäft ab September 2020 langsam wieder anlaufen. Global ist die Situation noch unklar. Wir hier in Sachsen werden alles daran setzen, dass unser wichtigster internationaler Messeplatz Leipzig weiter bestehen bleibt. Und natürlich habe ich als Wirtschaftsminister auch ein Interesse daran, dass auch in Dresden und Chemnitz weiter etablierte und vielleicht auch neue Messen angeboten werden.
OT: Haben Sie keine Befürchtung, dass Digitalmessen und digitale Kongresse diejenigen vor Ort kannibalisieren – und damit letztlich auch die Umwegeffekte (Hotellerie, Gastronomie etc.) verschwinden, die ein Messegelände mit Kongresszentrum mit sich bringt? Und somit das wirtschaftliche Umfeld für die Leipziger Messe, deren Gesellschafter der Freistaat Sachsen ist, schwieriger wird?
Dulig: Nein. Ich glaube nicht, dass es zukünftig keine Präsenzmessen mehr gibt und nur noch digitale Formate den Markt beherrschen werden. Dafür sind die eine Messe dominierenden Elemente des persönlichen Kontaktes, der Vertrauensbildung, der direkten Produkt-Inaugenscheinnahme, der Möglichkeiten zum Vergleichen und Ausprobieren, zum Diskutieren, zum Austauschen von Forschungserkenntnissen und Innovationsideen viel zu stark. Wir stehen mit unserem Messeplatz Leipzig schon immer im Wettbewerb der großen deutschen und auch internationalen Messegesellschaften. Alle haben mit den Auswirkungen und Folgen der Covid-19-Pandemie zu kämpfen und alle machen sich Gedanken und Pläne, wie sie zukünftig damit umgehen. Ich glaube und hoffe, dass, wenn es einen wirksamen Schutz gegen das Virus gibt, auch wieder mehr Aussteller, Kongressteilnehmer und Besucher nach Sachsen kommen werden. Somit werden auch die vom Messe- und Kongressgeschäft abhängigen Wirtschaftsbereiche, wie z. B. Hotellerie und Gastronomie, Transport oder messenahe Dienstleistungen, bestehen bleiben, wenn sie sich auf die Ansprüche ihrer Kunden gut einstellen, ihre Angebote stetig hinterfragen und kundengerecht in hoher Qualität weiterentwickeln.
Herzlichen Dank für das Interview.
Die Fragen stellte Cathrin Günzel.
(Anm. d. Red.:) Das Interview wurde am 17. August 2020 geführt. Nach dem Interview wurde entschieden, die bereits im Gespräch mit Staatsminister Dulig angedeutete Flexibilität des Konzepts zu nutzen und die OTWorld.connect 2020 aufgrund der aktuell verschärften Pandemie-Situation ausschließlich digital zu veranstalten.
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